Der Fluch der Touristen

Von Julio Segador · 20.07.2011
Vor genau 100 Jahren entdeckte ein Amerikaner die legendäre Inka-Stadt Machu Picchu in den peruanischen Anden, die bis heute Rätsel aufgibt. Der Tourismusindustrie mag dies egal sein - solange die Kasse stimmt. Doch nun hat die UNESCO die Stadt auf die Rote Liste der gefährdeten Kulturgüter gesetzt.
"Ein eiskalter Regen begleitete den Tagesanbruch an diesem 24. Juli. Kurz, nachdem wir vom Zeltlager aufgebrochen waren und das Vorgebirge bewältigt hatten, standen wir einem unerwarteten Naturschauspiel gegenüber.

Vor mir waren Mauerreste, die zum Feinsten gehören, was die Inkas jemals gebaut haben. Mir stockte der Atem. Was mochte dieser Ort darstellen? Weshalb hatten wir nie etwas von ihm erfahren? Den Ruinen gegenüber standen zwei der prächtigsten und interessantesten Strukturen des alten Amerika. Ich war wie verzaubert."

Es ist der 24. Juli 1911. Der US-amerikanische Archäologe Hiram Bingham schildert seine Eindrücke, als er im peruanischen Hochland die alte Inka-Stadt Machu Picchu zum ersten Mal sieht. Er ist nicht der Erste, der Machu Picchu entdeckt, andere Wissenschaftler waren vor ihm in der Inka-Stadt, erkannten aber nicht die Bedeutung der Ruinen. Es ist Bingham, der der Welt Machu Picchu erschließt. Eine Stadt, die bis heute voller Rätsel ist, die bis heute im Leben der indigenen Peruaner eine wichtige Rolle spielt.

Es ist ein besonderes Jahr für Machu Picchu. Erst im April hat die Universität Yale erste Fundstücke Binghams dem peruanischen Staat zurückgegeben. Der amerikanische Archäologe schleppte Schmuck, Grabbeigaben, Schalen und Gefäße, sogar Mumien und die Überreste von Opfertieren in Kisten in die Vereinigten Staaten.

Eigentlich nur für 18 Monate, solange ging die vereinbarte Leihfrist. Daraus wurden 99 Jahre. Fernando Astete, der Chefarchäologe in Machu Picchu, strahlt über das Ganze Gesicht. Mit der Rückgabe der wertvollen Fundstücke hat sich für ihn ein Lebenstraum erfüllt.

Fernando Astete: "Ich war ja bereits in Yale, hatte dort die Möglichkeit, einige der Fundstücke zu sehen, sie anzufassen. Ich kenne den Wert der Funde. Und die Tatsache, dass Gegenstände, die wir nur aus den Büchern kannten, wieder hier sind, die ist schon aufregend."

Die Ruinenstadt wurde etwa um 1450 von Inka Pachacútec erbaut. Er war es, der den Kult zu Ehren des Sonnengottes Inti schuf. Machu Picchu wurde niemals von den spanischen Eroberern entdeckt oder gar eingenommen. Zu unwegsam war der Weg zur Kultstätte. Mehrmals unternahm der Eroberer Francisco Pizarro den Versuch, die Stadt zu finden. Er scheiterte immer wieder.
Bis heute ist Machu Picchu nur schwer zugänglich. Es gibt keine öffentliche Straße zur Ruinenstadt. Die vielen Touristen müssen von der alten Inka-Hauptstadt Cusco aus mit dem Zug nach Machu Picchu fahren.

Verschiedene Züge befahren die einspurige Strecke. Ein einfacher Zug für die Peruaner, die in der Gegend wohnen, der "Expedition"-Zug. Dann gibt es noch den "Hiram Bingham". Der sei für die zahlungskräftigen Touristen da, verrät Guide Rubén. Die meisten Besucher nehmen aber den "Vistadome".
Mehr als drei Stunden benötigt der Zug für die Strecke. 92 Kilometer lang schlängelt er sich durch das Tal des Flusses Urubamba. Es geht vorbei an armen Dörfern, kargen Steppen. Dann wechseln Landschaft und Klima. Die Vegetation wird üppiger, die Berge höher. Rechts und links ragen mächtige 5000-er in die Höhe. Die Bergspitzen sind schneebedeckt. Ein beeindruckender Kontrast zu dem tiefen, dunklen Grün der Hänge. Im Schneckentempo kämpft sich die alte Diesellok durch tropische Schluchten, entlang steiler Bergwiesen und tosender Flüsse.

Nach etwas mehr als drei Stunden kommt der Zug in Aguas Calientes an oder in Machu-Picchu-Dorf, wie die Siedung aus Werbegründen neuerdings heißt.

Der Bahnhof gleicht einem Bazar. Händler bedrängen die Touristen, bieten ihre Waren an. Gute Handwerkskunst sucht man hier vergeblich. Hotels, Restaurants und Geschäfte prägen das Bild von Machu Picchu Dorf. Die heißen Thermalquellen, die der Siedlung einst ihren Namen "Aguas Calientes" gaben, sind kein Thema mehr. Damit lässt sich kein Geld verdienen.

Ausgemergelte Gestalten kommen die Straße entlang. Es sind "Porter", Träger, die für die Touristen auf dem Inka-Trail das Gepäck schleppen. 25,30 Kilo und auch mehr haben sie auf dem Rücken gebunden, damit die Besucher flott die viertägige Tour zu Fuß über die Berge bewältigen. Ohne Gepäck. Gregorio ist einer dieser Porter:

"Der Lohn ist nicht sehr hoch. Aber die Not zwingt uns dazu, diese Arbeit zu machen. Eigentlich müssten uns die Agenturen für die 4 Tage Schlepperei 180 Soles geben, aber sie zahlen nur 120. Am Ende ist man dann völlig fertig. Die Strecke fordert sehr viel. Es gibt lange Anstiege, oft geht es steil abwärts. All das mit viel Gewicht auf dem Buckel. Das geht auf die Gesundheit."

120 Soles, umgerechnet 30 Euro für 4 Tage gefährliche Schlepperei bergauf bergab. Für die armen Bauernburschen aus dem Hochland zwischen Machu Picchu und Cusco ist es dennoch die einzige Möglichkeit, ein wenig vom dem abzukommen, was Agenturen, Hotels, Restaurants und die Tourismusverwaltung einnehmen.
Die Einnahmen sind hoch. Allein für den Eintritt in Machu Picchu zahlen die Besucher mehr als umgerechnet 40 Euro, dazu kommen die Kosten für den Transport vom Dorf zur Ruinenstadt per Bus, die Anreise mit dem Zug verschlingt hin und zurück mehr als 100 Euro. Die Touristen zahlen bereitwillig für die einzigartige Kulisse in faszinierender Natur.

Die Reste der Inka-Stadt liegen auf fast 2400 Metern Meereshöhe auf einem Plateau eingebettet inmitten hoher, dicht bewachsener Berge. Rechts und links der Ebene geht es steil abwärts in tiefe Schluchten. In mühsamer archäologischer Arbeit haben Bingham und seine Nachfolger bis heute zahlreiche Gebäude, Terrassen und Stützmauern freigelegt.

An einem Tag besuchen bis zu 2500 Touristen Machu Picchu, pro Jahr sind
es mehr als 800.000 Menschen, die in die Ruinenstadt pilgern.

Individueller Tourismus ist kaum möglich. Reiseführer mit ihren Gruppen im Schlepptau bestimmen die Szenerie.

Bis heute gibt Machu Picchu den Archäologen Rätsel auf. Wie geheim war die Stadt? Warum entdeckten die spanischen Eroberer Machu Picchu nie? War der Ort ein astronomisches Zentrum, oder diente er doch vorwiegend rituellen Zeremonien? Oder sollte wilden Stämmen aus dem Amazonasgebiet Einhalt geboten werden? Machu Picchu als militärische Trutzburg? Chefarchäologe Fernando Astete beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit diesen Fragen.

Fernando Astete: "Für uns war Machu Picchu ein politisches und religiöses Verwaltungszentrum. Ähnlich einer Provinzhauptstadt mit einem großen Einflussbereich. Viele wichtige Produkte wurden dort umgeschlagen. Etwa die Kokapflanze aus dem Hochland. Ein wichtiges Produkt, nicht nur für den Kokakult. Mit anderen Worten: Ohne Koka ging nichts. Die Pflanze war Teil aller Aktivitäten des täglichen Lebens."

Auch in Cusco feiern die Menschen. In der alten Inka-Hauptstadt begehen Bürger und Touristen Inti Raymi, das Sonnenwendfest. Für die Inkas vor 500 Jahren war die Rückkehr von Sonne und Wärme, der Beginn des Frühlings, eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres. Bis heute sind sich die Indios dessen bewusst.

Auf dem zentralen Platz in Cusco, der Plaza de Armas, werden die traditionellen Rituale der Inkas nachgestellt. Das Kokaritual, die Opfergabe an den Sonnengott Inti.

Die Menschen in Cusco leben ihre Traditionen, sie sind bis heute wichtiger Bestandteil ihrer Kultur. Es ist ein gutes Jahr für den Tourismus in Cusco und Machu Picchu. Tausende Besucher strömen in die alte Inka-Hauptstadt und auf die berühmte Kultstätte. Überall drängen sich die Leute, alle wollen sie teilhaben am Jubiläum. Es mischen sich aber auch kritische Töne in die Jubelfeiern. Für den peruanischen Staat sind die Einnahmen aus dem Tourismus eminent wichtig.

Ein großer Teil des Geldes geht in die Hauptstadt Lima, muss andere Dinge mitfinanzieren. In der Region um Cusco verbleibt nur ein Bruchteil der Einnahmen. Hermogenes Monomontay, ein Kinderarzt aus Cusco, spart nicht mit Kritik.

Hermogenes Monomontay: "”Machu Picchu ist der höchste Ausdruck unserer Identität. Gleichzeitig fühlen wir uns ausgebeutet von Machu Picchu. Viele Dinge sind an die Ruinenstadt Picchu gekoppelt, aber wir hier aus Cusco, die nicht im Tourismus arbeiten, haben davon nichts. Was wir sehen, sind viel Unterernährung, steigender Analphabetismus, schwierige Lebensumstände.”"

1983 nahm die UNESCO Machu Picchu in die Liste des Weltkulturerbes auf, vor vier Jahren wurde Machu Picchu sogar als neues Weltwunder gefeiert. Geschäftsleute und Tourismusmanager rieben sich damals die Hände, andere wie Chefarchäologe Fernando Astete schlugen dagegen die Hände über den Köpfen zusammen. Für den hageren Peruaner stehen der Charakter und der Erhalt der Ruinenstadt auf dem Spiel.

Eine Befürchtung, die auch die UNESCO teilt. Aufgrund der vielen Touristen läuft die Ruinenstadt Gefahr, auf die rote Liste der gefährdeten Weltkulturgüter aufgenommen zu werden. Auf der letzten UNESCO-Sitzung in Paris konnte dies noch abgewendet werden. Allerdings nur unter strengen Auflagen. Perus Kulturminister Juan Ossio atmet noch einmal tief durch.

"”Also, ehrlich gesagt, habe ich einen ganz schönen Schrecken davongetragen, dass man Machu Piccchu als gefährdetes Weltkulturerbe einstufen wollte. Und das zum 100-jährigen Jubiläum der Wiederentdeckung. Das wäre sehr traurig gewesen. Aber glücklicherweise haben sie sich anders entschieden. Wir haben unsere Position verteidigt, aber nicht für alle Zeiten. Das Damoklesschwert hängt weiter über uns. Aber ich erwarte, dass wir der UNESCO zeigen können, dass wir nun alle an einem Strang ziehen und die Vorgaben einhalten, die zum Erhalt des Weltkulturerbes nötig sind.”"

Der Andrang der Touristen, die wuchernden Siedlungen im Tal, die Geschäftemacherei rund um die Inka-Stadt. All das setzt Machu Picchu zu. An verschiedenen Stellen hat sich schon der Boden gesenkt. Immer wieder nehmen Besucher Steine mit, manche kratzen ihre Initialen in die Ruinen.

Jahrelang haben die Behörden den Tourismus immer weiter angefacht, noch vor vier Jahren, als die Ruinenstadt zum neuen Weltwunder ernannt wurde, spekulierten findige Tourismusmanager und Politiker über eine Verdreifachung der Besucherzahlen. Das alles ist nun in weite Ferne gerückt. Nach dem Warnschuss durch die UNESCO solle ein neues Tourismuskonzept ausgearbeitet werden, sagt Chefarchäologe Fernando Astete.

"”Die Idee ist, dass wir unser Tourismuskonzept verbessern. Als Erstes haben wir dazu Überwachungskameras installiert. Wenn ein Besucher den Weg verläßt, gibt es jemand, der das sieht, und es können Maßnahmen ergriffen werden. Dann haben wir an vielen Stellen unter der Erde Kunststoffmatten eingearbeitet, die die absturzgefährdeten Bereiche stützen. Und es gibt einen weiten Rundlauf, aber dazu noch Alternativen, damit nicht alle Touristen auf einmal in der Stadt aufeinander treffen.”"

Machu Pichu vor den Touristenmassen zu schützen, ist eine Aufgabe des Archäologen. Sie drängt seine Hauptaufgabe in den Hintergrund. Die Ruinenstadt weiter zu erforschen. Denn noch immer entdecken Fernando Astete und sein Team neue Terrassen, Stützmauern und Gebäude, die sie freilegen.

"Wie werden Machu Picchu weiter restaurieren, bis wir die letzte Terrasse freigelegt haben. Wir wollen wissen, wie groß die Stadt war. Und wenn alles restauriert ist, nützt es ja auch dem Tourismus. Denn diese Ausmaße sind deutlich größer als die eigentliche Stadt Machu Picchu.”"

Fernando Astete, der leitende Archäologe in Machu Picchu, eifert seinem Mentor Hiram Bingham nach. Überwältigt von seiner Entdeckung im unwegsamen Regenwald Perus, war der US-Archäologe vor genau 100 Jahren geradezu getrieben von der Vorstellung, der Nachwelt die Einzigartigkeit der Ruinenstadt vollständig zu offenbaren. Das ist das Vermächtnis des Hiram Bingham, wie er es in seinem Buch "Die verlorene Stadt der Inkas" hinterlassen hat.

""Das musste die zentrale Stadt von Inka Manco und seinen Söhnen sein. Dieses Vilcapampa, die Hauptstadt des Gotteskultes. Sie ist es wert, so weit wie möglich erforscht zu werden."