Der Druck der Selbstverwirklichung

Gut leben - ohne Vorsätze

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Ein Bodenmosaik in Neuruppin mit dem Sinnspruch "Jedermann ist seines Glückes Schmied"
Wenn wir allein "unseres Glückes Schmied" sind, dann ist es auch unser eigenes Versagen, wenn unser Glück ausbleibt, gibt Christian Uhle zu bedenken. © IMAGO / imagebroker
Ein Standpunkt von Christian Uhle |
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Die Welt ist reich an Sprüchen und Appellen, die es gut mit uns meinen. Doch was als Hilfe zur Selbstmotivation dienen kann, setzt uns vor allem unter Druck, meint der Philosoph Christian Uhle. Er fordert: Schluss mit den guten Vorsätzen!
Folge deinem Herzen! Sei ganz du selbst! Bedauere keine Fehler, wachse daran! Hör nicht auf die anderen, lebe deinen Traum!
Diese Slogans versprechen Befreiung – Befreiung von äußeren Erwartungen, Befreiung vom inneren Hang zu Bequemlichkeit, Pessimismus und schlechter Laune an verregneten Tagen. Raus aus dem Hamsterrad, rein in die Selbstverwirklichung. Das Leben ist ein Geschenk – mach was draus!
Wandtattoos machen diese Versprechen besonders sichtbar. In teils riesigen Lettern holen sich viele Menschen die Botschaften ins eigene Haus. Als Aufkleber auf der Tapete, schön eingerahmt neben dem Küchentisch oder gleich an der Eingangstür – überall wird gemahnt, niemals aufzuhören, zu träumen.

Was tun, wenn das Herz schweigt?

Doch das ist nicht immer so einfach. Manchmal versuchen wir, auf unser Herz zu hören, aber das Herz schweigt oder murmelt nur unverständliches Kauderwelsch.
"Hör auf dein Herz!" – was gutgemeint klingt, wie die Verheißung eines authentischen und selbstbestimmten Daseins, kippt ins Gegenteil und setzt uns unter Druck. Wer es nicht schafft, aus den Zitronen des Lebens Limonade herauszupressen, ist gescheitert – gescheitert nicht an äußeren Hürden, sondern an sich selbst.
Denn wenn wir allein "unseres Glückes Schmied" sind, dann ist es auch unser eigenes Versagen, wenn unser Glück ausbleibt. Dieses Scheitern an sich selbst ist besonders schmerzhaft.
In seinem aufschlussreichen Buch "Das erschöpfte Selbst" beschreibt der französische Soziologe Alain Ehrenberg, wie die Aufforderung, sich selbst zu verwirklichen, zu Depressionen führen kann. Immer mehr Menschen leiden unter der Erwartung, etwas Besonderes aus ihrem Leben zu machen. Sie sind "müde, sie selbst zu sein", wie Ehrenberg es formuliert.

Selbstverwirklichung kann Druck erzeugen

Wie kann das sein? Selbstverwirklichung ist doch wunderbar, oder etwa nicht?
Klar, im Prinzip schon. Die Krux an der Sache ist, dass eine ehemalige Kritik an den engen Regeln der 50er-Jahre-Gesellschaft umgeschlagen ist in ein neues Dogma.
Wie ein Bumerang wenden sich emanzipatorische Grundgedanken plötzlich gegen uns und treffen uns am Hinterkopf.
Erst durften Frauen Geld verdienen, heute sollen oder müssen sie. Erst durfte man frech und kreativ sein, heute soll man es. Erst durfte man einen individuellen Weg jenseits etablierter Normen einschlagen, heute ist Außergewöhnlichkeit selbst zur Norm geworden.
Der Bumerang zieht seine Kreise. Bei manchen Menschen heißt es bereits: Knock-out.

Erkämpfte Freiheit mit Kehrseiten

Die einst mühsam erkämpfte Freiheit hat also Kehrseiten und schafft neue, subtile Zwänge. Das wird auch sichtbar an all den Wandtattoos und Lebensmaximen. Viel zu oft kommen sie im Befehlston daher. Da heißt es nicht: "Du darfst stolz auf dich sein", sondern schreit uns förmlich an: "Sei stolz auf dich!"
Nur anhand einer einzelnen Botschaft lassen sich die Unterschiede zwischen Ratschlag, Appell und Befehl kaum festmachen. Aber in der Gesamtschau wird deutlich, dass uns hier nicht wohlmeinend auf die Schulter geklopft wird. Tu, was dich glücklich macht!
Lebensweisheit kann niemals die Form eines Imperativs haben. Sonst wird sie zur Falle. Eine wirklich befreiende Nachricht wäre: "Du kannst deine Welt erobern oder einfach einem geregelten Job nachgehen und am Wochenende deinen Schrebergarten jäten. Beides ist völlig in Ordnung."
Viele Sprüche haben tatsächlich einen klugen und sinnvollen Kern. Und wenn wir das Gefühl haben, lächelnd durchs Leben gehen zu können, im Einklang mit unserem inneren Selbst, tanzend im Regen, einzigartig, sprühend und schillernd, dann ist das super.
Nur wenn all das zu einer drückenden Erwartung wird, dann verhindern wir solche Momente eher. In diesem Sinne: Befrei dich von den Wandtattoos!

Christian Uhle ist Philosoph und lebt in Berlin. Zu seinen Themen gehören die Frage nach dem Sinn des Lebens, der digitale Wandel und die Zukunft von Mobilität. Hierzu hat er in öffentlich geförderten Projekten geforscht und entwickelt seine philosophischen Perspektiven in Publikationen und Vorträgen. Weitere Infos auf www.christian-uhle.de.

© Alexander Hoffmann