Der Fall Hegemann

Von Florian Felix Weyh · 16.02.2010
Seit 20 Jahren kann ich als Beruf Verschiedenes angeben: Journalist, Publizist, Autor ... oder Literaturkritiker. Letzteres sollte ich seit Mitte Januar wohl besser nicht mehr tun.
Fassungslos wie viele normale Leser verfolge ich das öffentliche Treiben einiger Kolleginnen und Kollegen und denke mir: Hallo? Habe ich was verpasst? Versteht sich die Literaturkritik nur noch als Teil einer enthemmten Marketingstrategien?

Was ist passiert?

Ein 17-jähriges Kind – nein, keine "junge Frau", das wäre eine alle Verantwortung von den Erwachsenen abstreifende Übertreibung – ein 17-jähriges Kind also tut, was andere Kinder dieses Alters auch tun, es schreibt seine Lebensnöte auf. Unglücklicherweise hat das Kind Zugang zum Literaturbetrieb, und die Profis dort wissen genau, wie man individuelle Probleme in klingende Münze verwandelt: Junge Verfasserin, tragische Lebensgeschichte, Sex, Drogen, vollmundige Radikalität und ein in der Kulturschickeria beheimateter Vater – besser ließe es sich nicht erfinden! Dazu gesellt sich die alterstypische Schwäche der Autorin, sich auf selbstzerstörerische Weise den Medien auszuliefern, und so kann der Verlag ziemlich sicher sein, dass die Pawlowschen Reflexhunde in der Literaturkritik zu speicheln beginnen. Sie feiern sich selbst, indem sie Entjungferungsentdecker spielen, also jeder für sich das Recht der ersten, hochoriginellen Interpretation beansprucht: Es sei ein "hartes, brutales, vulgäres Machwerk" (FAZ), ein "marketingmäßig durchkalkuliertes Skandalbekenntnis" mit einer "denkgeilen Phantasie" (FR), eine "hemmungslos halluzinatorische Entladung eines traumatisierten Bewusstseins" (ZEIT), "postfeministischer Furor einer wirklich beschädigten" Autorin (NZZ).

Wirklich beschädigt? Ist ja toll!

Diese Kritiken lesen sich wie lüsterne Berichte über einen Porno, den man zwar moralisch gesehen nicht konsumieren sollte, aber dennoch völlig berauscht anderen zur Berauschung empfiehlt. Eigener Mehrwert: Sich der beklagenswerten Jungautorin überlegen fühlen. So widerlich gerierte sich das Feuilleton schon lange nicht mehr. Und als bekannt wurde, dass dieses Werk eines Kindes nicht ausschließlich sein eigenes ist, blamierte das die Literaturkritik zwar heftig, doch die scherte sich nicht im Mindesten darum. Folgt etwa eine schamrote Entschuldigung für die eigenen, irrwitzigen Jubelentgleisungen? Nein! Vielmehr dreht man den verlogenen Hype eine Schraube weiter, indem man die Uraltthese vom Tod des Autors im kollektiven Zitatebrei aufwärmt – von der jeder denkende Mensch weiß, dass sie Quatsch ist: Wo keiner Originale verfasst, fallen auch keine Zitate ab.

Dass die Literaturkritik verbindliche ästhetische Kriterien schon vor Generationen über Bord geworfen hat – geschenkt! Dass die Kritik seit Jahrzehnten bei jedem von Verlagen gesteuerten Hype den Verstand verliert – auch geschenkt! Mit Literaturkritik ist es wie überall, das Mittelmaß dominiert, eigenständig urteilende Vertreter der Zunft werden nur am Rande gesichtet. Aber dass die Kritik nun auch jegliche ethischen Maßstäbe aufgegeben hat, kein Gran Verantwortung mehr verspürt, wenn ökonomisch getriebene Verlagsmaschinen Kinder verschlingen – das ist der wahre Skandal am Skandalon Hegemann. In der Mediengesellschaft kann die verantwortungsvolle Reaktion hierauf nur aus dezidierter Mitspielverweigerung bestehen. Sprich: Schweigen über solch ein Werk. Wer sich da auf die übliche Floskel formaler Gleichbehandlung zurückzieht, verweigert die erwachsene Position, die überhaupt erst Basis seiner kritischen Kompetenz ist. Kinder haben kein Recht auf Gleichbehandlung, Kinder haben ein Recht auf Schutz.

Und: Kinder schreiben keine große Literatur. Sollte das tatsächlich einmal in tausend Jahren vorkommen, wäre es kein Schaden, erführe man davon erst später. So sie ihre pubertären Ergüsse dann nicht längst voller Einsicht gelöscht, verbrannt oder weggeworfen haben.


Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein jüngstes Buch "Die letzte Wahl – Therapien für die leidende Demokratie" erschien 2007 in der Anderen Bibliothek.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin
Florian Felix Weyh© Katharina Meinel
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