Der empathische Mensch kann Kriege verhindern

Moderation: Joachim Scholl |
Liebe und Wärme sind das Wichtigste, was der Mensch braucht, um ein positives Verhältnis zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen zu entwickeln, sagt der Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen. Das Bekenntnis zur Menschlichkeit hält er für den Schlüssel zur Bewahrung der Demokratie.
Joachim Scholl: Arno Gruen wurde 1923 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren, entkam mit seiner Familie gottlob den Nazis, wurde in den USA zum Psychoanalytiker, seit 1979 lebt und praktiziert Arno Gruen in Zürich.

Seine zahlreichen, auch preisgekrönten Bücher und Schriften sind in aller Welt verbreitet, jetzt ist sein jüngstes Buch erschienen - "Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden". Aus einem Studio in Zürich ist uns Arno Gruen nun zugeschaltet. Willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Arno Gruen: Guten Tag!

Scholl: Es gibt eine Anekdote aus Ihrer Schulzeit Ende der 1920er-Jahre, Herr Gruen, die Sie oft erzählt haben: Eine Lehrerin ist mit der Klasse von 30 Schülern und ihrer Disziplin unzufrieden, sucht einen Groschen aus dem Portemonnaie und sagt, einer von euch geht jetzt einen Rohrstock kaufen, wer meldet sich freiwillig? 29 Finger gehen in die Höhe, nur der Finger des kleinen Arno Gruen bleibt unten. Wurde Ihnen damals mit sechs Jahren zum ersten Mal klar, dass etwas nicht stimmt in unserer Welt?

Gruen: Es war komisch für mich, nämlich: Freiwillig meldeten sich fast alle, also 29, um einen Rohrstock zu kaufen, mit dem sie selber geschlagen werden würden. Und das Interessante ist, wir lebten ja in einer Arbeitergegend und die meisten dieser Jungs, deren Eltern waren entweder Kommunisten oder Sozialisten. Das schien gar keinen Unterschied zu machen. Die waren alle gut gehorsam.

Scholl: Ihr neues Buch ist ganz diesem Komplex gewidmet, Herr Gruen, der verkümmerten Empfindungsfähigkeit unserer Kultur.

Gruen: Genau.

Scholl: Und daran sei unser abstrakt kognitives Denken schuld, wie Sie es nennen. Man kann es jetzt vielleicht nicht mit dieser Kinderszene direkt in Verbindung bringen, aber auf gewisse Weise schon: Warum hat sich denn Ihrer Meinung nach unsere westliche Zivilisation, muss man auch sagen, in diese Richtung entwickelt?

Gruen: Na ja, das ist schon eine Entwicklung, die vielleicht 10.000 Jahre alt ist, im Sinne von Entwicklung der großen Zivilisationen. Das meint, irgendjemand beherrschte andere. Und um diese Beherrschung legitim zu machen, musste man Gehorsam aufbauen gegenüber der Autorität. Und so passierte es dann. Ich denke, was der portugiesische Schriftsteller José Saramago..., der sprach einmal in einem Interview über sein Buch "Die Stadt der Blinden", für das er 1998 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Und er sagte: Ich wollte zeigen, dass unsere aufgeklärte Moral bedroht ist. Wir können sehen, aber sehen nicht. Wir leben mit dem alltäglichen Horror und haben gelernt wegzuschauen. Und darum geht es.

Wir haben gelernt wegzuschauen, weil wir sind verheddert, könnte man sagen, in abstrakten Arten des Denkens, entfernt davon, was wir emotionell, empathisch wahrnehmen könnten. Und deswegen leben wir in einer Wirklichkeit, die nicht wirklich ist.

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Wir brauchen ja nur mal all die Kriege sehen, die uns umgeben, die für uns all diese letzten Tausenden von Jahren charakteristisch sind, für diese sogenannten Hochkulturen.

Scholl: Sie kommen in Ihrem Buch auf diesem Weg genau auch zu dieser Frage, nicht nur, warum Kriege entstehen, sondern wie das Böse im Menschen entsteht. Adolf Hitler ist hier Ihr fataler Zeuge der Zeitgeschichte. Sie nennen ihn einen von Angst befallenen Mann. Was können Sie denn aus dieser monströsen Figur für Ihre These herauslesen?

Gruen: Na ja, er verneinte ja, was er wirklich fühlte. Nämlich wenn sein Vater ihn mit einer nassen Rosspeitsche schlug, dann wurde er plötzlich ganz stolz darauf, weil er konnte das überleben. Und er verneinte Angst, er verneinte Leid, er verneinte Schmerz. Und deswegen war seine Idee, eine Jugend zu erziehen, die keine Gefühle für Schmerz und Angst hatte. Und er versuchte dann, Kinder zu erziehen auf eine Art, sodass sie keine empathischen Gefühle hatten.

Wie Sie wissen, in diesen Jugendheimen, die von den Nazis entwickelt wurden, Kinder lebten da … Ihnen wurde zum Beispiel eine Katze gegeben oder ein Hund, mit der sie ganz natürlich etwas Liebevolles entwickelten. Und dann, eines Tages, wurde ihnen ein Messer gegeben und sie mussten dieses Tierchen töten. Die, die es nicht tun konnten, wurden rausgeworfen. Und die, die damit lebten, das waren ja die Menschen, die ihre wahre Angst und ihre empathischen Gefühl verdrängen mussten, um dann auf abstrakte Art zu leben im Sinne von einem Heroismus, einem Heldentum, der ja auch mit abstrakter Verneinung der Angst und der Schmerzen und des Leidens zu tun hat.

Scholl: Sie haben eine Zeit lang in Großbritannien gearbeitet, Herr Gruen, mit Mördern in Strafanstalten, wie ich gelesen habe, mit bösen, überzeugten Gewalttätern, so beschreiben Sie diese Häftlinge selbst. Was hat Sie denn die Erfahrung mit diesen Männern gelehrt?

Gruen: Ja, ich arbeitete damals mit Murray Cox, das war ein wunderbarer Psychiater, Analytiker und Dichter. Cox entwickelte eine Art, diese Männer und Frauen, dass sie mitmachten in Shakespearean Dramen, die ja voller Emotionen, voller Gewalt und voller Leid und voller Schmerz sind. Und das Bemerkenswerte war, dann fingen sie an, den Schmerz, den sie ihren Opfern zugefügt haben, zu erleben. Das meint, wir haben es in uns, von Geburt an, empathisch zu leben und zu empfinden.

Scholl: Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden, dafür plädiert der Psychoanalytiker Arno Gruen. Er ist mit uns hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch. Wenn ich Ihr Bild des Motors mal aufgreifen darf, Herr Gruen, er läuft nun leider jetzt schon seit Tausenden von Jahren und schnurrt eigentlich immer präziser und immer perfekter in unserer hoch technisierten Welt. Die negativen Prägungen, wie Sie sie beschreiben, sind tief in unserem Bewusstsein verankert, in unserem Denken, wie kommen wir denn da überhaupt wieder raus?

Gruen: Es hat immer schon Menschen gegeben, die ihre Verbundenheit der Empathie, die immer da existierten. Es ist interessant, dass dieser General Kirk, das war ein englischer Psychiater und General, der im Zweiten Weltkrieg mit ungefähr 2000 deutschen Kriegsgefangenen arbeitete. Und von diesen waren fast 20 Prozent keine Nazis, und sogar in der Armee selber haben sie immer wieder Dinge getan, um ihre Menschlichkeit durchzusetzen und gegen das Regime zu arbeiten.

Dann waren da auch 20 Prozent auf der anderen Seite dieser Skala von Menschlichkeit, die unmenschlich waren. Und die konnten nicht akzeptieren Menschlichkeit, Empathie, Mitgefühl und Zärtlichkeit. Das waren alles Leute, die vollkommen von autoritären Familiensituationen erzogen waren, die auch das Weibliche ihrer Mütter und die Zärtlichkeit, die diese ihnen hätten geben können, verachteten.

Und dann natürlich, da war die Gruppe dazwischen, ungefähr 40 Prozent, die waren nicht Nazis, aber sie waren patriotisch. Die hatten beide von diesen Erlebnissen, etwas Empathisches in ihrer Kindheit, aber auch das Autoritäre.

Und das Wichtige vom Politischen her ist, dass diese 20 Prozent, die ja doch tief verbunden sind mit Empathischem, die müssen darauf bestehen und darüber reden und sich äußern, damit man die Leute in dieser 40-Prozent-Gruppe erreichen kann. So ist es politisch wichtig, dass wir das Empathische, das Menschliche betonen. Leid, Schmerz können auf diese Weise die Basis einer wahren Kraft bekommen.

Scholl: Sie gehen ja auch durchaus so weit in Ihren Überlegungen, dass unsere Demokratie auf Dauer mit jenem abstrakt-kognitiven Denken nicht zu halten sei. Vor über zehn Jahren erschien schon Ihr Buch "Der Kampf um die Demokratie" und es nimmt Gedanken und Ansätze vorweg, die Sie jetzt formulieren, Herr Gruen. Hat sich denn seit 2002 für Sie irgendetwas zum Positiven verändert, zum Guten entwickelt, sehen Sie Anzeichen?

Gruen: Ja, ich denke, dass immer mehr Menschen darüber schreiben, dass es eine emotionale Intelligenz gibt, die ganz anders ist als das Intellektuelle. Und ich meine, da war ja diese und ist ja immer noch diese Bewegung in Amerika, die damit anfängt, dass Leute besetzten Gegenden wie die Wall Street, dass sie darauf bestanden, dass Menschen zu ihrer Menschlichkeit zurückkommen sollten. So, dass diese Bewegungen überall sind, dass das so ist, ist ja hoffnungsvoll.

Scholl: Demnächst feiern Sie Ihren 90. Geburtstag, Herr Gruen, und ein Zeitgenosse von Ihnen, der jüngst verstorbene Stéphane Hessel, hat in einem ähnlichen Alter wie sie große internationale Zustimmung für sein Traktat "Empört Euch!" erhalten. Sehen Sie sich vielleicht so im Einklang mit Stéphane Hessel, als steinalte Weisen, die die Welt noch mal tüchtig Mores lehren?

Gruen: Ich fühle mich gar nicht so alt. Und ich denke, er fühlte sich auch nicht alt. Das ist ein wunderbares Buch und dass Menschen es kaufen, Millionen, zeigt ja, dass Menschen bereit sind, darauf einzugehen. Und ich habe diese Hoffnung – ich weiß nicht, ob, so wie ich schreibe, so direkt ist wie er, er hatte diese fantastische Fähigkeit, das zu tun –, da kommt auch ein Buch von mir heraus, das genauer auf diese Problematik des Gehorsams zielt und wie uns das eigentlich kaputt macht. Vielleicht wird das etwas Ähnliches werden wie "Empört Euch!".

Scholl: Das wünschen Sie sich also noch zu vollenden?

Gruen: Ja!

Scholl: Herzlichen Dank, Arno Gruen, schön, dass Sie bei uns waren!

Gruen: Danke!

Scholl: Alles Gute für Sie, Ihre Arbeit und das neue Buch, "Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden", jetzt im Verlag Klett-Cotta erschienen mit 207 Seiten zum Preis von 19,95 Euro.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

"Links zum Thema bei dradio.de:"

Mit Leidenschaft und Empathie
Monika Schiffer: "Arno Gruen, Jenseits des Wahnsinns der Normalität, Biografie", Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008, 250 Seiten

Warum wir keine Egoisten sind
Die Versuche von Tania Singer zur Empathie

Der selbstlose Mensch
Stefan Klein: "Der Sinn des Gebens", S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2010, 288 Seiten

Auf dem Weg zu einer empathischen Zivilisation
Rifkin: Haiti Beispiel für globales Zusammengehörigkeitsgefühl

Brutalität und Erbarmen
Henning Ritter: "Die Schreie der Verwundeten - Versuch über die Grausamkeit", C. H. Beck, München 2013, 190 Seiten

Die reine Moral
Mitgefühl aus dem Labor

Das Mitgefühl als vernachlässigte Tugend
Jesper Juul, Peter Høeg u.a.: "Miteinander - Wie Empathie Kinder stark macht", Beltz Verlag, Weinheim 2012, 159 Seiten

Vom Denken, Handeln und Empfinden
Giacomo Rizzolatti und Corrado Sinigaglia: "Empathie und Spiegelneurone. Die biologische Basis des Mitgefühls", Suhrkamp Verlag, 299 Seiten