Der Erzähler als Weltenschöpfer
Raffinierte Täuschung: Nat Tate hat es nie gegeben. Trotzdem hat der Romancier William Boyd nun eine Biografie dieser fiktiven Künstlerfigur geschrieben.
Die kurze Biografie eines kurzen Künstlerlebens: der 1928 geborene, früh verwaiste Nat Tate wuchs bei wohlhabenden Pflegeeltern auf, wurde ohne geregelte Ausbildung Maler mit einigem Erfolg, verkehrte in den New Yorker Künstlerkreisen der 50er-Jahre, ohne zur damals aktuellen Schule des abstrakten Expressionismus zu zählen.
Zu seinen wichtigsten Werken zählt eine Serie von 200 Zeichnungen zu Hart Cranes großem Gedicht "The Bridge". Einer seiner guten Freunde, vielleicht eine Affäre, ist der Lyriker Frank O’Hara; gefördert wurde er von der Galeristin Janet Felzer.
Vor seinem Selbstmord im Jahr 1960 – er stürzte sich von der Staten Island Ferry ins eiskalte Meer - vernichtete er fast sein gesamtes Werk, das er zuvor von den Besitzern zurückgekauft oder zur Überarbeitung ausgeliehen hatte. Man vermutet, dass die persönliche Bekanntschaft mit dem großen kubistischen Maler Georges Braque ihm seine eigenen künstlerischen Grenzen vor Augen geführt hatte. Es könnte aber auch eine persönliche Erschütterung oder Depression die Ursache gewesen sein.
Tatsächlich war Nat Tate jemand, den kaum jemand wirklich gekannt zu haben scheint; der Biograf schreibt einmal, er sei jemand gewesen, "der nichts zu sagen hat".
Kein Wunder. Denn Nat Tate hat es nie gegeben. Darum wurde auch seine Leiche niemals gefunden. Das gehört zu den vielen Hinweisen auf die Fiktivität der Figur, die der vorgebliche Biograf und tatsächliche Romancier Boyd raffiniert im Text versteckt. Die angeführten schriftlichen Zeugnisse über Nat Tate sind erfunden – einer der Kronzeugen für Nat Tates Leben, der kurzfristig berühmte Autor, Kriegsberichterstatter, Kunsthändler und Tagebuchschreiber Logan Montstuart, ist die erfundene Hauptfigur in William Boyds Roman "Eines Menschen Herz" (2005), der weitgehend aus Montstuarts Tagebüchern besteht.
Boyds Texte beziehen sich also aufeinander, es entsteht ein romanübergreifendes Universum fiktiver Menschen, deren Leben miteinander verwoben sind. Der Erzähler als Weltenschöpfer ...
Boyd liebt die Täuschung: sein erstes Experiment damit war die vorgebliche Autobiografie eines Regisseurs, "Die neuen Bekenntnisse". Mit "Nat Tate" ging er noch einen Schritt weiter, indem er zusammen mit David Bowie 1998 zur Buchpräsentation einlud und viele Besucher tatsächlich der Ansicht waren, sie hätten Tate und sein Werk gekannt.
Die "Biografie" erzeugt Effekte des Authentischen durch schriftliche und mündliche "Belege", durch Fotos von historische Zeitgenossen, die Tate gekannt haben soll (z.B. die Maler Franz Kline, Hans Hofmann - bei dem Tate gelernt haben soll - und Georges Braque oder die Dichter Frank O’Hara und Hart Crane), durch einen nüchternen, beschreibenden Stil, der objektiv zu sein vorgibt, und schließlich durch die vielen Reflexionen des Biografen, der für das, was er nicht weiß (und von einer realen Person tatsächlich nicht wissen könnte), unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten vorschlägt.
Diese Charakteristika des Erzählens erinnern entfernt an den opulenteren, im 18. Jahrhundert angesiedelten "Marbot" von Wolfgang Hildesheimer (1981), der ein Vexierspiel mit der psychoanalytischen Kunstkritik spielt, die seine Figur, der gescheiterte Künstler Andrew Marbot, erfunden haben soll.
Besprochen von Gertrud Lehnert
William Boyd: Nat Tate. Ein amerikanischer Künstler 1928-1960
Aus dem Englischen von Chris Hirte
Berlin Verlag, Berlin 2010
78 Seiten, 24 Euro
Zu seinen wichtigsten Werken zählt eine Serie von 200 Zeichnungen zu Hart Cranes großem Gedicht "The Bridge". Einer seiner guten Freunde, vielleicht eine Affäre, ist der Lyriker Frank O’Hara; gefördert wurde er von der Galeristin Janet Felzer.
Vor seinem Selbstmord im Jahr 1960 – er stürzte sich von der Staten Island Ferry ins eiskalte Meer - vernichtete er fast sein gesamtes Werk, das er zuvor von den Besitzern zurückgekauft oder zur Überarbeitung ausgeliehen hatte. Man vermutet, dass die persönliche Bekanntschaft mit dem großen kubistischen Maler Georges Braque ihm seine eigenen künstlerischen Grenzen vor Augen geführt hatte. Es könnte aber auch eine persönliche Erschütterung oder Depression die Ursache gewesen sein.
Tatsächlich war Nat Tate jemand, den kaum jemand wirklich gekannt zu haben scheint; der Biograf schreibt einmal, er sei jemand gewesen, "der nichts zu sagen hat".
Kein Wunder. Denn Nat Tate hat es nie gegeben. Darum wurde auch seine Leiche niemals gefunden. Das gehört zu den vielen Hinweisen auf die Fiktivität der Figur, die der vorgebliche Biograf und tatsächliche Romancier Boyd raffiniert im Text versteckt. Die angeführten schriftlichen Zeugnisse über Nat Tate sind erfunden – einer der Kronzeugen für Nat Tates Leben, der kurzfristig berühmte Autor, Kriegsberichterstatter, Kunsthändler und Tagebuchschreiber Logan Montstuart, ist die erfundene Hauptfigur in William Boyds Roman "Eines Menschen Herz" (2005), der weitgehend aus Montstuarts Tagebüchern besteht.
Boyds Texte beziehen sich also aufeinander, es entsteht ein romanübergreifendes Universum fiktiver Menschen, deren Leben miteinander verwoben sind. Der Erzähler als Weltenschöpfer ...
Boyd liebt die Täuschung: sein erstes Experiment damit war die vorgebliche Autobiografie eines Regisseurs, "Die neuen Bekenntnisse". Mit "Nat Tate" ging er noch einen Schritt weiter, indem er zusammen mit David Bowie 1998 zur Buchpräsentation einlud und viele Besucher tatsächlich der Ansicht waren, sie hätten Tate und sein Werk gekannt.
Die "Biografie" erzeugt Effekte des Authentischen durch schriftliche und mündliche "Belege", durch Fotos von historische Zeitgenossen, die Tate gekannt haben soll (z.B. die Maler Franz Kline, Hans Hofmann - bei dem Tate gelernt haben soll - und Georges Braque oder die Dichter Frank O’Hara und Hart Crane), durch einen nüchternen, beschreibenden Stil, der objektiv zu sein vorgibt, und schließlich durch die vielen Reflexionen des Biografen, der für das, was er nicht weiß (und von einer realen Person tatsächlich nicht wissen könnte), unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten vorschlägt.
Diese Charakteristika des Erzählens erinnern entfernt an den opulenteren, im 18. Jahrhundert angesiedelten "Marbot" von Wolfgang Hildesheimer (1981), der ein Vexierspiel mit der psychoanalytischen Kunstkritik spielt, die seine Figur, der gescheiterte Künstler Andrew Marbot, erfunden haben soll.
Besprochen von Gertrud Lehnert
William Boyd: Nat Tate. Ein amerikanischer Künstler 1928-1960
Aus dem Englischen von Chris Hirte
Berlin Verlag, Berlin 2010
78 Seiten, 24 Euro