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Musikalische und menschliche Wärme
Sir John Barbirolli, englischer Dirigent mit italienischen Wurzeln, war ein großer Musiker seiner Zeit. Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod ist er etwas in Vergessenheit geraten. Sein ausuferndes diskographisches Vermächtnis ist neu zu entdecken.
Man muss nicht auffallend groß sein, um als Riese zu gelten. John Barbirolli, seit 1949 "Sir John", wird auf vielen Fotografien von seinen Mitmenschen überragt. Und doch war der Mann, der 1899 als Giovanni Battista Barbirolli in London geboren wurde, seinerseits eine überragende Persönlichkeit.
Barbirolli, Sprössling einer ausgewanderten italienischen Musikerfamilie, wurde zunächst als Wunderkind des Cellospiels gehandelt und sammelte als Instrumentalist praktische Orchestererfahrung, auch unter dem ebenso brillanten wie als Pultdiktator gefürchteten Dirigenten Sir Thomas Beecham.
Von diesem Hintergrund konnte Barbirolli in seiner bald darauf beginnenden eigenen Dirigenten-Laufbahn mehrfach profitieren: Er hatte sich das Handwerk aus gründlicher Beobachtung angeeignet und war zugleich ein Teamplayer, der – anders als viele Kollegen seiner Generation – nicht zuletzt für seine menschlichen Qualitäten geschätzt wurde. Stets heben Berichte Barbirollis menschliche Wärme hervor; seine Aufnahmen künden zudem von einer besonderen musikalischen Wärme.
Fülle des Wohllauts
Das beseelte Musizieren Sir Johns ist in einer erstaunlichen Fülle von Einspielungen dokumentiert – erstaunlich im Hinblick auf die Tatsache, dass Barbirolli heute kaum noch in einem Atemzug mit Heroen des Taktstocks wie Otto Klemperer oder Herbert von Karajan genannt wird. Mit den genannten Kollegen teilte sich Barbirolli zeitweise die gleiche Plattenfirma und war sich nicht zu schade dafür, das aufzunehmen, was die anderen weniger interessierte.
Für Schallplattenproduzenten war Barbirolli, der schon als Kind akustische Trichteraufnahmen mit dem Cello gemacht hatte, ein idealer Partner: Technisch aufgeschlossen, pragmatisch, ruhig und ausdauernd ging er im Studio ans Werk und wurde besonders als Begleiter geschätzt. Solisten wie Jascha Heifetz, Arthur Rubinstein, Jacqueline du Pré und Janet Baker haben ihn als Dirigenten ihrer Aufnahmen geradezu geliebt.
Auch sonst hielt sich Barbirolli gerne im Hintergrund: Das einzige Spitzenorchester, dessen Chefdirigent er jemals war, waren die New Yorker Philharmoniker. Bei ihnen hatte er 1936 als Nachfolger des legendären Arturo Toscanini allerdings schlechte Karten und konnte sich mit seiner unaufdringlichen Art nur wenige Spielzeiten lang halten.
Zuhause in der Provinz, zu Gast in der Welt
Zurück in Europa, zog Barbirolli das Hallé Orchestra in Manchester einigen anderen Ensembles vor, denn hier konnte er ein Orchester nach seinen Vorstellungen neu aufbauen. In den letzten Jahren seines Lebens wurde er bei den Wiener und vor allem Berliner Philharmonikern ein gefragter Gastdirigent, herausragend in der Etablierung der Sinfonien von Gustav Mahler und Jean Sibelius, wunderbar in seiner nahezu unbekannten Wiener Einspielung der Brahms-Sinfonien.