Der Fall Eschenau

Von Norbert Steiche · 03.06.2008
Eschenau ist ein kleines Dorf mit rund 190 Einwohnern im unterfränkischen Landkreis Haßberge. Was dort allerdings binnen eines knappen Jahres passiert ist, erinnert erschreckend an das tiefste Mittelalter. Als Kind wurde eine in die USA emigrierte gebürtige Eschenauerin sexuell missbraucht. Nun zeigt sie den Täter an. Statt jedoch Zuspruch und Mitgefühl von den anderen Dorfbewohnern zu erfahren, stellt sich eine Mehrzahl der Dorfbewohner gegen sie.
"Es ist eigentlich nicht, weil ich zurückgekommen bin. Ich war ja im Urlaub hier und hatte nie einen Gedanken irgendetwas irgendwann mal aufzubringen. Hab dann aber erfahren, dass es hier Fälle gibt, wo Kinder belästigt werden und habe auch erfahren, dass es von einer bestimmten Person ist. Und als ich das erfahren habe, wurde mir auf einmal bewusst, dass das ja schon seit 46 Jahren so ist und nicht erst seit Kurzem. Ich habe mich dann endlich verpflichtet gefühlt, dem ein Ende zu setzen."

Nach der Anzeige von Heidi Marks fassen schließlich zwei weitere sexuell missbrauchte Frauen den Mut, die an ihnen begangenen Taten anzuzeigen. Eine davon ist Irmgard Meissner. Über Jahre haben sie geschwiegen. Zum Teil aus Scham aber auch aus Angst vor den Reaktionen:

"Ich hab versucht, Mütter zu warnen, die Kinder in dem bewussten Alter hatten und wo ich wusste, dass der Kontakt etwas enger ist. Ich hatte halt einfach Angst gehabt, dass da wieder was passiert."

Statt Mitgefühl für die Opfer von sexuellem Missbrauch schlägt der Frau aber Unverständnis und zum Teil blanker Hass entgegen. Fast kein Eschenauer aber will sich dazu äußern. Der einzige, der öffentlich redet, ist Horst Hauck. Ein Mann, der sich in der evangelischen Kirche unter anderem als Lektor engagiert.

"Wir haben Unverständnis dafür, dass das jetzt nach Jahrzehnten hochkommt. Die eine Dame, die vergewaltigt worden sein soll, die ist 20 Jahre in das Haus ihres angeblichen Vergewaltigers. Und jetzt auf einmal nach über 30 Jahren kocht die Seele über und man zeigt ihn an. Da haben wir kein Verständnis dafür. Jahrelang, Jahrzehntelang in der Dorfgemeinschaft gewesen und auf einmal diese Kehrtwendung."

Als Kind aber hätte sie niemals den Mut gehabt, ihre Peiniger anzuzeigen, bittet Heidi Marks fast um Verständnis.

"Um Gottes Willen, nein. Um Gottes Willen, nein. Ich erinnere mich, was ich denke war das erste Mal gewesen. Da wurde mir dann hinterher gesagt: Wenn Du was deiner Mama sagst, dann gibt die dich weg, weil die hat ja jetzt ein neues Baby. Da war gerade meine Schwester geboren. Ich war vier Jahre alt, als mir das das erste Mal passierte und es ging zehn, zehn lange Jahre so zu. Dann habe ich das Dorf verlassen. Jetzt sind schon wieder fünf oder sechs Fälle, die da aufgetaucht sind. Da ist mir bewusst worden, dass so ein Mensch nie aufhört, dass das jetzt noch weitergeht, dass die nächsten zehn oder zwanzig Jahre noch Kinder gefährdet sind. Ich habe immer noch Schuldgefühle. Hätte ich etwas sagen sollen. Hätte ich vielleicht noch was verhindern können, aber wie jetzt die Leute reagieren, wäre es ja damals noch schlimmer gewesen, wenn ich was gesagt hätte."

Extreme Einstellungen im Dorf halten sich. Die Aussagen werden radikaler. Eine strafrechtliche Verfolgung der Taten nämlich verurteilt Horst Hauck, der für viele spricht.

"Wenn man nur selbst Staatsanwalt sein will und wenn man selbst Polizei hier spielt und sagt, ich gebe keine Ruhe, bis die hinter Schloss und Riegel sind, dann tun wir uns natürlich schwer damit. Dann können wir sie natürlich nicht mit offenen Armen empfangen. Dann haben sie sich selbst isoliert."

Was Horst Hauck da sagt, wird Realität: Die Missbrauchsopfer werden von den Menschen im Dorf geschnitten und es gibt offene Drohungen. Vor dem Mikrofon möchte sich von Seiten der drangsalierten Familien in dieser Zeit niemand äußern, aus purer Angst vor Konsequenzen im Dorf.

"Bis jetzt hat mich noch niemand angesprochen. Im Großen und Ganzen geht man mir aus dem Weg. Meine Eltern leiden sehr, die wussten ja auch nichts. Ich hätte denen des ja nie, nie denen angetan, wenn ich es nicht richtig gefunden hätte, dass das gestoppt werden muss. Meine Eltern leiden sehr. Mein Vater wurde aus zwei Höfen, einer ist sogar verwandt, rausgeworfen worden liederlich. Und Drohungen höre ich dauernd und ich verstehe das nicht. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Warum begreifen die Leute nicht, dass ihre Kinder gefährdet sind und in meinem spezifischen Fall kann der ja wieder im Dorf erscheinen."

Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Es wird geprüft, welche Vorwürfe vor Gericht angeklagt werden und welche Taten wegen Verjährung strafrechtlich nicht geahndet werden können. In Eschenau aber wird den Missbrauchsopfern überwiegend misstraut. Auf die Frage, in welcher Form man sich denn um die Missbrauchsopfer kümmert, antwortet der Lektor in der evangelischen Kirche.

"Das, was man hier gemacht hat, das sind zwei Familien, die uns ordentlich in Unruhe gebracht haben, die alte Geschichten aufgewärmt haben, das muss erst mal bewiesen werden."

Die Arbeit der Justiz kommt in den folgenden Wochen voran. Der 60-jährige Eschenauer, der sich im Zuge der Ermittlungen auch das Leben nehmen wollte, aber gerettet wurde, kommt nach einem Klinikaufenthalt in Untersuchungshaft. Im Oktober soll der Prozess gegen ihn stattfinden.

Wenige Tage vor der Gerichtsverhandlung wird auf dem Grundstück der Freiwilligen Feuerwehr in Eschenau ein Erntedankfest gefeiert. Fragen, ob und wie sich die Menschen hier in dem kleinen fränkischen Dorf mit nur 190 Einwohnern in den vergangenen fünf Monaten um die Opfer von sexuellem Missbrauch gekümmert haben, bleiben unbeantwortet. Bei einer Umfrage im Dorf will keiner Stellung nehmen.

"Ich sage nichts mehr dazu, ich gebe dazu keine Auskunft, bitte lassen sie uns in Ruhe."
"Uns wäre es das liebste, wenn sie das Dorf verlassen, sie stören unser Fest, weil die Leute sich schon aufgeregt haben."
"Die missbrauchten Frauen fühlen sich von der Dorfgemeinschaft alleine gelassen und suchen vor dem Prozess Ruhe."

Der "Weiße Ring", die bundesweit agierende Organisation für Kriminalitätsopfer, betreut die Frauen. Helmut Will konnte das Vertrauen der Frauen gewinnen.

"Das schlimmste ist wohl für die Opfer, dass angezweifelt wird, dass das, was sie sagen, stimmt. Es hat ja Stimmen gegeben, die sagen: 90 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, sie würden die Unwahrheit sagen, dass tut ihnen natürlich auch sehr weh. In der Öffentlichkeit trauen sich Freunde offenbar nicht Position zu beziehen für die Opfer. Die Opfer, die ich kenne, sind mit der Rolle der Kirche überhaupt nicht zufrieden. Es ist eine völlige Abneigung da, weil die Kirche anfangs auch gesagt hat, das kriegen wir schon, das ist vielleicht auch nicht so schlimm, das könnte man so unter der Hand regeln. Das Vertrauen der Opfer zur Kirche ist im Augenblick nicht sehr groß."

Am 10. Oktober 2007 findet der Prozess gegen den 60-jährigen Eschenauer vor dem Landgericht Bamberg statt. Das Publikumsinteresse ist so groß, dass Platzkarten verteilt werden. Die Justiz hat strenge Sicherheitsvorkehrungen ergriffen. Jeder Zuschauer wird durchsucht. Und auch am Tag des Prozesses wird noch an den Aussagen der Missbrauchsopfer gezweifelt.

"Die Frau, was die losgetreten hat, die hätte erst mal an ihrer Nase ziehen müssen. Wenn, dann gehört es verurteilt, aber da sind Trittbrettfahrer dabei."

Heidi Marks hat das Gefühl, dass sie während des Prozesses eingeschüchtert werden soll. Sie ist zum Prozess erneut aus den USA anreist. Wenige Minuten vor ihrer Aussage vor Gericht wird sie in ein Zeugenzimmer gebeten. Hier wird ihr von einem Gerichtsvollzieher ein Schreiben zugestellt. Der Inhalt: Ihr wird von der Familie desjenigen, der sich im Zuge der Ermittlungen das Leben genommen hat, mit einer Unterlassungsklage gedroht, falls sie bestimmte Dinge aussagt.

"Vielleicht sollte mich das etwas nervös machen. Da bin ich mir nicht sicher, aber ich habe meine Aussage gemacht, ehrlich und was ich weiß aber: Diese Schrift will mich zum Schweigen bringen."

Noch am Abend des ersten Prozesstages fällt ein Urteil. Der 60-jährige Angeklagte wird wegen zweifacher versuchter Vergewaltigung und zweifachen sexuellen Missbrauch von Kindern zu einer viereinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Andere Taten konnten wegen Verjährung strafrechtlich nicht geahndet werden. Heidi Marks nach dem Urteil:

"Ich weiß nicht, was zufrieden sein soll … Viereinhalb Jahre ist relativ. Hier anscheinend ist das eine hohe Strafe. Wo ich herkomme, ist bei einem Erstfall von Kleinkindern das Minimum in den Staaten 25 Jahre. Das ist schon ein Unterschied."

Irmgard Meißner, die auch zu den missbrauchten Eschenauer Frauen gehört:

"Also, ich bin zufrieden. Ich bin einfach froh … es ist auch mein Prozess gewesen. Es ist jetzt doch eine Genugtuung. Und ich denke, die Leute begreifen jetzt im Dorf, dass es gerechtfertigt ist, dass wir die Anzeige gemacht haben, damit wir keine neuen Opfer im Dorf haben und überall und das es eine Aufklärung gibt landesweit."

Eine knappe Woche nach dem Urteil ereignet sich in Eschenau folgender Vorfall: Die Familie des Mannes, der sich im Zuge der Ermittlungen das Leben genommen hat, lädt zu einer Versammlung ins evangelische Gemeindehaus in Eschenau ein. Zwischen 70 und 100 Menschen kommen. Heinz Veauthier, Anwalt der Familie, bezichtigt hier Heidi Marks und andere Missbrauchsopfer der Lüge. Als angeblichen Beweis dafür zitiert er aus Protokollen der Polizei:

"'Irgendwann war ich so passiv dabei, dass er nur noch mit dem Kopf gezuckt hat und ich bin dann zu ihm hin' müssen sie mal überlegen. Jetzt kommt's: 'Ich bin heimlich zu ihm hingeschlichen.' Also, das habe ich noch nie erlebt, dass eine Vergewaltigte heimlich zu dem, der sie vergewaltigt hingeschlichen ist. Das, was beide Frauen bei ihren Aussagen bei der Polizei gesagt haben, ist die Unwahrheit."

Der Rechtsanwalt will mit Zitaten beweisen, dass sich Heidi Marks lediglich am ganzen Dorf rächen will. Ein Großteil der Leute widerspricht nicht. Der Anwalt fordert, dass die Frauen ihre Aussagen bei der Polizei zurücknehmen sollen. Ansonsten drohe ein Ordnungsgeld von 50.000 Euro. Als ein Mann für Heidi Marks Partei ergreift, wird der Anwalt ausfallend und die Zuhörer applaudieren.

"Ich darf Ihnen dazu eines sagen: Das, was ich heute Abend hier gesagt habe, haben Sie offenbar nicht verstanden und Ihnen geht die Sensibilität ab, die man benötigt, mit dem Andenken eines Verstorbenen umzugehen so dass ich ihnen einfach sagen muss: Erbärmlicher wie sie sich hier aufgeführt haben, konnten sie sich nicht aufführen …"

Die Missbrauchsopfer sind nach diesem Abend gelähmt. Heidi Marks kann es nicht glauben.

"Opfer werden oft behandelt, wie ich behandelt werde. Das ist nichts Neues. Aber dass der Hass soweit bleibt, das ist schon etwas ungewöhnlich."

Die Familien der Missbrauchsopfer fühlen sich von neuem verraten. Sie haben jetzt sogar Angst vor Racheakten. Das gilt auch für Beate Gütlein. Sie wurde auch als Kind im Dorf sexuell missbraucht.

"Ich war immer still habe mich zurückgezogen. Aber so wie es momentan läuft … wir werden alle angegriffen. Und am schlimmsten ist es für die Kinder. Stehen früh an der Bushaltestelle, keiner spricht mit ihnen. Du überlegst dir wirklich: Bleibst du hier oder flüchtest du."

Irmgard Meisner fühlt ähnlich. Sie ist eine der Frauen in Eschenau, die den Mut gefasst hatten, nach zum Teil Jahrzehnte langem Schweigen über den an ihnen verübten sexuellen Missbrauch und über Vergewaltigungen zu sprechen. Das Schweigen einer Mehrheit im Dorf empfindet sie als bedrohlich.

"Es hat geheißen, dass wir jetzt warten müssen, dass wir Nägel in den Reifen haben und dass wir mit Steinen beworfen werden. Warum soll sich eine Frau in unserem Alter mit so etwas belasten, wenn es nicht wahr wäre. Dem Martyrium, dem wir uns aussetzen, also, das würde doch keine machen, die irgendwo geisteskrank ist. Und selbst die würde es nicht machen. Unser Ziel ist es, Zeichen zu setzen und keine neuen Opfer mehr mitzuverantworten."

Werner Schneider, bis Anfang Mai 2008 Bürgermeister der Gemeinde Knetzgau, hatte kurz nach dem Urteil gegen den 60-jährigen Eschenauer angekündigt, durch eine Art runden Tisch eine neue Gesprächsatmosphäre schaffen zu wollen. Opferfamilien hätten sich das bereits viel früher gewünscht. Nun aber will Werner Schneider erst noch einmal abwarten. Er wirkt hilflos.

"Angst ... Gut, die haben sie die ganze Zeit schon gehabt. Der Betroffene hat sicher Angst, in welcher Form auch immer, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Leute so unvernünftig sind und gewalttätig werden, das kann ich mir nicht vorstellen."

In der Atmosphäre von Angst und Bedrohung fordern die Missbrauchsopfer, dass Politiker ein Machtwort sprechen. Der unterfränkische Regierungspräsident Paul Beinhofer allerdings sieht von seiner Seite keinen Handlungsbedarf. Auf Anfrage lässt er ausrichten, er wisse, dass sich Haßberge-Landrat Rudolf Handwerker so wörtlich, der Sache bereits angenommen habe. Er wolle dem Handeln des Landrats nicht vorgreifen. Landrat Rudolf Handwerker allerdings sieht keine Veranlassung, als eine Art Moderator in Eschenau zu wirken. Er ruft vom Landratsamt aus zur Besonnenheit auf, die Gräben in Eschenau dürften nicht noch tiefer werden, sagt er. Die Missbrauchsopfer und ihre Familien in Eschenau fühlen sich erneut im Stich gelassen. Und sie reagieren: Vor dem Landratsamt in Haßfurt schließlich bedrängen Ursula und Roman Löbl, die Eltern eines Missbrauchsopfers aus Eschenau, den Haßberge-Landrat. Der aber wehrt ab.

"Unsere Möglichkeiten, wie wir hier helfen können, aus Sicht des Landratsamtes oder aus Sicht der Gemeinde, des Bürgermeisters, die sind beschränkt. In einer solch aufgeheizten Situation ist es ja praktisch unmöglich. Das heißt, es wird immer schwerer, es wird immer schwerer da helfend und vermittelnd tätig zu werden."

"Man kann aber der Politik aus versuchen, dass man etwas Ruhe reinbringt. Man muss nicht unbedingt die Fälle jetzt bringen. Man kann doch die Bürger zusammensetzen, zumindest ein paar vernünftige, die miteinander reden können. Ich verlang es nicht von Bürgermeister Schneider, der muss da wieder hin und muss Bürgerversammlungen machen, aber von Euch vom Landratsamt verlange ich das."

Auch die evangelische Kirche greift zu diesem Zeitpunkt nicht öffentlich ein. Sie kündigt aber am nächsten Tag bei einem Pressetermin den Beginn einer Mediation an. Dabei sollen kirchliche Experten dazu beitragen, dass die Menschen in Eschenau wieder friedlich aufeinander zugehen. Trotz der jüngsten Eskalation soll die Mediation jedoch nicht sofort, sondern erst in 14 Tagen beginnen. Der zuständige Regionalbischof Wilfried Behyl sieht darin aber keine Fehlentscheidung. Er beteuert, beim Umgang mit dem Konflikt seien der evangelischen Kirche keine Fehler unterlaufen

"Auch jetzt wie in der Vergangenheit gilt das Angebot der seelsorgerlichen Gespräche. Das ist ja nicht aufgehoben, sondern es ist ein Netz unterschiedlicher vielfältiger Angebote."

Die Missrauchsopfer und ihre Familien fühlen sich vor allem aus dem Umfeld des Mannes bedroht, der sich im Zuge der Ermittlungen das Leben genommen hat. Zu einem Interview ist hier allerdings niemand bereit. Dieter Schwämmlein, Familientherapeut der Diakonie in Coburg, versucht für die Aggression und Drohgebärden aus den Reihen der Dorfgemeinschaft eine Erklärung zu finden.

"Das Drohen ist ein Konzept der Hilflosigkeit. Je mehr gedroht wird, je mehr Hilflosigkeit. Je mehr Aggression, je mehr Hilflosigkeit. Aber es ist kein brauchbares Mittel, um einen so schweren multidimensionalen Konflikt anzugehen.
Aber es ist auch wiederum verständlich, denn es bildet sich eine ganz starke Gegenreaktion. Die wird mobilisiert einfach aus diesem schweren Komplex der Schuld.
Nicht nur der beschuldigt wird oder der sich das Leben genommen hat ist in der Schusslinie, sondern auch alle drum herum. Die Familie, die Ehefrau usw. Man ist ja sehr schnell bereit, jemand, der eine Grenzüberschreitung gemacht hat zu verurteilen und die Leute drum herum mit. Und die trifft die Schuld nicht. Da muss man schon die Grenze ziehen zwischen den einzelnen Personen. Selbst in einer Familie müsste man die Grenze ziehen. Und das passiert nicht, das passiert in Eschenau ganz wenig. Das geht jetzt schon soweit, je nach dem zu welcher Gruppe ich gehöre, dass auch Leute in den Schuldkomplex hineingedrängt werden. Kinder, die mit diesem oder jenem Kind Kontakt haben, weil sie nicht zu den Fraktionen gehören, denen man sie zuordnet."

Die Aufgabe eines kirchlichen Mediatorenteams formuliert Schwämmlein so:

"Er würde dem Ort auch seine Geschichte aufgeben. Nämlich die Geschichte: Eschenau wird rückblickend immer einen Punkt in seiner Geschichte haben, der sehr kritisch zu betrachten ist. Und den muss man stehen lassen, wie ein Mahnmal. Es ist ein kritischer Punkt, und den gibt es überall, den gibt es in vielen Orten und den gibt es überall in der Welt. Wir haben das aber stehen zu lassen, wir können es nicht mehr wegwischen. Und dazu muss sich ein Ort bekennen. Mit einem hohen Profil, mit viel Sachlichkeit. Sehr nüchtern, aber auch mit viel Respekt vor der Opferseite."

Die Mediation wurde vor wenigen Wochen mit einem Friedengebet in der idyllisch gelegenen Kirche am Ortsrand offiziell abgeschlossen.
Ob die Mediation dazu beigetragen hat, dass die Menschen in Eschenau wieder eine Gesprächsbasis gefunden haben, dazu wollen sich nur sehr wenige Eschenauer vor dem Mikrofon äußern. Bei Bedarf kommen die Mediatoren wieder nach Eschenau, erklärt der Bayreuther Regionalbischof Wilfried Beyhl. Er ist der einzige, der sich von Seiten der evangelischen Kirche äußert. Sein Fazit nach rund fünf Monaten Mediation:

"Also, ich denke, das was positiv zu bewerten ist, ist, dass durch die unterschiedlichen Gesprächssituationen Bewegung zwischen die Fronten gekommen ist. Dass Menschen wieder aufeinander zugegangen sind. Dass das Gesprächsangebot doch in einem sehr großen Maße angenommen wurde, und dass jetzt so nach fünf, sechs Monaten man zumindest erste Schritte auf einem guten Weg feststellen kann. Das kann noch nicht das Ergebnis und das Ziel als solches sein. Solche Prozesse dauern Jahre, ja, mitunter auch Generationen."

Irmgard Meissner fühlt sich noch lange nicht wieder in die Dorfgemeinschaft aufgenommen.

"Weggeschaut wird immer noch. Da hat sich nichts geändert, weil die zu uns stehen, die haben vor uns zu gestanden. Dass zum Beispiel noch zum Prozess über meine Nichte gesagt wird, das war ja gar nichts, die ist ja nur angefasst worden, selbst das, obwohl es ja wirklich ein Urteil gegeben hat, wird noch in Zweifel gezogen und wird immer noch öffentlich teilweise gesagt, war ja nichts."

Wenige stehen öffentlich zu ihnen, den Missbrauchsopfern, sagt Irmgard Meissner. Andere trauen sich nicht, bis heute nicht.

"Die haben alle Angst ausgeschlossen zu werden. Sie möchten ja in dieser Dorfgemeinschaft bleiben."

Von der evangelischen Kirche ist Irmgard Meissner schwer enttäuscht. In der Frage "Aufarbeitung und Lösung des Konflikts" hat die Kirche ihrer Ansicht nach zu spät und falsch reagiert.

"Ich erwarte inzwischen von Seiten der Kirche überhaupt nichts mehr. Weil die Kirche geht nur bis zu einem gewissen Punkt. Also, die verdeckt immer wieder … und auch die Kirchenvorstände teilweise noch sagen, da war nichts, da ist nichts … das verstehe ich halt nicht und genauso deckt halt die Kirche zu."

Heidi Marks hat ihre Geschichte aufgeschrieben. Ihr Buch mit dem Titel "Als der Mann kam und mich mitnahm" ist seit wenigen Wochen auf dem Markt. Das Schreiben hat Heidi Marks geholfen, einmal die an ihr verübten Taten, aber auch die Reaktionen der Menschen im Dorf während des vergangenen Jahres zu verarbeiten.

"Dieses vergangene Jahr, das war ein schweres Jahr. Als das Buch fertig war, was das wirklich der Abschluss. Jetzt habe ich alles gesagt, jetzt ist alles in der Öffentlichkeit, es gibt keine Geheimnisse mehr und da fiel mir die letzte Last ab. Und seither fühle ich mich wirklich befreit."

Der "Fall Eschenau" ist nach Ansicht von Irmgard Meissner kein Einzelfall. Über sexuellen Missbrauch wird bis heute geschwiegen, oftmals aus Scham und Angst vor den Konsequenzen aus dem Umfeld.

"Ich habe jetzt so viele Feedbacks bekommen, von außerhalb, wo das auch passiert ist. Wo es vielleicht jetzt nicht so sehr in der Presse war, aber wo es ähnlich passiert ist. Die Opfer sind immer die Bösen. Es ist gar nicht weit von uns weg. Man muss nur über den Wald gehen, es gibt viele Ortschaften, wo es so etwas gibt. In ganz Deutschland eigentlich habe ich inzwischen Kontakte. Die Opfer sind eigentlich immer die Täter. Für die Menschen außen herum, weil die heile Welt zerstört wird. Meistens sind es ja auch Personen, die in der Öffentlichkeit gestanden haben. Es passt halt einfach nicht mehr in die heile Welt."