Christian Lehnert, "Der Gott in einer Nuss: Fliegende Blätter von Kult und Gebet"
Suhrkamp-Verlag 2016, 237 Seiten, 20 Euro.
"Die Fragilität der religiösen Existenz erkunden"
Christian Lehnert ist nicht nur Pfarrer, sondern auch ein mehrfach preisgekrönter Dichter. Im Gespräch beschreibt er seinen Weg zwischen Reflexion über den Glauben und dem erkundenden Schreiben. Ist Glauben vielleicht nur pur Selbstbespiegelung?
Philipp Gessler: Der gebürtige Dresdner Christian Lehnert, Jahrgang 1969, sammelt Literaturpreise wie andere Vinylplatten. Okay, das ist ein wenig übertrieben, aber fast ein Dutzend Preise sind es mittlerweile schon. Lehnert gilt als einer der originellsten Lyriker des Landes. Außerdem ist er evangelischer Pfarrer und thematisiert seine Erfahrungen mit dieser Berufung auch immer wieder. Seit fünf Jahren ist er zudem wissenschaftlicher Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der Universität Leipzig.
Nun hat er ein ganz besonderes neues Buch geschrieben: "Der Gott in einer Nuss: Fliegende Blätter von Kult und Gebet". In ihm verschränkt er seine Erfahrungen als Dichter, Pfarrer und Wissenschaftler auf das Anregendste. Lehnert reflektiert in dem Buch unter anderem, dass sein Reden über Gott in gewisser Weise immer scheitert. Ich habe Lehnert vor der Sendung gefragt, ob theologisches Schreiben heute notwendig ein Scheitern ist.
Christian Lehnert: Ich glaube, theologisches Schreiben war immer notwendig ein Scheitern, weil es gewissermaßen mit einem Gegenstand zu tun hat oder mit einem Erfahrungsraum, der sich der Sprache entzieht. Die Sprache kann sich nur tastend, suchend hineinbewegen in einen Raum, der sie aber immer wieder übersteigt. Und alles, was im Raum theologischen Schreibens die Worte sagen, zeigt soviel wie es verbirgt. Das theologische Schreiben war schon über die Jahrhunderte eigentlich immer ein fortwährendes suchendes Sprechen, nicht ein Sprechen über etwas, als hätten wir in den Worten den Gegenstand bereits da, sondern ein Sprechen hinein, als Bewegung der Suche nach etwas, was sich den Worten entzieht.
Gedicht und Gebet sind miteinander verwandt
Das ist übrigens verwandt der poetischen Sprache. Die poetische Sprache erlebt etwas ganz Ähnliches, dass sie gewissermaßen auf einen Gegenstand zugeht, den sie noch nicht hat. Ich beginne, ein Gedicht zu schreiben, nicht dann, wenn ich weiß, was ich sagen will – dann bräuchte ich kein Gedicht schreiben –, sondern dann, wenn für bestimmte Dinge die Worte fehlen und ich nach den Worten erst suchen muss. An diesem Punkt sind Gedicht und Gebet miteinander verwandt.
Gessler: Wäre es insofern ehrlicher, wenn Theologen nur noch poetisch über Gott schreiben würden, etwa so in Anlehnung an Dorothee Sölle, die das ja auch in vielen Texten so gemacht hat?
Lehnert: Ja, ist jetzt die Frage, was das Adjektiv poetisch an dieser Stelle bedeutet. Ich glaube, die Theologen – und darüber sind sich die wirklich reflektierten Theologen aber auch über die Jahrhunderte einig – haben nie etwas anderes getan, als poetisch über Gott zu sprechen. Wie sonst sollte man über Gott sprechen? Man kann begrifflich über ihn sprechen – das führt immer in eine gewisse Lächerlichkeit.
Einen Raum eröffnen, der hinter den Worten liegt
Dass Theologen dann von Dingen reden, von denen sie eigentlich nichts wissen können. Man kann auch nicht in einem faktischen Sinne davon sprechen, weil der Glaube zu den Fakten der Wirklichkeit im Grunde genommen nichts Wesentliches hinzuzufügen hat. Man kann nur von Erlebnissen und Erfahrungsweisen sprechen, gewissermaßen von einer Verwandlung des Ganzen der Wirklichkeit, und das ist notwendig ein poetisches Sprechen. Noch die große dogmatischen Systeme des Mittelalters sind in gewissem Sinne große, ausgefeilte Langgedichte, die in einem wunderschönen Metapherngefüge letztendlich Bildräume beschreiben, die man jetzt nicht so verstehen darf, dass sie etwas sagen, was so ist, sondern eben Metaphern sind, Bilder, die einen Raum eröffnen, der hinter den Worten liegt.
Gessler: Wenn man allerdings, sagen wir mal, Augustinus liest oder jetzt mal ein aktuelleres Beispiel, Papst Benedikt XVI., also Joseph Ratzinger, da hat man schon den Eindruck, da wird versucht, dann eben doch genau und fast juristisch genau etwas über Gott zu sagen, oder?
Lehnert: Ja, die Genauigkeit und die Poesie schließen sich ja nicht aus. In einem Gedicht muss ich ja auch genau sein. Ich will mal ein Beispiel aus der Kunst nehmen: Wenn ich durch eine Galerie gehe, dann ist natürlich in jedem Bild – ich stehe vor einem Raffael –, in diesem Bild ist die höchste Genauigkeit, die höchste Präzision, die höchste Energie des Ausdrucks versammelt, dieses Bild spricht gewissermaßen absolut für sich.
In dem Sinne sind auch die Dogmen der Kirche genau, aber daneben hängt ein anderes Bild, sagen wir mal von Tizian, das mit derselben Energie, mit derselben Genauigkeit und Objektivität darangeht und einen ganz anderen Bildrahmen schafft, und genauso ist ein anderes System der Dogmatik. Es heißt ja nicht, dass die Systeme der Dogmatik ungenau sind. Sie sind nur nicht Kodierungen von Tatsachen, so wie gewissermaßen ein Naturgesetz eine Kodierung einer Tatsache der Wirklichkeit ist.
"Es gibt einen Punkt, wo Reflexion nicht mehr weiterhilft"
Gessler: Wenn Sie jetzt schreiben, ein solches Buch, über Ihre Erfahrungen und auch über Gott, wenn man das ganz groß sagen möchte, finden Sie dann, dass da eine Annäherung an Gott stattfindet oder ist eher die Reflexion über Gott etwas, was wieder von ihm wegführt, nach Ihrem Empfinden?
Lehnert: Das ist eigentlich auch die Grundenergie in meinem jüngsten Buch "Der Gott in einer Nuss", die wechselt zwischen Reflexion und, ich nenne es mal, erkundendem Schreiben. Es gibt – wenn ich über Religion schreibe, das ist, glaube ich verwandt, wenn ich über Liebe schreiben würde, wäre es genau dasselbe –, gibt es einen Punkt, wo die Reflexion mir nicht mehr weiterhilft, weil es gewissermaßen nicht einen neutralen Standpunkt außerhalb dessen einnehmen kann, was ich beschreibe, sondern ich muss mich gewissermaßen selbst schreibend hineinbegeben, und dieses Buch "Der Gott in einer Nuss" versucht eben genau das.
Es versucht, die Fragilität einer heutigen religiösen Existenz, und zwar meiner religiösen Existenz, zu erkunden in allen Widersprüchen, in allen Offenheiten, in zweifelndem Fragen und versucht gleichzeitig, darüber zu reflektieren, was das für unsere Zeit, für die Theologie, für unseren Daseinszustand bedeutet. Also es ist ein Wechselspiel, eine klassische Form des Essays, also des Denkversuches, der sich hineinbewegt auf einen Gegenstand zu. Also die Reflexion allein hilft uns im Reden über Gott oder im Reden über den Glauben, um es mal vorsichtiger zu sagen, nur bedingt weiter.
Hilft ein kindlicher Glaube?
Gessler: Haben Sie denn daran anschließend manchmal den Eindruck, dass Ihr Glaube nur dann stark sein kann, wenn Sie Ihren Verstand ausschalten oder ihn auszuschalten versuchen, also glauben wie die Kinder, um es mit einem Jesuswort zu sagen?
Lehnert: Ja, das wäre natürlich der schönste Zustand, den man noch nicht bewusst erreichen kann, willentlich erreichen kann. Wir sind nun mal kritische Geister, und wir haben einen Verstand, wir reflektieren natürlich auch permanent das, was wir tun. Deshalb ist uns dieser Zustand der Naivität im Grunde genommen nicht mehr zugänglich, aber den Verstand ausschalten eben gerade nicht, sondern ich versuche schon ganz kritisch zu reflektieren, was ich da tue, und ich versuche, es mir da auch nicht leicht zu machen, sondern die Fragen zu schärfen.
Es gibt einen Abschnitt in dem Buch, wo ich kurz beschreibe, wie ich bete, und plötzlich im Gebet der Gedanke aufleuchtet, möglicherweise ist das alles eine Projektion, möglicherweise ist das im Moment ein pures Selbstgespräch, eine reine Selbstbespiegelung, und dagegen gibt es keine objektiven Gründe. Also der Verstand an der Stelle sagt, es könnte so sein. Das meine ich mit radikaler Kritik. Der muss sich der Glauben aussetzen. Dann gibt es das andere, dass es plötzlich Erfahrungen, Erlebnisse gibt, wo mir etwas entgegenkommt, was plötzlich den Verstand bei Weitem überragt, bei Weitem übersteigt und in ganz andere Bereiche meiner Selbst führt, in ganz andere Resonanzen und in viel weitere Räume.
Gessler: Ich möchte noch kurz, weil Sie ja auch Liturgiewissenschaftler sind, über den protestantischen Gottesdienst reden. Sie tun das ja auch in dem Buch. Da schildern Sie sehr eindrucksvoll, wie ich finde, das häufige Scheitern protestantischer Gottesdienste, auch dann, wenn sie scheinbar liturgisch perfekt oder ausgefeilt sind. Finden Sie trotzdem, dass der protestantische Gottesdienst reformiert werden muss?
Lehnert: Also ich schreibe erstens – ganz kurz als Anmerkung – nicht nur über den protestantischen Gottesdienst, sondern über den Gottesdienst der westlichen Kirchen. Also ein Katholik wird sich da in vielen Dingen wiederfinden, weil ich die zentralen Messeelemente ja auch behandle. Ist der protestantische Gottesdienst reformbedürftig – ja, natürlich. Eine Liturgie ist immer reformbedürftig, und zwar deshalb, weil eine Liturgie zwar aus der Tiefe der Vergangenheit kommt, angereichert mit vielen Erinnerungen, mit Kräften der Geschichte und gleichzeitig aber im Augenblick, immer jetzt und hier und heute verantwortet wird und genau jetzt nur im Augenblick ihre Wahrheit hat.
Die Liturgie ist ein Kind der puren Zeitlosigkeit und zum anderen eine Augenblicksgeburt. Von daher ist das dauernde Reformieren eine Notwendigkeit für die Liturgie. Das ist in bestimmten Zeiten mal mehr im Bewusstsein, mal weniger im Bewusstsein, es ist konfessionell mehr oder weniger im Bewusstsein, aber grundsätzlich ist das eine Gegebenheit, weil Liturgie ein kultureller Ausdruck ist, Liturgie ist eben auch eine Kunst, und als solche steht sie in der Zeit.
Gessler: Vielen Dank, Herr Lehnert, für das Interview!
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