Der Brückenbauer
Als der Arzt und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich 1969 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, waren die Bücher, mit denen er einer erinnerungsresisten Nachkriegsrepublik zur moralischen Orientierung verhalf, bereits erschienen: "Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft", "Die Unwirtlichkeit unserer Städte", "Die Unfähigkeit zu trauern". Alexander Mitscherlich verstand die Freudsche Psychoanalyse als eine Methode der Erkenntnis.
Alexander Mitscherlich: "Der Beruf, den ich ausübe, ist kein lauter. Als Psychoanalytiker höre ich zu, suche zu verstehen, bemühe mich, in der Erkenntnis der Konflikte meiner Patienten ihnen ein kleines Stück voraus zu sein, um ihnen damit zu helfen."
In seiner Rede – 1969, als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält – erklärt Alexander Mitscherlich seinen Beruf betont schlicht.
Mitscherlich: "Ich bitte aber, daraus nicht zu folgern, dass ich nicht des ungeheuren Maßes von Unfrieden und Ungerechtigkeit in der Welt gewahr oder keiner starken Gefühle fähig wäre."
Die Bitte erübrigt sich. Für die leise Kommunikation mit dem Patienten auf der Couch würde er keinen Friedenspreis bekommen. Mitscherlich ist dafür bekannt, dass er Freuds Wissenschaft nicht nur als Therapie versteht.
Mitscherlich: "Der analytische Erkenntnisprozess will eine Methode vermitteln, mit deren Hilfe es dem Individuum gelingt, mehr und mehr die Wirklichkeit unter dem Aspekt der Wahrheit zu ertragen."
Zur Wahrheit der Wirklichkeit gehört der wechselseitige Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft. Auch in dieser Hinsicht ist die Psychoanalyse aus seiner Sicht brauchbar.
Mitscherlich: "Die Psychoanalyse ist ihrem Ansatz nach zugleich Individual– und Sozialpsychologie. Sie beschreibt das Entstehen und Aufeinanderwirken psychischer Strukturen in spezifischer Interaktion mit der Umwelt."
Wie werden die Individuen von der Gesellschaft beeinflusst? Und umgekehrt: Wie können die Einzelnen die Gesellschaft gestalten, die sie prägt? Das ist gemeint. Und das interessiert ihn. Deshalb wird der Arzt und Psychoanalytiker zum kritischen Beobachter der Gesellschaft.
Die Analysen, die Mitscherlich von 1955 bis 1975 dem seelischen Strukturwandel im Kapitalismus gewidmet hat, behandeln den Rauschgiftkonsum, die Raserei auf den Autobahnen, die Tendenzen einer kollektiven "Infantilisierung", die Trennung von Sexualität und Eros, die plötzliche Ausbreitung der plastischen Chirurgie...
M. Mitscherlich: "Dieser Brückenbau, das war wirklich seine unglaubliche Begabung: Die Gesellschaft zu verstehen mit Hilfe der Psychoanalyse, aber auch solche Dinge, über die sich kein Psychoanalytiker Gedanken machte: die Architektur, die moderne Kunst, die Politik...kommunistische Union usw. usw…"
Margarete Mitscherlich, geborene Nielsen. Psychoanalytikerin in Frankfurt am Main.
M. Mitscherlich: "Ich habe mit Architekten gesprochen, die haben mir gesagt: Seine Ideen sind für uns nicht vergangenes, totes Bildungsgut, sondern lebendige Anregung."
Die Rede ist von dem Buch, das Mitscherlich selbst ein "Pamphlet" nennt. Er geht Mitte der sechziger Jahre mit Architekten und Stadtplanern hart ins Gericht: Sie sind verantwortlich für "Die Unwirtlichkeit unserer Städte"...
A. Mitscherlich: "Wenn der Städter Jahr für Jahr mehr Alkohol trinkt, nicht weil er sich am Saft der Trauben labt, sondern weil er sich besaufen muss, wenn er Jahr für Jahr blindlings mehr Kilometer herunterrast in seiner zwecklosen Freizeit, weil er es nirgends mehr aushält – dann wird mir eine gewisse, sich ganz unsentimental gebende soziologische Auffassung, die das alles als Unvermeidlichkeiten des sozialen Daseins hinzunehmen bereit ist, fragwürdig."
Er selbst ist keineswegs bereit, soziale Missstände hinzunehmen wie ein unabänderliches Schicksal. Er ist ein Aufklärer mit Zutrauen zu den Menschen:
Über welche psychischen Anlagen müsste ein Subjekt verfügen, um entschlossen und engagiert an der demokratischen Willensbildung teilnehmen zu können?
Um sich einzumischen, heißt das – mutig und selbstbewusst...
Den Schlüssel für ein Verständnis der Dispositionen, die demokratische Teilnahme möglich machen, stellt für Mitscherlich seit Beginn seiner Hinwendung zur Sozialpsychologie die Kategorie der "Toleranz" dar.
Das schreibt der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth. Tatsächlich erkundet Mitscherlich diese Haltung, die zum Kern seiner skeptischen Hoffnung wird, in den fünfziger, den sechziger, den siebziger Jahren...
A. Mitscherlich: "Wie ich mir – so ich dir. Zur Psychologie der Toleranz" ... "Toleranz – Überprüfung eines Begriffs" ..."
Wie kommt er auf den Gedanken, seine Hoffnung auf den Menschen speziell mit dessen Fähigkeit zur Toleranz zu verbinden?
A. Mitscherlich: ""Der tolerante Mensch ist in seinem Verhältnis zur Macht distanziert. Toleranz ist jedem Zwang gegenüber skeptisch."
Eine These der fünfziger Jahre. Wann auch immer Mitscherlich sich mit ihr auseinandersetzt - seine Auffassung der Toleranz hat mit Opposition zu tun. Mit Opposition gegen den Faschismus:
M. Mitscherlich: "Der Inbegriff der Nazigesellschaft war Intoleranz. Aber um inhuman zu sein, muss man eben auch intolerant sein."
"Proklamierte und praktizierte Toleranz" heißt der Vortrag, den der Süddeutsche Rundfunk 1963 aufzeichnet. Vier Jahre später erscheint er gedruckt: als ein Kapitel in dem gemeinsam mit Margarete Mitscherlich verfassten Buch "Die Unfähigkeit zu trauern"...
M. Mitscherlich: "Erinner mich nicht mehr genau daran, aber das kann ich mir durchaus vorstellen... Also ohne Zweifel waren die meisten von ihm; aber es gab keinen Aufsatz, über den wir nicht gemeinsam gesprochen hatten. Vor allem der erste, weil wir die gleichen inneren Abwehrmechanismen gegen diese Form der Inhumanität und der Intoleranz und der Niveaulosigkeit – Hitler und seine Genossen, das war ja der Abschaum der Menschheit, musste man eigentlich sagen."
Toleranz – Duldsamkeit, großzügige Geisteshaltung... aus dem Lateinischen... "tolerantia" – Ertragen, Erdulden...
Überzeugungen, Sitten und Gebräuche, die uns fremd sind, sollten wir trotzdem gelten lassen. Ist Toleranz eine Selbstverständlichkeit? Im Alltag ist sie ein Allerweltswort geworden. Ihre Anwendungsbereiche sind zahllos...
A. Mitscherlich: "Wovon hängt ihr Zustandekommen ab?"
Auch Mitscherlich springt von der Toleranz zwischen Eheleuten zur Toleranz zwischen den Völkern... zur Toleranz gegenüber Homosexuellen... lärmenden Kindern und Nachbarn.... Doch ihm geht es um etwas Grundsätzliches:
A. Mitscherlich: "Welches seelische Kräfteverhältnis ermöglicht tolerantes Benehmen? Die Entscheidung: tolerant oder intolerant wird dann zum Problem, wenn eine starke Motivation zur Intoleranz fühlbar wird, die allemal damit lockt, dass baldige aggressive Triebbefriedigung versprochen wird. Dies kann geschehen, weil Intoleranz über mächtige Stützen verfügt: nicht anzweifelbare Vorurteile, dogmatische Glaubenssicherheit, materiell und psychologisch raffiniert gesicherte Herrschaftssysteme. Sie erlauben und erleichtern ein Ausagieren der destruktiven Tendenzen."
Hinzu kommt die Angst. Sie ist der Gegenbegriff zur Toleranz. Angst verhindert, dass Vorurteile durchschaut und Glaubenssicherheiten bezweifelt werden.
A. Mitscherlich: "Da vielerlei Ängste in die Charakterstruktur von uns allen eingebaut sind, fällt uns Toleranz in keinem Falle leicht. Sie fordert Überwindung der Angst in einem Augenblick, in dem diese als Signal fühlbar wird. Denn Fremdes, wo es vor uns auftaucht, alarmiert in uns Abwehrstellung, vorsichtige Absicherung gegen mögliche Gefahr."
Eine Reaktion, die auf unsere Natur verweist...
A. Mitscherlich: "Toleranz gelingt aus Angstüberwindung in einem Augenblick, in dem das Angstsignal fühlbar geworden ist."
So ist der Mensch! Zu seiner Natur gehört der archaische Impuls der Angst vor dem Fremden... Mitscherlich, der die Toleranz aus einer "psychologischen Anthropologie" ableiten will, schält das, worauf es ihm ankommt, durch den Vergleich heraus: Das Tier lebt instinktgeleitet. Es ist in der Welt sofort zuhause...
Mitscherlich: "Der Mensch muss in der Welt erst "Marken des Bekanntseins" setzen, ehe er sich in ihr beheimaten kann."
Marken des Bekanntseins sind Sitten und Gebräuche, die Sprache, Traditionen – alles, was Sicherheit gibt und Halt verschafft.
A. Mitscherlich: "Diese für das geschichtliche Dasein wesensbestimmende Vorurteilsbildung begleitet deshalb seine Geschichte bis in die unkenntliche Vorzeit."
Erst wenn es zur unhinterfragten Gewissheit wird, sieht Mitscherlich das Vorurteil kritisch:
A. Mitscherlich: "Versuchen wir die Brauchbarkeit einer neuen These. Sie lautet: Wo unerkannt ein Vorteil waltet, gibt es keine oder keine wesentliche Toleranz."
Statt dessen herrscht Angst. Sie erlaubt keinen Zweifel. Sie bedrängt... wird weggedrängt... Aber je fester der Deckel geschlossen ist, desto heftiger brodeln "vielerlei Ängste" weiter: die Angst vor der fremden Außenwelt, die Angst vor der triebhaften Innenwelt...
Aggression und Gewalt liegen nahe; sie sind Ventile, die vom quälenden Druck der Angst entlasten. Mitscherlich sieht einen anderen Ausweg:
A. Mitscherlich: "Im toleranten Verhalten kommt eine typisch menschliche Wahlfreiheit zum Ausdruck. Es ist durchaus kein genetisch verankertes Diktat, das uns zwingen würde, den, der nicht unseren religiösen Glauben teilt blindlings als Feind, als Aggressionsobjekt erleben und verfolgen zu müssen."
Für ihn ist Toleranz ein Privileg des Menschen; ein Ausdruck von Freiheit und Selbstbefreiung durch Überwindung der Angst.
A. Mitscherlich: "Toleranz entsteht dort, wo die Angst vor der Einsicht ertragen wird, wo der Mensch den Mut hat, seiner Anlage der Weltoffenheit zu folgen über seine angestammten "Marken des Bekanntseins" hinaus in eine vorerst noch fremde Welt, die er verstehen und das heißt immer auch in sich entdecken will."
Das also bin ich. Das sind meine Wünsche, meine widersprüchlichen Bedürfnisse... Sich selbst erkennen und anerkennen... sich selbst verstehen... für sich selbst Verständnis haben...
A. Mitscherlich: "Die Toleranz, wie sie ein Mensch sich selbst gegenüber übt, spielt wohl in jedem anderen Fall von Toleranz eine maßgebliche Rolle. Wie ich mir, so ich dir. Beides zusammen gibt erst den genaueren Maßstab zur Beurteilung einer Haltung. Denn wir berücksichtigen nun nicht nur ein äußeres Reaktionsverhältnis, sondern auch den inneren, oft ihm selbst verborgenen Umgang eines Menschen mit sich selbst."
R. Forst: "Ein Aspekt davon ist, dass man auch mit dieser Haltung der Toleranz anderen gegenüber eine bestimmte Toleranz sich selbst gegenüber aufbringen muss; nämlich zu wissen, dass auch in mir selbst häufiger Konflikte anzutreffen sind zwischen Entscheidung in die eine Richtung oder in die andere. Dass ich manche Werte habe, die für x sprechen, andere, die für y sprechen. Also das, was Ambivalenztoleranz genannt werden kann, auch in sich selbst festzustellen."
Rainer Forst, Professor für Philosophie in Frankfurt am Main. Autor der großangelegten Studie "Toleranz im Konflikt".
R. Forst: "”Wenn ich das also in der Sprache von Gründen, übertrumpfenden Gründen, relativierenden Gründen usw. beschreibe, heißt es nicht, dass es nicht auch eine andere Sprache, etwa eine psychoanalytische, gäbe, wo wir denselben Vorgang nochmal anders beschreiben.""
A. Mitscherlich: "Um weiter die Begriffssprache der Psychoanalyse zu benutzen: All diese Leistungen sind an das Ich gebunden. Dem Ich fällt die Aufgabe zu, einerseits den Triebansprüchen bestmöglich zu genügen. Andererseits sich gegen ihre Forderungen zur Wehr zu setzen. Dem Über–Ich Genüge zu tun, und andererseits seine gängelnden Übergriffe abzuweisen. Toleranz als Möglichkeit reicht demnach genau so weit, wie sich kritische Fähigkeiten entfalten konnten und durften."
Die Wirklichkeit der Toleranz zeigt sich, wenn es gelingt, bewusst zu leben: möglichst angstfrei und offen; kritisch und fragend...
M. Mitscherlich: "War das ganz ohne Neid? War das ganz ohne Eifersucht zum Beispiel? Hast du da nicht wirklich Dinge, die du bei dir selber nicht ertragen kannst, auf die anderen projiziert? Man fragt sich, aus was für Gründen, aus was für Motiven man so und so redet und handelt."
R. Forst: "”Mitscherlich weist darauf hin, dass die tolerante Haltung keine Haltung der Schwäche ist, sondern eine, die Ich–Stärke voraussetzt und eine gewisse Autonomie. Die Autonomie in dem Sinne, dass man in der Lage ist, die Gründe zu sortieren, weshalb man etwas ablehnt, weshalb etwas einen ängstigt vielleicht. Und dann Gründe sieht, um so etwas auszuhalten. Also um tolerant zu sein. Und das hat was mit Selbstvertrauen zu tun. Und dieses Selbstvertrauen hat auch was mit sozialem Vertrauen zu tun: dass wir also einander vertrauen können, dass die Differenzen, die wir etwa auf einem religiösen Gebiet haben oder auf anderen Gebieten – nicht dazu führen, dass der soziale Zusammenhalt oder sagen wir eher die soziale Kooperation zusammenbricht.""
M. Mitscherlich: "Mein Mann war sehr mutig. Er hat seine Meinungen auch oft so geäußert und sehr offen, ungeschützt geäußert, dass er sehr viel feindliche Gefühle auch erweckte."
Jürgen Habermas, sein längjähriger Freund, sieht Mitscherlich zeitlebens in die Rolle der Opposition gedrängt:
Sie beginnt, als der Historiker Joachimsen 1932 stirbt und der Nachfolger sich weigert, die von seinem jüdischen Vorgänger betreute Dissertation anzunehmen. Mitscherlich bricht sein Geschichtstudium ab, kommt vorübergehend in Haft, eröffnet eine Buchhandlung, die 1935 von der SA geschlossen wird, emigriert in die Schweiz und nimmt dort sein Medizinstudium auf.
Als praktizierender Arzt gerät er später in Opposition zur eigenen Zunft.
Er übernimmt 1947 den Auftrag der Ärztekammer, als Beobachter der Standesorganisation am Nürnberger Prozess teilzunehmen.
A. Mitscherlich: "In der von mir gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Fred Mielke herausgegebenen Dokumentation "Das Diktat der Menschenverachtung" habe ich den Versuch unternommen, durch Wiedergabe der wichtigsten gerichtsnotorischen Dokumente einen Einblick in das Tatsachenmaterial des Nürnberger Ärzteprozesses zu geben."
Die beiden fanden heraus, dass von rund 90.000 Ärzten mindestens 300 an Menschenversuchen beteiligt waren. Die Ärzteschaft wehrte sich gegen die "Nestbeschmutzung"...
Jetzt gilt er als "Vaterlandsverräter" und "Tatsachenverfälscher". Noch Jahre danach bekommt er die Folgen zu spüren. Er lebt in Heidelberg und leitet eine Klinik für Psychosomatische Medizin.
M. Mitscherlich: "In Heidelberg hatte er dieses Institut, aber viele Wünsche von ihm wurden abgeschlagen. Also irgendwie wollte er von Heidelberg weg. Und da bot ihm Horkheimer eine Stelle am Institut für Soziologie an. Und da hat er auch einen Vortrag gehalten. Und wenn ich mich recht erinnere, hat Horkheimer in einem Brief, ich weiß nicht, an wen, geschrieben: "Ja, das war sehr interessant, aber für uns keine neuen Ideen, also es war nichts Neues hinzugefügt, was wir nicht auch schon gedacht hätten"; so ungefähr."
Max Horkheimer adressiert den Brief vom 16. Februar 1953 an Adorno. Der genannte Grund seiner Ablehnung ist fadenscheinig: das Frankfurter Institut für Sozialforschung tritt nach dem Krieg mit dem Anspruch auf, interdisziplinär zu arbeiten und für sozialpsychologische Probleme zuständig zu sein. Die Mitarbeit von Mitscherlich hätte diesem Programm entsprochen.
M. Mitscherlich: "Sicherlich hatte Horkheimer eine gewisse Neigung gehabt, Menschen zu verletzen – er wird auch gelegentlich Alexander verletzt haben. Alexander fehlte diese Neigung, andere zu verletzen, auch nicht. Er wird auch gelegentlich andere verletzt haben. Nicht unbedingt Horkheimer, glaub ich, aber egal: also da bestand eigentlich keine Kränkung, sondern Ambivalenz auf beiden Seiten."
Die Absage ist eindeutig; und deren wahre Begründung wohl ebenso aufschlussreich wie beschämend. Horkheimer schreibt an Adorno:
Mitscherlichs Aufnahme wird wahrscheinlich die offenen Attacken auslösen, denen wir bis jetzt entgangen sind. Die Rachsucht der Völkischen ist wahrhaft alttestamentarisch, bis ins dritte und vierte Glied.
A. Mitscherlich: "Wie steht es um die Chance, Toleranz zu mehren?
Wir müssen eingestehen: sie ist nicht groß."
Im Laufe der Jahre wächst seine Skepsis. Bereits in der Nachkriegszeit wird sie genährt. Das Buch, das heute als Klassiker gilt, lässt sich als Dokument seiner Enttäuschung lesen.
A. Mitscherlich: ""Die Unfähigkeit zur Trauer" ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst."
Kein Mut zur Einsicht also; keine Ich–Stärke, keine Kraft zur Angst: Die Mehrheit der Deutschen will, dass sich der Deckel über den Verbrechen der Nazizeit schließt.
A. Mitscherlich: "Die Utopie, die hinsichtlich der Toleranz besteht, trifft die Selbstgestaltung des Menschen in Richtung verminderter Aggressivität oder erhöhter Fähigkeit – trotz Angstreaktionen, trotz innerer Angstsignale – kritisch denkfähig zu bleiben. Ohne die Hoffnung – ist es eine utopische Hoffnung? – Ohne die Hoffnung der allmählichen Erweiterung unserer kritischen Denkfähigkeit wären wir dem Zynismus einer Menschenkunde ausgeliefert, in der die Gemeinheit eine gleichsam alternativelose Konstante humanen Verhaltens bildet."
M. Mitscherlich: "Natürlich ist immer ein Stück Utopie bei ihm geblieben. Er blieb immer irgendwo der Idealist, der er in seiner Kindheit wohl gewesen ist..."
M. Mitscherlich: "Der Unterschied zwischen ihm und mir bestand unter anderem darin, dass ich von meiner ganzen Herkunft her sehr viel realistischer war. Er war eher ein Idealist in vielem. Und da haben wir uns auch viel auseinandergesetzt, und da denk ich – würde er auch sagen: hat er viel von mir gelernt."
M. Mitscherlich: "Ich hab ihn immer wieder runtergeholt. Er erwartete sowohl von sich wie von anderen oft zu viel. Und ich war eher ein down–to–earth–Mann.”"
"Wie ich mir – so ich dir". Mitscherlich verbindet das Verständnis des Einzelnen für sich selbst mit der Fähigkeit, auch zu anderen tolerant zu sein. Bereits damit geht er über das hinaus, was wir grundsätzlich mit Toleranz verbinden.
R. Forst: "”Die Toleranz als Haltung richtig verstanden, ist die Toleranz desjenigen, der etwas ablehnt aus bestimmten Gründen heraus – aber dennoch dasjenige, was er ablehnt, also bestimmte Überzeugungen oder Praktiken anderer, aus bestimmten anderen Gründen heraus toleriert. Ohne! dass dabei die Ablehnung vollkommen überwunden wird."
Richtig verstanden ist Toleranz – auch wenn sie inflationär in aller Munde ist – keine Selbstverständlichkeit. Von den Bürgerinnen und Bürgern wird einiges verlangt.
R. Forst: "Beispiel: Jemand leidet darunter, dass eine Gesellschaft sich so verändert, dass neben christlichen Kirchen auch Moscheen, repräsentative Moscheen gebaut werden. Diese Person sieht dann aber klar: dass aus Gründen der Fairness und des Miteinanderlebens in einer pluralistischen Gesellschaft dieses Urteil, dass es einem lieber wäre, die Gesellschaft würde so bleiben, wie sie ist, nicht stark genug ist, um etwa Bauanträge zurückzuweisen oder auf die Strasse zu gehen und zu demonstrieren oder mit fadenscheinigen Argumenten, dass der Verkehr zusammenbräche, diese Projekte zum Erliegen zu bringen. Also Toleranz heißt dann tatsächlich, sich ein Stück zu erheben über dieses Negativurteil. Es bleibt bestehen. Aber man sieht stärkere Gründe – Gründe der Gerechtigkeit, der Fairness, weshalb man mit dieser Art von Differenz leben muss."
Aus der Freiheit einer Einsicht wird das selbstverordnete Sollen – ein Wollen. Und Toleranz zur Bindekraft, die sich in unserem Alltag bewährt.
Das Versprechen der Toleranz lautet, dass ein Miteinander im Konflikt möglich ist. Das ist ihr Sinn, Mitscherlich jedoch erwartet noch mehr:
A. Mitscherlich: "Toleranz ist die Fähigkeit des Ertragens. Man sollte gleich hinzusetzen: Aber nicht eines Duldens um jeden Preis, sondern eines sinnvollen Ertragens des Andersartigen. Von Toleranz kann nur die Rede sein, wo durch sie ein Konflikt vermieden wird. Die Existenz fremder Sitten, fremden Glaubens, fremder politischer Konzepte muss für mich jenseits bereitliegender Vorurteile Sinn gewinnen."
Warum eigentlich sollte es das? Weil Mitscherlich – der Idealist, auch der Psychoanalytiker ist, der die Toleranz als Befreiung versteht: Wird die Abwehr aufgegeben, können die Barrikaden fallen. Das Fremde kommt zum Vorschein. Aber es ängstigt nicht mehr, es bereichert... und interessiert...
A. Mitscherlich: "So kommen wir zur freiesten Form der Toleranz: zur Toleranz der Weltoffenheit. Ihrer Inhaltsbestimmung sollten unsere Gedanken beisteuern."
Etwas davon ist vertraut. Es erinnert an die Begeisterung, die mit dem Stichwort "Multikulturalismus" verbunden war.
M. Mitscherlich: "Warum ist der anders? Er hat eine andere Kultur, wieso ist er anders geworden? Das ist das, was er mit "Interesse" meint. Was er vielleicht auch mit Interesse meint, ist…"
Warum interessiert uns das nicht mehr?
A. Mitscherlich: "Toleranz ist nicht Interesselosigkeit des Laissez–faire, sondern kritische Selbständigkeit in Konkurrenz– und Konfliktsituationen, wozu, was immer wieder betont werden muss, noch die Fähigkeit kommt, den Gedanken und Gefühlen des anderen verstehend zu folgen."
Wenn der Eindruck nicht täuscht, sind wir nüchterner... oder müde... oder ganz einfach realistisch geworden:
R. Forst: "”Zwischen dem Verstehen des anderen und dem Wertschätzen oder dem Interesse am anderen gibt’s ja noch einen Unterschied. Natürlich muss ich das verstehen, was ich ablehne und was ich toleriere; ich muss versuchen, es zu verstehen, um zu einem positiven oder einem negativen Urteil zu kommen. Aber wenn mehr damit gemeint ist, könnte irgendwann der Punkt erreicht sein, an dem es keine Toleranz mehr ist, sondern einfach Interesse am anderen.""
R. Forst: "Das Pathos bei Mitscherlich liegt in dieser Art des Kantischen Freudianismus, dass also das Überwinden eines Negativimpulses, der mit Angst und Aggression verbunden ist, ein befreiendes Erlebnis ist; und Mitscherlich nennt es an einer Stelle eine beglückende Erfahrung."
A. Mitscherlich: "Die Überwindung, die in jedem toleranten Akt steckt, wirft als Belohnung ein Freiheitserlebnis ab; es ist eine beglückende Erfahrung, frei vom Zwang der Unduldsamkeit, der Unerträglichkeit, Feindseligkeit zu sein."
R. Forst: "”Nun, vielleicht sind das die seltenen Momente der Toleranz. Ich bin mir aber gar nicht sicher; wenn wir das übersetzen in eine etwas weniger pathetische Sprache, heißt das eigentlich nur, dass die Toleranz tatsächlich eine Leistung ist.""
A. Mitscherlich: "”Wir vergessen bei diesen Selbstverständlichkeiten leicht, dass solch zivilisiertes Verhalten eine Leistung darstellt. Dass wir, wie Freud einmal sagte, von einer langen Reihe von Mördern abstammen. Tolerant zu sein, wo meine Überzeugung, meine Ideale herausgefordert werden, ist eine Leistung geblieben.""
Mitscherlich möchte die Kräfte des Ich, der autonomen Willensbildung stärken, er möchte helfen, die Selbstverborgenheit, die uns der eigenen, subjektiven Natur entfremdet, aufzuhellen...
Das sei der "Wunsch, der ihn beseelt," schreibt Jürgen Habermass überraschend pathetisch.
Aber was wird aus dem Oppositionellen Mitscherlich, als er sich seit Mitte der sechziger Jahre Ansehen und Einfluss auch in der breiten Öffentlichkeit erwirbt?
... als Gründer des Sigmund–Freud–Instituts, als Herausgeber der Zeitschrift "Psyche", als Autor von Büchern, die Bestseller werden.
In dieser Phase einer kaum noch angreifbaren Autorität werden die Fronten nur komplizierter. Mitscherlich stellt sich dem Protest der Studenten mit dem Verständnis des sympathisierenden Lehrers, aber auch mit der Kritik des unbeirrten Liberalen. Er geht den unvermeidlichen Konflikten nicht aus dem Wege – intern ein Scheißliberaler, in der Öffentlichkeit um Verständnis für die Revolte werbend...
Und um Verständnis für die Psychoanalyse. Je komplizierter die Fronten, umso eindeutiger seine Mission.
A. Mitscherlich: "... schließlich wird ihr von der rebellischen Jugend unserer Tage der Vorwurf gemacht, sie stelle sich nicht in den Dienst politischer Ideologie, stütze womöglich noch, indem sie Kranke "liebes– und arbeitsfähig" mache, das bestehende System."
Für ihn, der zeitlebens die Brücke zwischen Psychoanalyse und Gesellschaft schlägt, ist das ein Vorurteil. Doch wohlwissend, dass die Mehrzahl seiner Kollegen genau dieses Vorurteil nährt, wird der Seitenhieb gegen sie geschickt in ein versöhnliches Wort verpackt:
A. Mitscherlich: "Zu hoffen wäre, dass die Psychoanalyse trotz Professionalisierung, trotz Unabsehbarkeit der Andauer des kollektiven Mangels an Verständnis, produktiv und subversiv in einem bliebe."
Im Sinne dieser eigensinnig–undogmatischen Auffassung wählt er den Titel seiner Autobiographie:
A. Mitscherlich: "Ein Leben für die Psychoanalyse."
Das Buch erscheint 1980; zwei Jahre, bevor Alexander Mitscherlich im Alter von 73 Jahren in Frankfurt am Main stirbt.
M. Mitscherlich: "Psychoanalyse ist nicht nur Leidensgeschichte, sondern auch Erkenntnis. Erkenntnis meiner selbst und der anderen natürlich. Aber das kann ja gleich stark sein. Und mehr verlang ich von Menschen nicht. Verlang ich auch nicht von mir. Dann kann ich mich selber akzeptieren wie ich den anderen akzeptieren kann. Ich hab gelernt, mich zu akzeptieren. Und ich hab auch gelernt, über mich zu lachen."
In seiner Rede – 1969, als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält – erklärt Alexander Mitscherlich seinen Beruf betont schlicht.
Mitscherlich: "Ich bitte aber, daraus nicht zu folgern, dass ich nicht des ungeheuren Maßes von Unfrieden und Ungerechtigkeit in der Welt gewahr oder keiner starken Gefühle fähig wäre."
Die Bitte erübrigt sich. Für die leise Kommunikation mit dem Patienten auf der Couch würde er keinen Friedenspreis bekommen. Mitscherlich ist dafür bekannt, dass er Freuds Wissenschaft nicht nur als Therapie versteht.
Mitscherlich: "Der analytische Erkenntnisprozess will eine Methode vermitteln, mit deren Hilfe es dem Individuum gelingt, mehr und mehr die Wirklichkeit unter dem Aspekt der Wahrheit zu ertragen."
Zur Wahrheit der Wirklichkeit gehört der wechselseitige Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft. Auch in dieser Hinsicht ist die Psychoanalyse aus seiner Sicht brauchbar.
Mitscherlich: "Die Psychoanalyse ist ihrem Ansatz nach zugleich Individual– und Sozialpsychologie. Sie beschreibt das Entstehen und Aufeinanderwirken psychischer Strukturen in spezifischer Interaktion mit der Umwelt."
Wie werden die Individuen von der Gesellschaft beeinflusst? Und umgekehrt: Wie können die Einzelnen die Gesellschaft gestalten, die sie prägt? Das ist gemeint. Und das interessiert ihn. Deshalb wird der Arzt und Psychoanalytiker zum kritischen Beobachter der Gesellschaft.
Die Analysen, die Mitscherlich von 1955 bis 1975 dem seelischen Strukturwandel im Kapitalismus gewidmet hat, behandeln den Rauschgiftkonsum, die Raserei auf den Autobahnen, die Tendenzen einer kollektiven "Infantilisierung", die Trennung von Sexualität und Eros, die plötzliche Ausbreitung der plastischen Chirurgie...
M. Mitscherlich: "Dieser Brückenbau, das war wirklich seine unglaubliche Begabung: Die Gesellschaft zu verstehen mit Hilfe der Psychoanalyse, aber auch solche Dinge, über die sich kein Psychoanalytiker Gedanken machte: die Architektur, die moderne Kunst, die Politik...kommunistische Union usw. usw…"
Margarete Mitscherlich, geborene Nielsen. Psychoanalytikerin in Frankfurt am Main.
M. Mitscherlich: "Ich habe mit Architekten gesprochen, die haben mir gesagt: Seine Ideen sind für uns nicht vergangenes, totes Bildungsgut, sondern lebendige Anregung."
Die Rede ist von dem Buch, das Mitscherlich selbst ein "Pamphlet" nennt. Er geht Mitte der sechziger Jahre mit Architekten und Stadtplanern hart ins Gericht: Sie sind verantwortlich für "Die Unwirtlichkeit unserer Städte"...
A. Mitscherlich: "Wenn der Städter Jahr für Jahr mehr Alkohol trinkt, nicht weil er sich am Saft der Trauben labt, sondern weil er sich besaufen muss, wenn er Jahr für Jahr blindlings mehr Kilometer herunterrast in seiner zwecklosen Freizeit, weil er es nirgends mehr aushält – dann wird mir eine gewisse, sich ganz unsentimental gebende soziologische Auffassung, die das alles als Unvermeidlichkeiten des sozialen Daseins hinzunehmen bereit ist, fragwürdig."
Er selbst ist keineswegs bereit, soziale Missstände hinzunehmen wie ein unabänderliches Schicksal. Er ist ein Aufklärer mit Zutrauen zu den Menschen:
Über welche psychischen Anlagen müsste ein Subjekt verfügen, um entschlossen und engagiert an der demokratischen Willensbildung teilnehmen zu können?
Um sich einzumischen, heißt das – mutig und selbstbewusst...
Den Schlüssel für ein Verständnis der Dispositionen, die demokratische Teilnahme möglich machen, stellt für Mitscherlich seit Beginn seiner Hinwendung zur Sozialpsychologie die Kategorie der "Toleranz" dar.
Das schreibt der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth. Tatsächlich erkundet Mitscherlich diese Haltung, die zum Kern seiner skeptischen Hoffnung wird, in den fünfziger, den sechziger, den siebziger Jahren...
A. Mitscherlich: "Wie ich mir – so ich dir. Zur Psychologie der Toleranz" ... "Toleranz – Überprüfung eines Begriffs" ..."
Wie kommt er auf den Gedanken, seine Hoffnung auf den Menschen speziell mit dessen Fähigkeit zur Toleranz zu verbinden?
A. Mitscherlich: ""Der tolerante Mensch ist in seinem Verhältnis zur Macht distanziert. Toleranz ist jedem Zwang gegenüber skeptisch."
Eine These der fünfziger Jahre. Wann auch immer Mitscherlich sich mit ihr auseinandersetzt - seine Auffassung der Toleranz hat mit Opposition zu tun. Mit Opposition gegen den Faschismus:
M. Mitscherlich: "Der Inbegriff der Nazigesellschaft war Intoleranz. Aber um inhuman zu sein, muss man eben auch intolerant sein."
"Proklamierte und praktizierte Toleranz" heißt der Vortrag, den der Süddeutsche Rundfunk 1963 aufzeichnet. Vier Jahre später erscheint er gedruckt: als ein Kapitel in dem gemeinsam mit Margarete Mitscherlich verfassten Buch "Die Unfähigkeit zu trauern"...
M. Mitscherlich: "Erinner mich nicht mehr genau daran, aber das kann ich mir durchaus vorstellen... Also ohne Zweifel waren die meisten von ihm; aber es gab keinen Aufsatz, über den wir nicht gemeinsam gesprochen hatten. Vor allem der erste, weil wir die gleichen inneren Abwehrmechanismen gegen diese Form der Inhumanität und der Intoleranz und der Niveaulosigkeit – Hitler und seine Genossen, das war ja der Abschaum der Menschheit, musste man eigentlich sagen."
Toleranz – Duldsamkeit, großzügige Geisteshaltung... aus dem Lateinischen... "tolerantia" – Ertragen, Erdulden...
Überzeugungen, Sitten und Gebräuche, die uns fremd sind, sollten wir trotzdem gelten lassen. Ist Toleranz eine Selbstverständlichkeit? Im Alltag ist sie ein Allerweltswort geworden. Ihre Anwendungsbereiche sind zahllos...
A. Mitscherlich: "Wovon hängt ihr Zustandekommen ab?"
Auch Mitscherlich springt von der Toleranz zwischen Eheleuten zur Toleranz zwischen den Völkern... zur Toleranz gegenüber Homosexuellen... lärmenden Kindern und Nachbarn.... Doch ihm geht es um etwas Grundsätzliches:
A. Mitscherlich: "Welches seelische Kräfteverhältnis ermöglicht tolerantes Benehmen? Die Entscheidung: tolerant oder intolerant wird dann zum Problem, wenn eine starke Motivation zur Intoleranz fühlbar wird, die allemal damit lockt, dass baldige aggressive Triebbefriedigung versprochen wird. Dies kann geschehen, weil Intoleranz über mächtige Stützen verfügt: nicht anzweifelbare Vorurteile, dogmatische Glaubenssicherheit, materiell und psychologisch raffiniert gesicherte Herrschaftssysteme. Sie erlauben und erleichtern ein Ausagieren der destruktiven Tendenzen."
Hinzu kommt die Angst. Sie ist der Gegenbegriff zur Toleranz. Angst verhindert, dass Vorurteile durchschaut und Glaubenssicherheiten bezweifelt werden.
A. Mitscherlich: "Da vielerlei Ängste in die Charakterstruktur von uns allen eingebaut sind, fällt uns Toleranz in keinem Falle leicht. Sie fordert Überwindung der Angst in einem Augenblick, in dem diese als Signal fühlbar wird. Denn Fremdes, wo es vor uns auftaucht, alarmiert in uns Abwehrstellung, vorsichtige Absicherung gegen mögliche Gefahr."
Eine Reaktion, die auf unsere Natur verweist...
A. Mitscherlich: "Toleranz gelingt aus Angstüberwindung in einem Augenblick, in dem das Angstsignal fühlbar geworden ist."
So ist der Mensch! Zu seiner Natur gehört der archaische Impuls der Angst vor dem Fremden... Mitscherlich, der die Toleranz aus einer "psychologischen Anthropologie" ableiten will, schält das, worauf es ihm ankommt, durch den Vergleich heraus: Das Tier lebt instinktgeleitet. Es ist in der Welt sofort zuhause...
Mitscherlich: "Der Mensch muss in der Welt erst "Marken des Bekanntseins" setzen, ehe er sich in ihr beheimaten kann."
Marken des Bekanntseins sind Sitten und Gebräuche, die Sprache, Traditionen – alles, was Sicherheit gibt und Halt verschafft.
A. Mitscherlich: "Diese für das geschichtliche Dasein wesensbestimmende Vorurteilsbildung begleitet deshalb seine Geschichte bis in die unkenntliche Vorzeit."
Erst wenn es zur unhinterfragten Gewissheit wird, sieht Mitscherlich das Vorurteil kritisch:
A. Mitscherlich: "Versuchen wir die Brauchbarkeit einer neuen These. Sie lautet: Wo unerkannt ein Vorteil waltet, gibt es keine oder keine wesentliche Toleranz."
Statt dessen herrscht Angst. Sie erlaubt keinen Zweifel. Sie bedrängt... wird weggedrängt... Aber je fester der Deckel geschlossen ist, desto heftiger brodeln "vielerlei Ängste" weiter: die Angst vor der fremden Außenwelt, die Angst vor der triebhaften Innenwelt...
Aggression und Gewalt liegen nahe; sie sind Ventile, die vom quälenden Druck der Angst entlasten. Mitscherlich sieht einen anderen Ausweg:
A. Mitscherlich: "Im toleranten Verhalten kommt eine typisch menschliche Wahlfreiheit zum Ausdruck. Es ist durchaus kein genetisch verankertes Diktat, das uns zwingen würde, den, der nicht unseren religiösen Glauben teilt blindlings als Feind, als Aggressionsobjekt erleben und verfolgen zu müssen."
Für ihn ist Toleranz ein Privileg des Menschen; ein Ausdruck von Freiheit und Selbstbefreiung durch Überwindung der Angst.
A. Mitscherlich: "Toleranz entsteht dort, wo die Angst vor der Einsicht ertragen wird, wo der Mensch den Mut hat, seiner Anlage der Weltoffenheit zu folgen über seine angestammten "Marken des Bekanntseins" hinaus in eine vorerst noch fremde Welt, die er verstehen und das heißt immer auch in sich entdecken will."
Das also bin ich. Das sind meine Wünsche, meine widersprüchlichen Bedürfnisse... Sich selbst erkennen und anerkennen... sich selbst verstehen... für sich selbst Verständnis haben...
A. Mitscherlich: "Die Toleranz, wie sie ein Mensch sich selbst gegenüber übt, spielt wohl in jedem anderen Fall von Toleranz eine maßgebliche Rolle. Wie ich mir, so ich dir. Beides zusammen gibt erst den genaueren Maßstab zur Beurteilung einer Haltung. Denn wir berücksichtigen nun nicht nur ein äußeres Reaktionsverhältnis, sondern auch den inneren, oft ihm selbst verborgenen Umgang eines Menschen mit sich selbst."
R. Forst: "Ein Aspekt davon ist, dass man auch mit dieser Haltung der Toleranz anderen gegenüber eine bestimmte Toleranz sich selbst gegenüber aufbringen muss; nämlich zu wissen, dass auch in mir selbst häufiger Konflikte anzutreffen sind zwischen Entscheidung in die eine Richtung oder in die andere. Dass ich manche Werte habe, die für x sprechen, andere, die für y sprechen. Also das, was Ambivalenztoleranz genannt werden kann, auch in sich selbst festzustellen."
Rainer Forst, Professor für Philosophie in Frankfurt am Main. Autor der großangelegten Studie "Toleranz im Konflikt".
R. Forst: "”Wenn ich das also in der Sprache von Gründen, übertrumpfenden Gründen, relativierenden Gründen usw. beschreibe, heißt es nicht, dass es nicht auch eine andere Sprache, etwa eine psychoanalytische, gäbe, wo wir denselben Vorgang nochmal anders beschreiben.""
A. Mitscherlich: "Um weiter die Begriffssprache der Psychoanalyse zu benutzen: All diese Leistungen sind an das Ich gebunden. Dem Ich fällt die Aufgabe zu, einerseits den Triebansprüchen bestmöglich zu genügen. Andererseits sich gegen ihre Forderungen zur Wehr zu setzen. Dem Über–Ich Genüge zu tun, und andererseits seine gängelnden Übergriffe abzuweisen. Toleranz als Möglichkeit reicht demnach genau so weit, wie sich kritische Fähigkeiten entfalten konnten und durften."
Die Wirklichkeit der Toleranz zeigt sich, wenn es gelingt, bewusst zu leben: möglichst angstfrei und offen; kritisch und fragend...
M. Mitscherlich: "War das ganz ohne Neid? War das ganz ohne Eifersucht zum Beispiel? Hast du da nicht wirklich Dinge, die du bei dir selber nicht ertragen kannst, auf die anderen projiziert? Man fragt sich, aus was für Gründen, aus was für Motiven man so und so redet und handelt."
R. Forst: "”Mitscherlich weist darauf hin, dass die tolerante Haltung keine Haltung der Schwäche ist, sondern eine, die Ich–Stärke voraussetzt und eine gewisse Autonomie. Die Autonomie in dem Sinne, dass man in der Lage ist, die Gründe zu sortieren, weshalb man etwas ablehnt, weshalb etwas einen ängstigt vielleicht. Und dann Gründe sieht, um so etwas auszuhalten. Also um tolerant zu sein. Und das hat was mit Selbstvertrauen zu tun. Und dieses Selbstvertrauen hat auch was mit sozialem Vertrauen zu tun: dass wir also einander vertrauen können, dass die Differenzen, die wir etwa auf einem religiösen Gebiet haben oder auf anderen Gebieten – nicht dazu führen, dass der soziale Zusammenhalt oder sagen wir eher die soziale Kooperation zusammenbricht.""
M. Mitscherlich: "Mein Mann war sehr mutig. Er hat seine Meinungen auch oft so geäußert und sehr offen, ungeschützt geäußert, dass er sehr viel feindliche Gefühle auch erweckte."
Jürgen Habermas, sein längjähriger Freund, sieht Mitscherlich zeitlebens in die Rolle der Opposition gedrängt:
Sie beginnt, als der Historiker Joachimsen 1932 stirbt und der Nachfolger sich weigert, die von seinem jüdischen Vorgänger betreute Dissertation anzunehmen. Mitscherlich bricht sein Geschichtstudium ab, kommt vorübergehend in Haft, eröffnet eine Buchhandlung, die 1935 von der SA geschlossen wird, emigriert in die Schweiz und nimmt dort sein Medizinstudium auf.
Als praktizierender Arzt gerät er später in Opposition zur eigenen Zunft.
Er übernimmt 1947 den Auftrag der Ärztekammer, als Beobachter der Standesorganisation am Nürnberger Prozess teilzunehmen.
A. Mitscherlich: "In der von mir gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Fred Mielke herausgegebenen Dokumentation "Das Diktat der Menschenverachtung" habe ich den Versuch unternommen, durch Wiedergabe der wichtigsten gerichtsnotorischen Dokumente einen Einblick in das Tatsachenmaterial des Nürnberger Ärzteprozesses zu geben."
Die beiden fanden heraus, dass von rund 90.000 Ärzten mindestens 300 an Menschenversuchen beteiligt waren. Die Ärzteschaft wehrte sich gegen die "Nestbeschmutzung"...
Jetzt gilt er als "Vaterlandsverräter" und "Tatsachenverfälscher". Noch Jahre danach bekommt er die Folgen zu spüren. Er lebt in Heidelberg und leitet eine Klinik für Psychosomatische Medizin.
M. Mitscherlich: "In Heidelberg hatte er dieses Institut, aber viele Wünsche von ihm wurden abgeschlagen. Also irgendwie wollte er von Heidelberg weg. Und da bot ihm Horkheimer eine Stelle am Institut für Soziologie an. Und da hat er auch einen Vortrag gehalten. Und wenn ich mich recht erinnere, hat Horkheimer in einem Brief, ich weiß nicht, an wen, geschrieben: "Ja, das war sehr interessant, aber für uns keine neuen Ideen, also es war nichts Neues hinzugefügt, was wir nicht auch schon gedacht hätten"; so ungefähr."
Max Horkheimer adressiert den Brief vom 16. Februar 1953 an Adorno. Der genannte Grund seiner Ablehnung ist fadenscheinig: das Frankfurter Institut für Sozialforschung tritt nach dem Krieg mit dem Anspruch auf, interdisziplinär zu arbeiten und für sozialpsychologische Probleme zuständig zu sein. Die Mitarbeit von Mitscherlich hätte diesem Programm entsprochen.
M. Mitscherlich: "Sicherlich hatte Horkheimer eine gewisse Neigung gehabt, Menschen zu verletzen – er wird auch gelegentlich Alexander verletzt haben. Alexander fehlte diese Neigung, andere zu verletzen, auch nicht. Er wird auch gelegentlich andere verletzt haben. Nicht unbedingt Horkheimer, glaub ich, aber egal: also da bestand eigentlich keine Kränkung, sondern Ambivalenz auf beiden Seiten."
Die Absage ist eindeutig; und deren wahre Begründung wohl ebenso aufschlussreich wie beschämend. Horkheimer schreibt an Adorno:
Mitscherlichs Aufnahme wird wahrscheinlich die offenen Attacken auslösen, denen wir bis jetzt entgangen sind. Die Rachsucht der Völkischen ist wahrhaft alttestamentarisch, bis ins dritte und vierte Glied.
A. Mitscherlich: "Wie steht es um die Chance, Toleranz zu mehren?
Wir müssen eingestehen: sie ist nicht groß."
Im Laufe der Jahre wächst seine Skepsis. Bereits in der Nachkriegszeit wird sie genährt. Das Buch, das heute als Klassiker gilt, lässt sich als Dokument seiner Enttäuschung lesen.
A. Mitscherlich: ""Die Unfähigkeit zur Trauer" ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst."
Kein Mut zur Einsicht also; keine Ich–Stärke, keine Kraft zur Angst: Die Mehrheit der Deutschen will, dass sich der Deckel über den Verbrechen der Nazizeit schließt.
A. Mitscherlich: "Die Utopie, die hinsichtlich der Toleranz besteht, trifft die Selbstgestaltung des Menschen in Richtung verminderter Aggressivität oder erhöhter Fähigkeit – trotz Angstreaktionen, trotz innerer Angstsignale – kritisch denkfähig zu bleiben. Ohne die Hoffnung – ist es eine utopische Hoffnung? – Ohne die Hoffnung der allmählichen Erweiterung unserer kritischen Denkfähigkeit wären wir dem Zynismus einer Menschenkunde ausgeliefert, in der die Gemeinheit eine gleichsam alternativelose Konstante humanen Verhaltens bildet."
M. Mitscherlich: "Natürlich ist immer ein Stück Utopie bei ihm geblieben. Er blieb immer irgendwo der Idealist, der er in seiner Kindheit wohl gewesen ist..."
M. Mitscherlich: "Der Unterschied zwischen ihm und mir bestand unter anderem darin, dass ich von meiner ganzen Herkunft her sehr viel realistischer war. Er war eher ein Idealist in vielem. Und da haben wir uns auch viel auseinandergesetzt, und da denk ich – würde er auch sagen: hat er viel von mir gelernt."
M. Mitscherlich: "Ich hab ihn immer wieder runtergeholt. Er erwartete sowohl von sich wie von anderen oft zu viel. Und ich war eher ein down–to–earth–Mann.”"
"Wie ich mir – so ich dir". Mitscherlich verbindet das Verständnis des Einzelnen für sich selbst mit der Fähigkeit, auch zu anderen tolerant zu sein. Bereits damit geht er über das hinaus, was wir grundsätzlich mit Toleranz verbinden.
R. Forst: "”Die Toleranz als Haltung richtig verstanden, ist die Toleranz desjenigen, der etwas ablehnt aus bestimmten Gründen heraus – aber dennoch dasjenige, was er ablehnt, also bestimmte Überzeugungen oder Praktiken anderer, aus bestimmten anderen Gründen heraus toleriert. Ohne! dass dabei die Ablehnung vollkommen überwunden wird."
Richtig verstanden ist Toleranz – auch wenn sie inflationär in aller Munde ist – keine Selbstverständlichkeit. Von den Bürgerinnen und Bürgern wird einiges verlangt.
R. Forst: "Beispiel: Jemand leidet darunter, dass eine Gesellschaft sich so verändert, dass neben christlichen Kirchen auch Moscheen, repräsentative Moscheen gebaut werden. Diese Person sieht dann aber klar: dass aus Gründen der Fairness und des Miteinanderlebens in einer pluralistischen Gesellschaft dieses Urteil, dass es einem lieber wäre, die Gesellschaft würde so bleiben, wie sie ist, nicht stark genug ist, um etwa Bauanträge zurückzuweisen oder auf die Strasse zu gehen und zu demonstrieren oder mit fadenscheinigen Argumenten, dass der Verkehr zusammenbräche, diese Projekte zum Erliegen zu bringen. Also Toleranz heißt dann tatsächlich, sich ein Stück zu erheben über dieses Negativurteil. Es bleibt bestehen. Aber man sieht stärkere Gründe – Gründe der Gerechtigkeit, der Fairness, weshalb man mit dieser Art von Differenz leben muss."
Aus der Freiheit einer Einsicht wird das selbstverordnete Sollen – ein Wollen. Und Toleranz zur Bindekraft, die sich in unserem Alltag bewährt.
Das Versprechen der Toleranz lautet, dass ein Miteinander im Konflikt möglich ist. Das ist ihr Sinn, Mitscherlich jedoch erwartet noch mehr:
A. Mitscherlich: "Toleranz ist die Fähigkeit des Ertragens. Man sollte gleich hinzusetzen: Aber nicht eines Duldens um jeden Preis, sondern eines sinnvollen Ertragens des Andersartigen. Von Toleranz kann nur die Rede sein, wo durch sie ein Konflikt vermieden wird. Die Existenz fremder Sitten, fremden Glaubens, fremder politischer Konzepte muss für mich jenseits bereitliegender Vorurteile Sinn gewinnen."
Warum eigentlich sollte es das? Weil Mitscherlich – der Idealist, auch der Psychoanalytiker ist, der die Toleranz als Befreiung versteht: Wird die Abwehr aufgegeben, können die Barrikaden fallen. Das Fremde kommt zum Vorschein. Aber es ängstigt nicht mehr, es bereichert... und interessiert...
A. Mitscherlich: "So kommen wir zur freiesten Form der Toleranz: zur Toleranz der Weltoffenheit. Ihrer Inhaltsbestimmung sollten unsere Gedanken beisteuern."
Etwas davon ist vertraut. Es erinnert an die Begeisterung, die mit dem Stichwort "Multikulturalismus" verbunden war.
M. Mitscherlich: "Warum ist der anders? Er hat eine andere Kultur, wieso ist er anders geworden? Das ist das, was er mit "Interesse" meint. Was er vielleicht auch mit Interesse meint, ist…"
Warum interessiert uns das nicht mehr?
A. Mitscherlich: "Toleranz ist nicht Interesselosigkeit des Laissez–faire, sondern kritische Selbständigkeit in Konkurrenz– und Konfliktsituationen, wozu, was immer wieder betont werden muss, noch die Fähigkeit kommt, den Gedanken und Gefühlen des anderen verstehend zu folgen."
Wenn der Eindruck nicht täuscht, sind wir nüchterner... oder müde... oder ganz einfach realistisch geworden:
R. Forst: "”Zwischen dem Verstehen des anderen und dem Wertschätzen oder dem Interesse am anderen gibt’s ja noch einen Unterschied. Natürlich muss ich das verstehen, was ich ablehne und was ich toleriere; ich muss versuchen, es zu verstehen, um zu einem positiven oder einem negativen Urteil zu kommen. Aber wenn mehr damit gemeint ist, könnte irgendwann der Punkt erreicht sein, an dem es keine Toleranz mehr ist, sondern einfach Interesse am anderen.""
R. Forst: "Das Pathos bei Mitscherlich liegt in dieser Art des Kantischen Freudianismus, dass also das Überwinden eines Negativimpulses, der mit Angst und Aggression verbunden ist, ein befreiendes Erlebnis ist; und Mitscherlich nennt es an einer Stelle eine beglückende Erfahrung."
A. Mitscherlich: "Die Überwindung, die in jedem toleranten Akt steckt, wirft als Belohnung ein Freiheitserlebnis ab; es ist eine beglückende Erfahrung, frei vom Zwang der Unduldsamkeit, der Unerträglichkeit, Feindseligkeit zu sein."
R. Forst: "”Nun, vielleicht sind das die seltenen Momente der Toleranz. Ich bin mir aber gar nicht sicher; wenn wir das übersetzen in eine etwas weniger pathetische Sprache, heißt das eigentlich nur, dass die Toleranz tatsächlich eine Leistung ist.""
A. Mitscherlich: "”Wir vergessen bei diesen Selbstverständlichkeiten leicht, dass solch zivilisiertes Verhalten eine Leistung darstellt. Dass wir, wie Freud einmal sagte, von einer langen Reihe von Mördern abstammen. Tolerant zu sein, wo meine Überzeugung, meine Ideale herausgefordert werden, ist eine Leistung geblieben.""
Mitscherlich möchte die Kräfte des Ich, der autonomen Willensbildung stärken, er möchte helfen, die Selbstverborgenheit, die uns der eigenen, subjektiven Natur entfremdet, aufzuhellen...
Das sei der "Wunsch, der ihn beseelt," schreibt Jürgen Habermass überraschend pathetisch.
Aber was wird aus dem Oppositionellen Mitscherlich, als er sich seit Mitte der sechziger Jahre Ansehen und Einfluss auch in der breiten Öffentlichkeit erwirbt?
... als Gründer des Sigmund–Freud–Instituts, als Herausgeber der Zeitschrift "Psyche", als Autor von Büchern, die Bestseller werden.
In dieser Phase einer kaum noch angreifbaren Autorität werden die Fronten nur komplizierter. Mitscherlich stellt sich dem Protest der Studenten mit dem Verständnis des sympathisierenden Lehrers, aber auch mit der Kritik des unbeirrten Liberalen. Er geht den unvermeidlichen Konflikten nicht aus dem Wege – intern ein Scheißliberaler, in der Öffentlichkeit um Verständnis für die Revolte werbend...
Und um Verständnis für die Psychoanalyse. Je komplizierter die Fronten, umso eindeutiger seine Mission.
A. Mitscherlich: "... schließlich wird ihr von der rebellischen Jugend unserer Tage der Vorwurf gemacht, sie stelle sich nicht in den Dienst politischer Ideologie, stütze womöglich noch, indem sie Kranke "liebes– und arbeitsfähig" mache, das bestehende System."
Für ihn, der zeitlebens die Brücke zwischen Psychoanalyse und Gesellschaft schlägt, ist das ein Vorurteil. Doch wohlwissend, dass die Mehrzahl seiner Kollegen genau dieses Vorurteil nährt, wird der Seitenhieb gegen sie geschickt in ein versöhnliches Wort verpackt:
A. Mitscherlich: "Zu hoffen wäre, dass die Psychoanalyse trotz Professionalisierung, trotz Unabsehbarkeit der Andauer des kollektiven Mangels an Verständnis, produktiv und subversiv in einem bliebe."
Im Sinne dieser eigensinnig–undogmatischen Auffassung wählt er den Titel seiner Autobiographie:
A. Mitscherlich: "Ein Leben für die Psychoanalyse."
Das Buch erscheint 1980; zwei Jahre, bevor Alexander Mitscherlich im Alter von 73 Jahren in Frankfurt am Main stirbt.
M. Mitscherlich: "Psychoanalyse ist nicht nur Leidensgeschichte, sondern auch Erkenntnis. Erkenntnis meiner selbst und der anderen natürlich. Aber das kann ja gleich stark sein. Und mehr verlang ich von Menschen nicht. Verlang ich auch nicht von mir. Dann kann ich mich selber akzeptieren wie ich den anderen akzeptieren kann. Ich hab gelernt, mich zu akzeptieren. Und ich hab auch gelernt, über mich zu lachen."