"Der Einfluss der Sagas ist in der Literatur zu sehen"

Halldór Gudmundsson im Gespräch mit Britta Bürger |
Halldór Gudmundsson bezeichnet die isländische Literatur als "direkt drauflos, objektiv, klar, spannend erzählt". Beeinflusst sei diese Schreibweise von den isländischen Sagas. Auch wenn Island noch auf einen Schlüsselroman zum Finanzcrash warte, sei bereits die kritische Öffentlichkeit erstarkt.
Britta Bürger: "Wir sind alle Isländer", so heißt das aktuelle Buch von Halldór Gudmundsson, in dem der Verleger und Autor aus Reykjavík seine Landsleute zum Leben in Zeiten der großen Finanzkrise befragt hat. Zuvor hat er eine 800-Seiten-Biografie über den Nationaldichter Halldór Laxness geschrieben, Islands einzigen Literaturnobelpreisträger, und ab heute rückt Halldór Gudmundsson auf der Frankfurter Buchmesse das kleine Gastland Island als große Lesenation in den Mittelpunkt - was wir auch im folgenden Gespräch tun werden. Herr Gudmundsson, schönen guten Morgen in Frankfurt!

Halldór Gudmundsson: Schönen Tag in Berlin!

Bürger: Island ist durch die Finanzkrise schwer gebeutelt, im Oktober 2008 stand das Land von heute auf morgen schlagartig vor dem Bankrott, und nun sollte man meinen, dass das den empfindlichen Bereich der Kultur besonders rabiat getroffen hat, doch Island scheint Bücher nach wie vor wie Lava auszuspucken. Wie haben Sie selbst, Herr Gudmundsson, als Autor, als Verleger die vergangenen drei Krisenjahre erlebt?

Gudmundsson: Also ich muss schon sagen, wir sind ziemlich glücklich darüber, wie die verschiedenen Regierungen nach dem Zusammenbruch die Kultur gehandhabt haben. Dieses zum Beispiel Projekt, das ich jetzt leite - "Sagenhaftes Island", der Auftritt auf der Frankfurter Buchmesse -, ist um keine Krone gekürzt worden, und dabei war der Vertrag, müssen Sie sich vorstellen, mit der Buchmesse, der wurde im Frühjahr 2008 gemacht, das waren noch Zeiten, da schwammen die Isländer noch in virtuellem Geld aus Amerika. Und dann hätte man ja erwarten können, dass, als im Herbst das Ganze zusammenbrach am 6. bis 8. Oktober 2008, alle isländischen Banken gingen pleite, dass man dann uns kürzen würde, aber das wurde nicht gemacht, und dazu kann man auch fügen, dass die große Konzerthalle in Reykjavík fertig gebaut wurde. Im November 2008 hätte das kein Mensch erwartet. Weil ich die letzten drei Jahre eigentlich mit dieser Arbeit verbracht habe, das vorzubereiten, kann ich mich nicht unglücklich sehen.

Bürger: Hat der Zusammenbruch des Finanzsystems in Island denn auch dazu geführt, neu über so etwas wie eine nationale Identität nachzudenken, wer sind wir, woher kommen wir, wer wollen wir sein?

Gudmundsson: Ich denke, das ist genau richtig formuliert, wenn man bedenkt, der isländische Autor Hallgrímur Helgason hat es glaube ich so formuliert, dass die Isländer dachten, nachdem sie sozusagen 2003 den Höhenflug ergriffen, sie seien der isländischen Geschichte entronnen, wir seien jetzt weg von Isolation, Armut und Vulkanausbrüchen und wie auch immer, und wir schwebten irgendwie ganz oben mit den Superreichen - und dann sind wir plötzlich in einem Roman von Halldór Laxness aufgewacht. Das heißt, wir mussten dann auch nachdenken: Was macht uns zu Isländern? Wir sind jetzt nicht die größten Finanzkapitalisten der Welt, wir sind nicht die besten Banker, die es je gegeben hat, aber was haben wir? Wir haben unsere Geschichten, unsere Literatur, unsere Tradition, und auf die können wir stolz sein. Ich glaube, man hat es sogar an den Bestseller-Listen sehen können, dass die Leute sich rückbesonnen haben und dass sie zum Beispiel ... Also man sieht es im Kleinen und Großen: Zum Beispiel verkauften sich haufenweise Bücher über isländische Strickware oder altertümliche Kochbücher über isländisches Essen, und es verkaufte sich auch, stellen Sie sich das mal vor, fünf Wochen auf Platz eins der Bestseller-Liste 2010 war der Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission zur Finanzkrise, 2000 Seiten in neun Bänden. Die Leute wollten sich wirklich informieren: Was ist passiert und was haben wir? Welche Identität haben wir, worauf können wir zurückgreifen?

Bürger: Island ist eine Lesenation, das stellt man sich dann immer so lauschig vor, wie die Menschen eingemummelt bei Kerzen und Tee im Dunkeln zu Hause sitzen und in den alten Sagen schmökern. Wie viel hat das Bild aber jetzt tatsächlich mit der Realität zu tun? Sie selbst haben Island als Versuchslabor des internationalen Finanzkapitalismus beschrieben und damit ja eine Lebensform benannt, die längst abgerückt war von alten Traditionen. Jetzt beschreiben Sie wieder so eine Rückbesinnung darauf. Ist das nicht vor allem ein Mythos?

Gudmundsson: Teilweise ist es doch so, also es ist immer noch so und das wurde letztes Jahr noch mal bewiesen: Die Isländer kaufen pro Kopf im Jahr acht Bücher, das ist glaube ich doppelt so viel wie in den nordischen Ländern. Ich weiß jetzt nicht die genaue Zahl für Deutschland. Ich weiß jetzt nicht, was sie mit diesen Büchern alles anstellen, aber auf jeden Fall: Der Buchkonsum, wenn man es so nennen kann, ist sehr hoch. Und das lebt weiter in uns, obwohl es natürlich, wie Sie auch sagen, längst eine sehr weit entwickelte westliche Hightech-Gesellschaft geworden ist. Aber ich denke, man sollte nicht vergessen, Sie sagten zu allem Anfang, Island sei sehr kleine Insel - das ist jetzt nicht richtig, es ist eigentlich eine eher große Insel, aber es wohnen sehr wenige Leute da.

Bürger: Ja, dünn besiedelt, 320.000, eine mitteldeutsche Kleinstadt.

Gudmundsson: Ja, Bielefeld wird immer genannt, und dann erwähnt man, dass es dort doch 40 Verlage gibt und so weiter oder 400 Autoren. Aber wir sind ein bewohnter Rand, in der Mitte ist die größte Wildnis Europas, und das gibt natürlich ein anderes Erlebnis, ein anderes Gefühl, da zu wohnen als in den Großstädten von Mitteleuropa. Also der Mythos wird natürlich immer auch gepflegt und das tut man selbstverständlich bei so einem Gastlandauftritt, aber es ist auch viel Wahres daran, es viel Wahres an dieser Verbindung zur Natur, weil sie einfach um die Ecke ist. Ich meine, wenn ich gut gelaunt bin eines schönen Sonntagmorgens, dann fahre ich mit einem alten Jeep ins Hochland und zwei Stunden sehe ich nichts, was an die Menschen erinnert, und sehe doch weit.

Bürger: Der Verleger, Autor und Literaturwissenschaftler Halldór Gudmundsson ist uns hier im Deutschlandradio Kultur zugeschaltet von der heute beginnenden Frankfurter Buchmesse, wo er seine Heimat Island als diesjähriges Gastland präsentiert. Herr Gudmundsson, Sie selbst haben einen Teil Ihrer Kindheit in Deutschland verbracht, darum sprechen Sie auch so ausgezeichnet Deutsch. Sie sind dennoch mit den isländischen Sagen aufgewachsen. Was ziehen Sie für sich heraus aus diesen mittelalterlichen Texten?

Gudmundsson: Ich glaube, was einen immer wieder begeistert bei den Sagas - und Sie müssen bedenken, also ich ... wie alle isländischen Leser und Autoren bin ich auch zeitweise von ihm abgerückt. In meinem Studium, da konnte ich mir nicht vorstellen, jetzt noch weiter mit den Sagas gepeinigt zu werden wie im Gymnasium. Ich wollte weg von diesen Sachen, ich wollte moderne europäische Literatur studieren. Und dann kommen sie immer wieder zu einem zurück, und das ist glaube ich besonders die wunderbar ironische, direkte Erzählweise, also kein Gefühlskitsch, sondern einfach direkt drauflos, objektiv, klar, spannend erzählt. Das ist eine klassische Form des Geschichtenerzählens, die immer wieder begeistert.

Bürger: Und ist das ein Zugriff, mit dem auch gegenwärtige Stoffe jetzt behandelt werden, dieser direkte Zugriff, den Sie beschreiben, zum Beispiel jetzt in den neuen Büchern, die erschienen sind und auf die Finanzkrise eingehen?

Gudmundsson: Teilweise schon, aber man kann ja ... Längst hat die isländische Literatur eine Breite, wo man nicht so verallgemeinern kann, aber ich glaube, das Erzählende ist immer mit dabei, und auch ... Ich glaube, Laxness hat es irgendwann mal so formuliert: Die Sagas haben uns von viel Gefühlskitsch befreit, einfach weil sie nie dafür Raum lassen. Und es gibt viele, wenn man so sagen kann, ... Dieser Einfluss, den gibt es überall in der Literatur zu sehen, ob sich die Autoren dem jetzt immer bewusst sind oder nicht.

Bürger: Und in welcher Weise greifen die Autoren jetzt die Umbrüche der vergangenen drei Jahre auf? Gibt es so was wie einen Schlüsselroman zum Finanzcrash?

Gudmundsson: Ich glaube, wir warten noch so auf den 900 Seiten dicken Wälzer über den Finanzcrash, aber es gibt schon Bücher, es gab schon Bücher, die eigentlich zeitgleich mit dem Crash herauskamen, die etwas von dem Unbehagen der Autoren mit der Entwicklung der letzten Jahre zeigen, ich meine, ein junger Autor wie Steinar Bragi mit seinem Roman "Frauen" zeigt das. Es gibt auch ein kleines Buch von einem jungen Mann, der in einer Bank arbeitet und das "Bankster" heißt, eigentlich sehr bezeichnend. Noch warten wir auf die großen Würfe, weil die Literatur da sich immer etwas mehr Zeit lassen muss. Aber ich glaube, diese Rückbesinnung und auch einfach die kritische Öffentlichkeit ist stärker geworden. Man kann auch an ein Sachbuch denken wie das Buch von Andri Snaer Magnason "Traumland", das ursprünglich vor dem Crash erschien, aber doch schon zeigte, dass die Entwicklung für uns sehr schief geraten war.

Bürger: Das heißt?

Gudmundsson: Das heißt, dass wir mit der Natur nicht richtig umgegangen sind, das war sozusagen sein Anliegen. Wir haben uns immer einfallen lassen, wenn uns Geld fehlte und wenn irgendwas nicht ... wenn wir uns weiterentwickeln wollen, dann bauen wir noch ein riesiges Energiekraftwerk und verkaufen die gesamte Energie an eine große Aluminiumfabrik. Das ist sozusagen der einfachste Weg, unsere Energie zu verkaufen, und es ist leicht, sie zu vermarkten, denn es ist ja eine Erneuerbare Energie zum großen Teil. Und Andri Snaer hat bewiesen, wie falsch das sein kann und wie schlecht wir mit unseren Ressourcen umgegangen sind, denn was wir haben, ist halt nur diese Energie. Wir haben keine Bodenschätze. Wir haben den Fisch und wir haben die heißen Quellen und die Wasserfälle, die so benutzt werden können, aber mit Respekt und Vorsicht, und das zeigt sein Buch sehr gut.

Bürger: Island zwischen Tradition und Moderne, der Verleger Halldór Gudmundsson organisiert den Gastauftritt seines Landes bei der heute beginnenden Frankfurter Buchmesse. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch, Herr Gudmundsson!

Gudmundsson: Gleichfalls!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.