Gustav Seibt: Mit einer Art von Wut. Goethe in der Revolution
CH Beck Verlag, München 2014
248 Seiten, 19,99 Euro
War Goethe ein Reaktionär?
Für ihn war es das "schrecklichste aller Ereignisse": Goethe haderte zutiefst mit der Französischen Revolution. Doch zugleich kam er von dem Thema nie los, wie Gustav Seibt in einem lesenswerten neuen Buch zeigt.
Eigentlich, so könnte man annehmen, ist über Goethe alles gesagt. Und über die Französische Revolution auch. Zumindest seit Rüdiger Safranski im letzten Jahr seine Goethe-Biografie und Johannes Willms in diesem Jahr seine Geschichte der Französischen Revolution veröffentlicht hat. Dass es aber gute Gründe gibt, Goethes Verhältnis zur Französischen Revolution, jenem – wie der dichtende Staatsmann aus Weimar sagte – "schrecklichsten aller Ereignisse", in einem schmalen Band eigens zu untersuchen, das hat Gustav Seibt hier bewiesen.
Nicht, weil er etwa alle Zeugnisse von Goethe über die Revolution zusammenträgt und kommentiert, das gewiss auch. Sondern weil es Seibt gelingt, die "Mikrophysik" einer dichterischen Obsession freizulegen, indem er all jene Abstoßreaktionen und Anziehungskräfte in den Blick nimmt, die die Französische Revolution auf Goethe ausgeübte. Goethe selbst nämlich sprach von der "Anhänglichkeit an diesen unübersehlichen Gegenstand", der sein "poetisches Vermögen fast unnützerweise aufgezehrt" habe.
Als die Franzosen in Mainz die Republik ausriefen
Im Zentrum von Seibts Interesse steht Goethes später Text "Die Belagerung von Mainz" aus dem Jahr 1822, entstanden bald 30 Jahre nach den eigentlichen Ereignissen von 1792/93, als französische Truppen im ersten Koalitionskrieg neben Speyer, Worms, Frankfurt auch als "Befreier" Mainz besetzt haben, dort die erste deutsche Republik ausriefen und dann nach der Belagerung durch die Koalitionstruppen von Preußen und Österreich 1793 wieder abziehen mussten.
Goethe hat diese Belagerung und vor allem den Abzug der französischen Truppen als Begleiter des Herzogs Karl-August von Weimar-Sachsen-Eisenach erlebt und erfahren, wie sehr die Zivilbevölkerung unter der Besatzung zu leiden hatte, bis hin zu schrecklichen Deportationen. Kein Wunder, dass sich nach der Kapitulation beim "freien" Abzug der französischen Truppen und ihrer Helfershelfer Gewaltexzesse ereigneten, deren Zeuge Goethe ebenfalls wurde.
"Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung zu ertragen."
Und einmal – so beschreibt es Goethe in "Die Belagerung von Mainz" – geht er dazwischen, wendet sich, als ein "kooperativer" Mainzer Architekt verprügelt werden sollte – mit einem "Halt!" an die Menge, gebietet Einhalt, sagt, dass er nicht mehr als seine Schuldigkeit getan hätte und kommentiert das dann mit der Bemerkung: "Es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als Unordnung zu ertragen."
Ein kleiner Satz mit einem ungeheuren literaturhistorischen Nachhall, der Goethe mal zum Anti-Revolutionär oder Reaktionär stempelt, ihn mal als Anwalt des positiven Rechts gegen die Gerechtigkeit in Stellung bringt. Die Stärke von Seibts Untersuchung dieser Schlüsselszene ist, diesen Satz in das tatsächliche historische Geschehen einzubetten und so das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit selbst zu thematisieren.