Jahrzehnte auf der Flucht
Der Bürgerkrieg in Somalia kann jeden zum Flüchtling machen, sogar den ehemaligen Kapitän der Fußballnationalmannschaft und seine Familie. Und so leben die Shashs inzwischen über die ganze Welt verstreut. "Global Family" erzählt ihre Geschichte.
Patrick Wellinski: Es gibt wohl kaum eine politische Diskussion, die sich derzeit nicht um den Begriff des Flüchtlings entzündet. Auch im Fernsehen oder im Kino sind Bilder von Flüchtlingsströmen keine Seltenheit mehr. Der Dokumentarfilm "Global Family", der nächsten Donnerstag in unsere Kinos kommt, ist dennoch eine Ausnahme, weil er eben nicht den Akt der Flucht zeigt, sondern fragt, was passiert mit denen, die ankommen, und wie verändert sich das Verhältnis zu denen, die zurückgelassen worden?
"Global Family" zeigt die somalische Familie Shash, die zum Teil in Deutschland wohnt, unter anderem auch der Vater Captan Shash, der – das kann man während der Fußballweltmeisterschaft gerade sagen – in Somalia zu den größten Fußballlegenden aller Zeiten zählt. Jetzt wohnt er mit seiner Familie in Deutschland, ist vor dem Bürgerkrieg geflohen, und im Film bildet sich plötzlich ein großes Problem heraus, denn die 88 Jahre alte Mutter ist noch das einzige Familienmitglied, das in Afrika sitzt.
Sie ist alt, sie ist krank, und sie braucht Hilfe, und die Familie versucht, die Frau irgendwie nach Deutschland oder zum Bruder nach Italien zu holen. Das geht gar nicht so leicht, denn der Familienzuzug ist alles andere als möglich. "Global Family" produziert Bilder, die sich anders verhalten zu den Schlagzeilen, die uns täglich umgeben, und ich konnte vor der Sendung mit den beiden Regisseuren über ihre Film sprechen.
Herzlich willkommen, Melanie Andernach und Andreas Köhler! Hallo!
Melanie Andernach: Vielen Dank, hallo!
Andreas Köhler: Hallo!
Wellinski: Wie sind Sie denn überhaupt auf die Familie Shash aufmerksam geworden?
Köhler: Es ist schwer zu sagen, wer auf wen aufmerksam geworden ist. Wir waren auf der Suche nach einer Familie, die getrennt voneinander leben muss, wollten auch eine somalische Familie finden, weil Somalia seit 25 Jahren im Bürgerkrieg ist und in diesen 25 Jahren immer wieder die Leute geflohen sind in alle Teile der Welt.
Wir sind jetzt aus Köln, waren deswegen in Bonn unterwegs, weil es dort eine große somalische Community gibt, waren auch immer wieder da, haben genau nach so einer Familie gesucht, die das hat, wo sozusagen Brüder, Schwestern, Eltern, Kinder getrennt voneinander leben müssen, und waren dann irgendwann auch auf einem Fußballturnier, wo verschiedene Jugendliche, die eigentlich von verfeindeten Clans sind, miteinander gespielt haben. Und das Turnier war ausgerichtet worden von Captan Shash. Captan Shash kam irgendwann auf uns zu und sagte, ich bin der richtige Mann. Deswegen kann man gar nicht sagen, ob wir auf ihn oder er auf uns gestoßen ist.
Geduld und Vertrauen
Wellinski: Das heißt, Sie hatten vorab schon eine Idee, einen Dokumentarfilm über eine geflüchtete Familie zu machen oder eine, die auf dem Globus zerstreut ist. Was war da die Grundidee?
Andernach: Die Idee war vorher da, also das Konzept zum Film sozusagen. Wir wollten einen Film über Flüchtlingsschicksale machen, über Geflüchteten-Schicksale machen, und Andreas hatte tatsächlich dann die Idee, weil er in Kanada während eines Drehs auf einen somalischen Busfahrer gestoßen ist, der genau das erzählte. Und uns wurde bewusst, dass das sehr viele Familien betrifft, dass sie auf der Welt verteilt leben und versuchen, eine Familie zu bleiben. Wir hatten das Gefühl, dass man anhand der Familie auf sehr emotionale und nachvollziehbare Weise nacherzählen kann, was es bedeutet, über Jahrzehnte hinweg geflüchtet zu sein.
Wellinski: Sie haben ja auch eine Familie gefunden, die Sie sehr nah herangelassen hat. Sie werden ja auch noch gleich drüber sprechen, dass Sie nicht nur in Deutschland mit dieser Familie mitlaufen, sondern auch quasi noch reisen müssen. Wie lange hat das gedauert, oder wie schwer war das überhaupt, so nah an die ganze Familie heranzukommen?
Köhler: Ja, das braucht tatsächlich einige Geduld, obwohl er so auf uns zukam, war es dann ein sehr langer Prozess, weil wir wollten auch, dass wir den Film quasi zusammen machen, also waren deswegen sehr oft da, auch sehr oft erst mal bei dem Teil, der in Deutschland lebt, auch sehr oft ohne Kamera, dass sie sich quasi nicht nur an uns gewöhnen, sondern dass da ein Vertrauensverhältnis entsteht und sie auch wirklich wissen, warum wir da sind, und haben dann langsam angefangen, auch mal eine Kamera mitzubringen, auch ein bisschen zu drehen, dass sie sich auch daran gewöhnen, und hatten irgendwann einen Zustand geschaffen, wo wir einfach Teil des Interieurs, vielleicht auch Teil der Familie waren.
Das gleiche Spiel sozusagen, oder was heißt Spiel, den gleichen Vorgang hatten wir dann natürlich, wir sind, bevor wir gedreht haben, eben auch zu den anderen Familienmitgliedern gereist, damit das Vertrauensverhältnis da ist, was man auch braucht, um die Szenen drehen zu können, die wir dann auch im Film haben.
Unterschiedlicher Lebensalltag
Wellinski: Die Episoden über die Familie – also da ist Captan Shash, der Vater, Yasemin, seine Tochter, deren Kinder wiederum –, das spielt ja in Deutschland. Damit fangen Sie auch so ein bisschen Bilder einer Flüchtlingsfamilie in Deutschland auf, und wie Sie gerade auch schon geschildert haben, eben nicht nur immer die Geschichte, wie diese Menschen zu uns kommen, sondern was passiert oder wie leben sie, wenn sie dann da sind. Was war Ihnen da besonders wichtig?
Andernach: Tatsächlich war uns wichtig, also die Lebenswirklichkeit zu zeigen, weil jeder einzelne von ihnen in einer anderen Situation lebt. Also Yasemin in Deutschland hat mittlerweile einen deutschen Pass, ihr Vater hat immer noch einen Flüchtlingsstatus, lebt auch in Deutschland, der Bruder ist gerade übers Meer gekommen und lebt in Italien, aber überwiegend auf der Straße und ist obdachlos. Ein Teil der Familie irrt immer noch durch Afrika herum und ist eigentlich immer noch so irgendwie auf der Flucht, immer auf der Suche nach irgendwo, wo es ein bisschen Ruhe gibt. Also sie sind in sehr vielen unterschiedlichen Wirklichkeiten unterwegs, und wir wollten dann eintauchen in die jeweiligen Wirklichkeiten.
Wir haben dann gemerkt, also dann hat das so einen gewissen Lauf genommen, das ist vielleicht auch so ein dokumentarisches Glück, was sich ergeben hat, dass die deutsche Familie entschieden hat, wir müssen nach Äthiopien reisen, um wirklich entscheiden zu können, was passiert mit der Oma, wo soll sie hin. In dem Moment hatten wir die Entscheidung getroffen, okay, die erste Hälfte des Films spielt in Europa und zeigt so ein bisschen die Zerrissenheit, wo ist meine Heimat, in Deutschland, in Afrika, und dann wechseln wir nach Afrika und sehen aber, dass die, die aus Deutschland dorthin gekommen sind, eigentlich schon längst deutsch sind.
Wellinski: Das ist ja im Kern der große Konflikt, der dann aufkommt. Die ganze Familie ist in der Welt zerstreut, so wie Sie das gerade geschildert haben, aber die 88 Jahre alte Mutter, die ist zurückgeblieben, und die Frage ist ja auch eine universelle Frage, –
Andernach: Genau.
Wenn der Familienrat tagt
Wellinski: – was mache ich mit einem alten Elternteil, das diese Familie ja ganz besonders trifft. Also dieses Zurückkommen der Familie, um die Oma zu besuchen oder dieses Problem zu lösen – es wird ja so eine Art Familienrat da abgehalten –, und Sie sind mit dabei. Sie schildern auch sehr, wie die Familie aus Deutschland nach Äthiopien geht und dann auch so ein bisschen einen Kulturschock erlebt natürlich, aber war das für Sie denn auch ein Kulturschock, mit dabei zu sein, zu sehen, wie dieses Problem, was machen wir mit der Oma, auch ein Riesenproblem für diese Familie wird?
Köhler: Ja, also im Endeffekt so, wie man das im Film entdeckt, haben wir das natürlich auch, als wir beim Dreh waren, natürlich auch entdeckt. Also Yasemin ist da wirklich ein sehr gutes Beispiel, die sich hier in Deutschland lebend eigentlich immer wieder beweisen muss, dass sie Deutsche ist, allein schon wegen der Hautfarbe, hier quasi so als Afrikanerin gesehen wird beziehungsweise sich auch selber noch so fühlt, da auch so eine Nostalgie hat zu ihrer alten Heimat und wir da auch sehr überrascht waren, dass es dann tatsächlich zu so einem Kulturclash auch innerhalb der Familie kommt, wo man dann wirklich sieht, wie einen das Umfeld prägt, in dem man lebt, und der Wertekanon oder vielleicht das, was man als normal empfindet. Wirklich überraschend stark zu erleben war, wie auch eine Familie auseinanderdriftet, die sich eigentlich als Familie, als Brüder, Schwestern betrachtet, wie sozusagen dieses Getrenntsein sie auch voneinander immer mehr entfernt.
Wellinski: Sie sind ja – und das macht den Film ja auch so besonders – so nah an der Familie, und trotzdem, wenn man sie jetzt mit deutschen Augen betrachtet, Ihren Dokumentarfilm, stellen sich auch explizit politische Fragen, und ich würde gerne wissen, ob Sie diese auch mitgedacht haben beim Filmen, weil die Frage des Familienzuzugs, der wird permanent diskutiert, und irgendwie stellt sich der ja indirekt oder auch zum Teil direkt in Ihrem Film. War das auch etwas, was Sie bei den Dreharbeiten, beim Arbeiten auch vor Ort und in Äthiopien immer mitgedacht haben, dass eigentlich ist das auch ein Film darüber?
Andernach: Der ist gewissermaßen auch darüber, ja. Wir haben ja bewusst auch eine Familie ausgesucht, wo es darum geht, was passiert mit dem Ältesten oder der Ältesten in der Familie, wenn sie nicht mehr kann, wenn sie krank ist. Es ist eine Frage, die wir alle kennen und der wir alle uns irgendwann stellen müssen. Der Film will aber am Ende bewusst keine Entscheidung treffen für oder dagegen. Er will zeigen, was es bedeutet, wenn Familien eben getrennt leben, dass wir als Zuschauer begreifen, dass wir eine Verantwortung haben in der Frage, Familiennachzug ja oder nein, dass wir uns dessen bewusst werden, wie auch immer wir uns am Ende entscheiden, aber es gibt eine Verantwortung für Menschen, und das wollten wir zeigen.
Einladung in den Schneideraum
Wellinski: Bei aller Tragik des Vorfalls oder auch der Traurigkeit letztendlich der Situation ist es zum Teil auch ein sehr heiterer Film, weil gerade Yasemin, die sich so ein bisschen als Hauptdarstellerin mehr oder weniger herauskristallisiert, ist ja auch eine sehr sympathische Frau und hat auch einen super Sinn für Humor. Ich habe mich gefragt, hat denn die Familie Shash den Film schon gesehen, und wenn ja, wie haben sie auf sich selber reagiert?
Andernach: Ja, also uns war es wichtig, dass die Familie den Film zuerst sieht, bevor wir den öffentlich zeigen. Wir haben sie quasi in den Schnitt eingeladen, der Film war so gut wie fertiggeschnitten und haben den Film präsentiert, was ein sehr spannender Moment jedes Mal ist, weil man natürlich sieht, es gibt Momente, in denen ein sehr stolzer Mann weint oder in dem sich eine Familie so offen streitet, und sie haben sehr, sehr gut reagiert. Also Captan Shash hat immer genau bei diesen Momenten gesagt, das ist wichtig, wenn man das sieht, versteht man, wie es uns geht.
Wellinski: "Global Family" wurde beim Max-Ophüls-Preis-Festival im Januar mit dem Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Ab Donnerstag läuft er dann offiziell in unseren Kinos, und die Regisseure Melanie Andernach und Andreas Köhler waren unsere Gäste. Vielen Dank für die Zeit und vielen Dank für den Film!
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