Der dicke Don Quichotte
Wenn Gary Shteyngart, ein zierlicher Mann mit Drei-Tage-Bart und markanter Brille, liest, bleibt kein Auge trocken. Der 1972 geborene russisch-amerikanische Schriftsteller hat für seinen zweiten Roman "Snack Daddys abenteuerliche Reise" einen Anti-Helden geschaffen, einen russischen Don Quichotte.
Mischa Vainberg alias Snack Daddy ist ein neureicher Russe, der nicht nur das Geld, sondern auch die Frauen liebt. Und das mit ganzem Körpereinsatz. Er wiegt 147 Kilogramm, die auch der Puma-Jogginganzug nicht verbergen kann. Als Gary Shteyngart daran denkt, wie er auf die Idee kam, gerade einen schwer übergewichtigen Romanhelden zu schaffen, muss er lachen:
"Daran erinnere ich mich noch genau. Ich war auf einer Art marxistischem College in Ohio. Gemeinsam mit einigen anderen sowjetischen Juden. Wir waren alle dünne, zerbrechliche Jungen. Aber da gab es auf dem Campus diesen 150-Kilo-Russen, der sich unglaublich angepasst hatte. Die Frauen liebten ihn. Und ich dachte: ‚Wow, wenn ich nur so sein könnte wie er! Wenn ich doch nur seine Größe, nicht die körperliche, sondern die Geistesgröße hätte!’ Aber natürlich ist daraus nichts geworden. Ich bin klein geblieben."
Gary Shteyngart sieht sein Gegenüber drei Sekunden traurig an, bis der Schalk die schauspielerische Einlage verrät. Gary Shteyngart war tatsächlich schon mal richtig dick war. Als 13-Jähriger kam er zu seiner Großmutter. Sie gab ihm täglich vier Hamburger und vier Pizzen zu essen und außerdem russischen Salat, der vor allem aus Mayonnaise bestand. Das war bereits in den USA. Im Alter von sieben Jahren war Shteyngart mit seinen Eltern aus Leningrad in die USA emigriert.
Anfangs fühlte er sich aber fremd im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und aß übermäßig viel. Auch aus Angst vor der Fremde. In dem Maße, in dem er seine Angst verlor, verlor er auch an Gewicht. Ganz im Gegensatz zu seinem Romanhelden Mischa. "Dicke fette Judensau" nennt der sich selbst. Darf man so etwas schreiben oder gar frech eine missglückte jüdische Beschneidung zur Sprache bringen? Satiriker Shteyngart pfeift jedenfalls auf political correctness:
"In den USA stört sich niemand daran. Spätestens seit Philip Roth. Für einen jüdischen Schriftsteller ist der Penis doch wie eine Frau: ‚Wie bitte, Sie schreiben nicht über Ihren Penis?’ Wenn ich in Deutschland lese, schauen mich die Leute oft etwas leidend an und fragen: ‚Dürfen wir darüber lachen?’ Und ich antworte ihnen: ‚Ja klar, lacht einfach drauf los!’ Das Buch macht sich ja außerdem über jeden lustig, nicht nur über Juden, sondern auch über Russen, Armenier, Deutsche, Schwule, Kanadier. In den USA gibt es zwar die Diskussion, ob ich das darf. Aber die Antwort der Amerikaner lautet: ‚Ja, er darf das, weil er ja selbst ein Immigrant ist und der unterprivilegierten Klasse angehört. Deshalb darf er sich auch mit Blick auf andere ethnische Gruppen revanchieren.’"
Ums Revanchieren geht es auch in Shteyngarts sarkastischem Roman: Der dicke Mischa will Russland wieder in Richtung New York verlassen, wo ihn seine Freundin und sein Psychoanalytiker erwartet. Aber da Mischas Vater, ein russischer Mafioso, einen US-Bürger auf dem Gewissen hat, bekommt sein Sohn von den US-Behörden keine Einreiseerlaubnis. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sein Vater schließlich von der Mafia-Konkurrenz in die Luft gesprengt wird, und zwar in St. Petersburg. Shteyngarts Roman ist auch eine ganz besondere Hommage an seine Geburtsstadt:
"Als ich zurück nach Leningrad beziehungsweise St. Petersburg, kam, wollte ich der Stadt für ihre literarische Inspiration danken. Gleichzeitig wollte ich dieser Stadt zurufen: ‚Verrecke!’. Schließlich ist St. Petersburg für meine psychischen Probleme verantwortlich, die in diesem fremdenfeindlichen Russland zwangsläufig entstehen mussten. Als ich das erste Mal zurück nach St. Petersburg kam, in den späten 90er Jahren, in der Jelzin-Ära, hatte ich dieses große amerikanische Lächeln auf meinen Lippen. Und die Russen fragten sich: ‚Wer ist bloß dieser Idiot, dieser lächelnde Jude? Ich würde am liebsten das Lächeln aus ihm herausprügeln!’ Ich habe also auf böser Russe umgeschaltet. Ich unterdrücke seitdem mein Lächeln und mache ein ernstes Gesicht, sobald ich auf einem russischen Flughafen lande."
Koloss Mischa landet auf der Suche nach dem Schlupfloch in den Westen ganz woanders: im fiktiven Land Absurdistan. Gary Stheyngart hat es entworfen, um seine beiden Länder, Russland und die USA, zu karikieren:
"Ich bin schon lange mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Russland mit den Jahren mehr und mehr Amerika gleichen würde. Kurioserweise werden Amerikaner immer mehr zu Russen! An einer Stelle im Roman kommt Dick Cheney nach Kasachstan und sagt: ‚Ich bewundere euer politisches und wirtschaftliches System!’ Wenn in den USA ein Gesetz zur Telefonüberwachung beschlossen wird, wie sehr unterscheidet sich das noch von den Zuständen der Sowjetunion oder vom heutigen Russland? Die Antwort ist: kaum."
Zumindest bestehe keine Gefahr, dass seine dicke Romanfigur und er sich demnächst ähnlich sähen, scherzt Gary Shteyngart:
"Als ich das Buch schrieb, symbolisierte Mischa für mich beide Länder: Er ist genauso groß wie Amerika und Russland. Er konsumiert alles: Essen, Wodka, Frauen, politische Ideen, schlechte politische Ideen. Er sagt nur: ‚Her damit, her damit!’ Das erinnert mich doch stark an beide Länder und ihren grenzenlosen Appetit!’"
Dieser gigantische Appetit, der dem Menschen die Menschlichkeit nimmt, ist Gary Shteyngart selbst fremd. Zugleich bescheiden und gewitzt sieht er aus, als er in der Berliner Volksbühne aus seinem neuen Roman liest.
"Daran erinnere ich mich noch genau. Ich war auf einer Art marxistischem College in Ohio. Gemeinsam mit einigen anderen sowjetischen Juden. Wir waren alle dünne, zerbrechliche Jungen. Aber da gab es auf dem Campus diesen 150-Kilo-Russen, der sich unglaublich angepasst hatte. Die Frauen liebten ihn. Und ich dachte: ‚Wow, wenn ich nur so sein könnte wie er! Wenn ich doch nur seine Größe, nicht die körperliche, sondern die Geistesgröße hätte!’ Aber natürlich ist daraus nichts geworden. Ich bin klein geblieben."
Gary Shteyngart sieht sein Gegenüber drei Sekunden traurig an, bis der Schalk die schauspielerische Einlage verrät. Gary Shteyngart war tatsächlich schon mal richtig dick war. Als 13-Jähriger kam er zu seiner Großmutter. Sie gab ihm täglich vier Hamburger und vier Pizzen zu essen und außerdem russischen Salat, der vor allem aus Mayonnaise bestand. Das war bereits in den USA. Im Alter von sieben Jahren war Shteyngart mit seinen Eltern aus Leningrad in die USA emigriert.
Anfangs fühlte er sich aber fremd im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und aß übermäßig viel. Auch aus Angst vor der Fremde. In dem Maße, in dem er seine Angst verlor, verlor er auch an Gewicht. Ganz im Gegensatz zu seinem Romanhelden Mischa. "Dicke fette Judensau" nennt der sich selbst. Darf man so etwas schreiben oder gar frech eine missglückte jüdische Beschneidung zur Sprache bringen? Satiriker Shteyngart pfeift jedenfalls auf political correctness:
"In den USA stört sich niemand daran. Spätestens seit Philip Roth. Für einen jüdischen Schriftsteller ist der Penis doch wie eine Frau: ‚Wie bitte, Sie schreiben nicht über Ihren Penis?’ Wenn ich in Deutschland lese, schauen mich die Leute oft etwas leidend an und fragen: ‚Dürfen wir darüber lachen?’ Und ich antworte ihnen: ‚Ja klar, lacht einfach drauf los!’ Das Buch macht sich ja außerdem über jeden lustig, nicht nur über Juden, sondern auch über Russen, Armenier, Deutsche, Schwule, Kanadier. In den USA gibt es zwar die Diskussion, ob ich das darf. Aber die Antwort der Amerikaner lautet: ‚Ja, er darf das, weil er ja selbst ein Immigrant ist und der unterprivilegierten Klasse angehört. Deshalb darf er sich auch mit Blick auf andere ethnische Gruppen revanchieren.’"
Ums Revanchieren geht es auch in Shteyngarts sarkastischem Roman: Der dicke Mischa will Russland wieder in Richtung New York verlassen, wo ihn seine Freundin und sein Psychoanalytiker erwartet. Aber da Mischas Vater, ein russischer Mafioso, einen US-Bürger auf dem Gewissen hat, bekommt sein Sohn von den US-Behörden keine Einreiseerlaubnis. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sein Vater schließlich von der Mafia-Konkurrenz in die Luft gesprengt wird, und zwar in St. Petersburg. Shteyngarts Roman ist auch eine ganz besondere Hommage an seine Geburtsstadt:
"Als ich zurück nach Leningrad beziehungsweise St. Petersburg, kam, wollte ich der Stadt für ihre literarische Inspiration danken. Gleichzeitig wollte ich dieser Stadt zurufen: ‚Verrecke!’. Schließlich ist St. Petersburg für meine psychischen Probleme verantwortlich, die in diesem fremdenfeindlichen Russland zwangsläufig entstehen mussten. Als ich das erste Mal zurück nach St. Petersburg kam, in den späten 90er Jahren, in der Jelzin-Ära, hatte ich dieses große amerikanische Lächeln auf meinen Lippen. Und die Russen fragten sich: ‚Wer ist bloß dieser Idiot, dieser lächelnde Jude? Ich würde am liebsten das Lächeln aus ihm herausprügeln!’ Ich habe also auf böser Russe umgeschaltet. Ich unterdrücke seitdem mein Lächeln und mache ein ernstes Gesicht, sobald ich auf einem russischen Flughafen lande."
Koloss Mischa landet auf der Suche nach dem Schlupfloch in den Westen ganz woanders: im fiktiven Land Absurdistan. Gary Stheyngart hat es entworfen, um seine beiden Länder, Russland und die USA, zu karikieren:
"Ich bin schon lange mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Russland mit den Jahren mehr und mehr Amerika gleichen würde. Kurioserweise werden Amerikaner immer mehr zu Russen! An einer Stelle im Roman kommt Dick Cheney nach Kasachstan und sagt: ‚Ich bewundere euer politisches und wirtschaftliches System!’ Wenn in den USA ein Gesetz zur Telefonüberwachung beschlossen wird, wie sehr unterscheidet sich das noch von den Zuständen der Sowjetunion oder vom heutigen Russland? Die Antwort ist: kaum."
Zumindest bestehe keine Gefahr, dass seine dicke Romanfigur und er sich demnächst ähnlich sähen, scherzt Gary Shteyngart:
"Als ich das Buch schrieb, symbolisierte Mischa für mich beide Länder: Er ist genauso groß wie Amerika und Russland. Er konsumiert alles: Essen, Wodka, Frauen, politische Ideen, schlechte politische Ideen. Er sagt nur: ‚Her damit, her damit!’ Das erinnert mich doch stark an beide Länder und ihren grenzenlosen Appetit!’"
Dieser gigantische Appetit, der dem Menschen die Menschlichkeit nimmt, ist Gary Shteyngart selbst fremd. Zugleich bescheiden und gewitzt sieht er aus, als er in der Berliner Volksbühne aus seinem neuen Roman liest.