Der Einfluss der Pharaonen

"Das christliche Abendland ist in Athen und Jerusalem begründet worden", sprich: es stützt sich auf Werte und Normen, die in der griechischen Antike wurzeln und in der jüdischen Religion. So lautet ein gängiger Topos der Geisteswissenschaften. Jan Assmann möchte das Wissen um die beiden Quellen der abendländischen Zivilisation um eine dritte bereichern: die Kultur des alten Ägypten.
Die ägyptischen Wurzeln unserer Kultur sind wenig bekannt. Das hat historische Gründe. Die jüdische Religion als auch die christliche haben ihre Berührungspunkte mit der Religion des Pharaonenreiches gerne verdrängt.

Das ist verständlich, meint Jan Assmann, denn Ägypten war für das Volk der Israeliten schließlich der Feind. Moses hat die Seinen aus der ägyptischen Sklaverei befreit, die Juden sind vor dem Pharao und seinem Heer durch Meer und Wüste ins "Gelobte Land" geflüchtet.

Jan Assmann meint, man dürfe aber nicht vergessen, dass die Israeliten viel Zeit in Ägypten verbracht haben. Ihr Prophet Moses ist dort geboren und hat am Hofe des Pharao gelebt. Kein Wunder also, so der Autor, dass es im Geisteskosmos des Judentums verschwiegene ägyptische Motive gibt, die im Christentum vollends zum Durchbruch kamen und auf diese Weise nach Europa importiert worden sind .

Assmann ist überzeugt, im Christentum lebt viel unbewusstes ägyptisches Erbe. Das fängt bei den zehn Geboten an. Der Dekalog, so Jan Assmann, ist nicht vom Himmel gefallen. Vielmehr hat Moses seinem Volk ein paar Lebensregeln diktiert, die er aus Ägypten kannte.

Auch das Thema "Inkarnation" ist ein altägyptisches. Die Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus, so der Autor, hat ihr Vorbild in der Fleischwerdung des Horus in den Pharaonen, die ägyptischen Könige galten nämlich als Inkarnationen des Gottes mit dem Falkenkopf.

Auch die christliche Idee von der Unsterblichkeit der Seele und die von einem Gottesgericht nach dem Tod stammen auch aus dem Pharaonenreich.

Das zweite große Thema in diesem Buch ist die "Ägypten-Renaissance" im europäischen Geistesleben des 18. und 19. Jahrhunderts.

Darin beschäftigt sich der Autor zunächst mit den Freimaurern des 18. Jahrhunderts und sieht deren Vorbild im ägyptischen Priestertum. Was den Freimaurern an der altägyptischen Kultur besonders gefiel, war die Unterscheidung zwischen einem esoterischen und exoterischen Raum der Gesellschaft.

Zum Beispiel, so der Autor, gab es im alten Ägypten eine zweigeteilte Religion. Eine Religion fürs Volk (polytheistisch, mit Gottesdiensten, Festen, Opferritualen) und eine andere für die adlige Geistes-Elite. Diese Elite-Religion war ein monotheistischer Kultus des Wissens und der Weisheit, Alchemie, Magie und Heilkunst inklusive. Ein Adept der Elite-Religion wurde durch Initiationsriten in deren Geheimnisse eingeweiht.

Dafür gab es besondere Kultstätten, man denke an die großen Tempel von Karnak und Luxor. Was bei diesen Mysterien-Kulten genau abgelaufen ist, weiß man bis heute nicht genau, es herrschte ein Schweige-Gebot für die Teilnehmer. Aber schon antike Autoren (Apuleius) mutmaßten, das Ganze sei so feierlich wie lebensgefährlich gewesen. Die Aufnahme-Riten der Freimaurer sind vermutlich harmloser, meint der Autor. Aber Verschwiegenheit ist auch eine Freimaurer-Tugend. Genauso wie die Vorliebe für Elite, Weisheit und Geheimnis.

Viele Intellektuelle des 18. und 19. Jahrhunderts hingen der Freimaurerei an. Deshalb zeigt sich auch die Kunst dieser Epoche fasziniert von der Kultur des Pharaonenreichs. Mozart zum Beispiel war Mitglied der Wiener Loge "Zur Wohltätigkeit". Seine "Zauberflöte" spielt nicht nur in ägyptischen Kulissen, sondern ihr Held Tamino erfährt auch eine Initiation nach ägyptischem Vorbild: zuerst Reinigung von Vorurteilen und Leidenschaften durch verschiedene Situationen der Prüfung, dann Aufklärung und Erleuchtung.

Auch in Schillers Dichtung und Ästhetik macht Assmann ägyptische Einflüsse aus. Dessen Konzeption des Erhabenen stehe im Gegensatz zum gängigen Rationalismus seiner Zeit, sie sei am Verhältnis der Ägypter zu ihren Göttern gebildet. Denn die Ägypter standen mit ihren Himmlischen niemals "auf du und du", sondern empfanden sie als unberechenbar, geheimnisvoll und übermächtig. Laut Schiller (und das ist "ägyptisch", meint der Autor) ist der "heilige Schauder" das einzig angemessene Verhältnis zu erhabenen Gegenständen, denn das Erhabene "ereignet sich nur in der Konfrontation zwischen dem Furchtbaren und der standhaften Seele."

Jan Assmann kann schreiben, das ist bekannt. Um sein neuestes Buch mit Genuss zu lesen, sollte man allerdings ein paar Voraussetzungen mitbringen : Grundkenntnisse über jüdische und christliche Religion, auch über die Götterwelt der Ägypter. Das Buch ist nämlich aus Vorlesungen entstanden, die Assmann in Essen gehalten hat vor Kulturwissenschaftlern. Verständlich, dass er nicht beim "Urschleim" angefangen hat.

Rezensiert von Susanne Mack

Jan Assmann: Erinnertes Ägypten. Pharaonische Motive in der europäischen Religions-und Geistesgeschichte
Kadmos Verlag Berlin
200 Seiten. 16,90 Euro