Martin Tschechne fährt Fahrrad. Zumindest, wenn es nicht allzu heftig stürmt und schüttet – was in seinem Wohnort Hamburg allerdings vorkommt. Der Journalist und promovierte Psychologe wurde mit dem Medienpreis der Deutschen Gesellschaft für Psychologie DGPs ausgezeichnet. Zuvor erschien seine Biografie des Begabungsforschers William Stern (Verlag Ellert & Richter, 2010).
Weil niemand Zweifel haben wollte
Niemand weiß, was den Reporter Claas Relotius geritten hat, immer weiter Geschichten zu faken, als er längst schon Spiegel-Redakteur war. Vielleicht wollten seine Auftraggeber ein Stück weit belogen werden, mutmaßt der Journalist Martin Tschechne.
Tief durchatmen. Die feuchten Handflächen schnell noch am Hosenbein abreiben, den Frosch im Hals wegräuspern, dann: die Klinke drücken. Claas Relotius weiß, was nun kommt. Die 18. Etage im Hamburger Spiegel-Haus, das Büro der Chefredaktion. Vier Männer und zwei Frauen erwarten ihn. In wenigen Augenblicken wird der junge Reporter das Ende einer geradezu unglaublichen Karriere erreicht und seinen ganzen Berufsstand in eine Sinnkrise gestürzt haben. Relotius ist 33 Jahre alt. Als er den weiten, offenen Raum betritt, huschen ihm die Rolling Stones durch den Kopf: It’s all over now…
So beginnen Reportagen, die ihr Publikum von der ersten Zeile an fesseln wollen: mit einem szenischen Einstieg. Es ist eine Technik. Der Reporter lenkt den Blick derer, die ihm folgen – auf Menschen, Situationen, eine Atmosphäre, auf das entscheidende Detail. Claas Relotius hat dieses Handwerk beherrscht, viele sagen: bis zur Perfektion. Wer die Preise für seine Reportagen oder seine Auszeichnungen als Reporter zu zählen versucht, dem könnte schwindelig werden.
Aber Relotius hat seine Macht als Erzähler missbraucht. Hat Personen frei erfunden, ihnen Zitate in den Mund gelegt und ganze Städte vom Flachland in die Berge versetzt, wenn er meinte, seiner Inszenierung damit eine bessere Bühne zu bereiten.
Eine Ahnung von Allmacht
Sein Hauptmotiv sei die Festanstellung gewesen, meint einer seiner älteren Kollegen. Die Branche gilt als Haifischbecken. Die Konkurrenz ist mörderisch, auch durch andere, Medien, denen Berufsethos und Moral wenig bis gar nichts gelten. Aber warum er weiter getäuscht und getrickst hat, als er seinen Vertrag längst hatte? Vielleicht einfach, weil es toll ist, so jung und schon ein Star zu sein. Oder auch, weil eine Ahnung von Allmacht darin steckt, eine Welt nach eigenen Vorstellungen und Maßstäben zu formen. Die Unterscheidung zwischen dem Reporter, also einem, der etwas nach Hause bringt, und dem Autor, der etwas selbst erschafft, ist schwammig. Und groß die Versuchung, das, was da nach Hause gebracht wird, durch eigenes Zutun aufzuwerten, damit auch sich selbst Bedeutung zu verleihen. Der Reporter Relotius, das gibt der Spiegel in offener Reue zu, habe dem verführerischen Effet seiner Geschichten ihre Wahrhaftigkeit geopfert.
Der heroische Einzelkämpfer ist ein Auslaufmodell
Warum ihm sieben Jahre lang niemand auf die Schliche gekommen ist? Vielleicht, weil niemand Zweifel haben wollte. Die Geschichten waren ja toll. Vielleicht aber auch, weil die Wirklichkeit zu hakelig geworden ist. Der heroische Einzelkämpfer auf der Suche nach der ganzen Wahrheit ist ein Auslaufmodell. Sein Narrativ entspricht nicht mehr einer Zeit der hoch komplexen, extrem flüchtigen Zusammenhänge. Panama-Papers, Cum-Ex-Geschäfte, Info-Krieg oder Steuerbetrug in globalem Maßstab – das alles lässt sich nicht abbilden in dem ergreifenden Schicksal eines Waisenkindes im zerstörten Aleppo oder eines ebenso frei erfundenen Folteropfers in Guantanamo.
Branche in ihrem Selbstverständnis erschüttert
Aufgeflogen ist die Affäre, weil ein Kollege einen Zipfel Unwahrheit in einer der Reportagen entdeckt und daran gezogen hat. "Das wunderbare Misstrauen des Juan Moreno", jubelte daraufhin der stellvertretende Chefredakteur Dirk Kurbjuweit in seiner Kolumne am nächsten Morgen – und verfiel damit in die gleiche Erzähltechnik, mit der sein heißsporniger Kollege gerade die ganze Branche in ihrem Selbstverständnis erschüttert und damit vielleicht sogar so etwas wie eine Zeitenwende im Journalismus angemahnt hatte: Ein Phänomen wird verkürzt auf wenige Protagonisten, das Drama hat seinen Bösewicht und seinen Helden. Als ob die Welt so einfach wäre.
Die Methoden funktionieren nach wie vor. Wir wollen es nicht anders: Das eingangs erwähnte Hochhaus des Spiegel hat gar keine 18. Etage. Niemand außer den Beteiligten weiß, wer bei der Hinrichtung dort zugegen war. Und ob dem Delinquenten dabei wirklich ein Song der Stones durch den Kopf ging – das ist reine Erfindung.