Der Fotograf des Zweiten Weltkriegs
Der junge Fotograf Jewgeni Chaldej dokumentierte mit seinen Bildern den Krieg zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion. Das berühmteste ist nach 1945 zur Ikone geworden: Rotarmisten hissen die rote Fahne auf dem Berliner Reichstag. Jetzt erscheint Chaldejs Kriegstagebuch.
Ich wurde nach Murmansk beordert. Ich ging zu meinem Chef und sagte: Geben Sie mir hundert Meter Filmmaterial. Darauf sagte er: Hundert Meter! In zwei Wochen ist alles vorbei. Wozu brauchst du so viele Filme? Nein, ich gebe dir nur fünfzig Meter. Ich nahm die fünfzig Meter.
Das war am 22. Juni 1941. Nazi-Deutschland hatte die Sowjetunion überfallen und der junge Fotograf der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS, Jewgeni Chaldej, musste an die Front, um Fotos zu machen. Vier Jahre begleitete Chaldej die Rote Armee, dokumentierte die Verwüstungen, die Morde, die Kämpfe – und am Ende das Hissen der Roten Fahne auf dem Berliner Reichstag.
Jetzt ist sein Kriegstagebuch erscheinen, herausgegeben von dem Berliner Galeristen Ernst Volland, der mit Chaldej befreundet war. Zusammen mit einer Abordnung der SPD war er Anfang der 90er-Jahre nach Moskau gereist, um am 50. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion einen Kranz niederzulegen. Bei dieser Gelegenheit kam es auch zu einer Begegnung mit früheren Kriegsfotografen.
"Dann gingen wir in den Nebenraum und da hingen einige Fotos von Chaldej und ich dachte, mich trifft der Schlag, - es war so - das ist ja der Mann, der diese Flagge auf dem Reichstag fotografiert hat."
1994 kam es zu einer ersten umfassenden Ausstellung mit Fotos von Jewgeni Chaldej in Berlin und anderen Städten der Bundesrepublik. Jetzt nun das Tagebuch, von dem damals nie die Rede gewesen war.
"Wir wissen eigentlich sehr wenig über den Hintergrund des Tagebuches. Wir haben das im Nachlass gefunden, die Tochter kam mit diesem Tagebuch an, das ist ein sehr kleines Heftchen, in dem handschriftlich zwei, drei Jahre des Krieges vom ersten Tag an beschrieben wurden. Wir haben das dann übersetzen lassen und waren dann überrascht, in welch präziser Sprache er die Kriegsszenen darstellt und haben uns dann entschlossen, das zu veröffentlichen."
Dieser Fund ist umso erstaunlicher, als es den Angehörigen der Roten Armee untersagt war, ein Tagebuch oder andere Aufzeichnungen ihrer Erlebnisse zu führen. Chaldejs geheime Aufzeichnungen geben keine Kommentare zu den Fotos, die er in den Kriegsjahren gemacht hat, aber sie erzählen die Geschichten ihrer Entstehung.
Langsam erlischt das Tageslicht, es wird Nacht – das Schiffsradio sendet "Tod den deutschen Besatzern". Genau 0 Uhr. Ich sehe auf den Zeiger der Uhr, genau 0 Uhr. Die zentralen Hecktürme eröffnen das Feuer, man hört den Schuss, blendendes Licht. Danach nichts mehr, es ist unmöglich, etwas zu erkennen, wir fotografieren blind.
Chaldej ist nie die Anerkennung zuteil geworden wie seinem US-amerikanischen Freund und Kollegen Robert Capa. Chaldej verschwand unter der kulturpolitischen Dunstglocke der Sowjetunion, war sogar Ende der 40er-Jahre eine Zeitlang arbeitslos, als er Opfer einer Kampagne gegen jüdische Intellektuelle wurde. Diese Erfahrungen haben wohl auch dafür gesorgt, dass er nicht einmal seine Kinder in sein geheimes Kriegstagebuch einweihte – ein Tagebuch voller Kontraste:
Bin, um Aufnahmen zu machen, in ein Werk gefahren. Es war windig, ich verlor meinen Sucher und fand ihn nicht mehr wieder. Es war schade.
Wenige Zeilen später - die Geschichte einer jungen Russin, in die sich ein deutscher Offizier verliebt hatte. Immer wieder hatte er sie getroffen, bis er erfuhr, dass sie Jüdin sei. Dann wurden die Juden zur Ermordung zusammengetrieben.
Als sie vor den Soldaten stand, erblickte sie den Offizier, den einen, sie warf sich ihm zu Füßen, flehte ihn an, sie zu verschonen, hysterisch weinend beschwor sie ihn und bat. Der Offizier kam heran, umarmte sie und tötete sie durch einen Nahschuss.
Chaldejs disziplinierte, fast buchhalterische Auflistung von banalen Details und brutalen Dramen des Krieges erinnern an den berühmten Tagebucheintrag von Franz Kafka aus dem Jahr 1914:
Deutschland hat Russland den Krieg erklärt – Nachmittag Schwimmschule.
Krieg und Alltag – die Rote Armee und der Fritz, wie der deutsche Soldat genannt wird. April 1943:
Den Deutschen ist es nicht gelungen, die Stadt ganz einzunehmen, .. sie ist unter Kontrolle unserer Batterie. Scharfschützen vernichten methodisch einen Fritz nach dem anderen. Es ist bereits Frühling, ein Flugzeug fliegt entlang der Küste, unter uns fährt ein Transportschiff ...
Im April 1943 endet abrupt das Tagebuch von Jewgeni Chaldej. Warum – keiner kann es sagen. Bis zu seinem Tod am 6. Oktober 1997 hat er nie über seine Aufzeichnungen gesprochen.
Besprochen von Paul Stänner
Jewgeni Chaldej: Kriegstagebuch
Herausgegeben von Ernst Volland und Heinz Krimmer
Verlag Das Neue Berlin
224 Seiten, 24,95 Euro
Das war am 22. Juni 1941. Nazi-Deutschland hatte die Sowjetunion überfallen und der junge Fotograf der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS, Jewgeni Chaldej, musste an die Front, um Fotos zu machen. Vier Jahre begleitete Chaldej die Rote Armee, dokumentierte die Verwüstungen, die Morde, die Kämpfe – und am Ende das Hissen der Roten Fahne auf dem Berliner Reichstag.
Jetzt ist sein Kriegstagebuch erscheinen, herausgegeben von dem Berliner Galeristen Ernst Volland, der mit Chaldej befreundet war. Zusammen mit einer Abordnung der SPD war er Anfang der 90er-Jahre nach Moskau gereist, um am 50. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion einen Kranz niederzulegen. Bei dieser Gelegenheit kam es auch zu einer Begegnung mit früheren Kriegsfotografen.
"Dann gingen wir in den Nebenraum und da hingen einige Fotos von Chaldej und ich dachte, mich trifft der Schlag, - es war so - das ist ja der Mann, der diese Flagge auf dem Reichstag fotografiert hat."
1994 kam es zu einer ersten umfassenden Ausstellung mit Fotos von Jewgeni Chaldej in Berlin und anderen Städten der Bundesrepublik. Jetzt nun das Tagebuch, von dem damals nie die Rede gewesen war.
"Wir wissen eigentlich sehr wenig über den Hintergrund des Tagebuches. Wir haben das im Nachlass gefunden, die Tochter kam mit diesem Tagebuch an, das ist ein sehr kleines Heftchen, in dem handschriftlich zwei, drei Jahre des Krieges vom ersten Tag an beschrieben wurden. Wir haben das dann übersetzen lassen und waren dann überrascht, in welch präziser Sprache er die Kriegsszenen darstellt und haben uns dann entschlossen, das zu veröffentlichen."
Dieser Fund ist umso erstaunlicher, als es den Angehörigen der Roten Armee untersagt war, ein Tagebuch oder andere Aufzeichnungen ihrer Erlebnisse zu führen. Chaldejs geheime Aufzeichnungen geben keine Kommentare zu den Fotos, die er in den Kriegsjahren gemacht hat, aber sie erzählen die Geschichten ihrer Entstehung.
Langsam erlischt das Tageslicht, es wird Nacht – das Schiffsradio sendet "Tod den deutschen Besatzern". Genau 0 Uhr. Ich sehe auf den Zeiger der Uhr, genau 0 Uhr. Die zentralen Hecktürme eröffnen das Feuer, man hört den Schuss, blendendes Licht. Danach nichts mehr, es ist unmöglich, etwas zu erkennen, wir fotografieren blind.
Chaldej ist nie die Anerkennung zuteil geworden wie seinem US-amerikanischen Freund und Kollegen Robert Capa. Chaldej verschwand unter der kulturpolitischen Dunstglocke der Sowjetunion, war sogar Ende der 40er-Jahre eine Zeitlang arbeitslos, als er Opfer einer Kampagne gegen jüdische Intellektuelle wurde. Diese Erfahrungen haben wohl auch dafür gesorgt, dass er nicht einmal seine Kinder in sein geheimes Kriegstagebuch einweihte – ein Tagebuch voller Kontraste:
Bin, um Aufnahmen zu machen, in ein Werk gefahren. Es war windig, ich verlor meinen Sucher und fand ihn nicht mehr wieder. Es war schade.
Wenige Zeilen später - die Geschichte einer jungen Russin, in die sich ein deutscher Offizier verliebt hatte. Immer wieder hatte er sie getroffen, bis er erfuhr, dass sie Jüdin sei. Dann wurden die Juden zur Ermordung zusammengetrieben.
Als sie vor den Soldaten stand, erblickte sie den Offizier, den einen, sie warf sich ihm zu Füßen, flehte ihn an, sie zu verschonen, hysterisch weinend beschwor sie ihn und bat. Der Offizier kam heran, umarmte sie und tötete sie durch einen Nahschuss.
Chaldejs disziplinierte, fast buchhalterische Auflistung von banalen Details und brutalen Dramen des Krieges erinnern an den berühmten Tagebucheintrag von Franz Kafka aus dem Jahr 1914:
Deutschland hat Russland den Krieg erklärt – Nachmittag Schwimmschule.
Krieg und Alltag – die Rote Armee und der Fritz, wie der deutsche Soldat genannt wird. April 1943:
Den Deutschen ist es nicht gelungen, die Stadt ganz einzunehmen, .. sie ist unter Kontrolle unserer Batterie. Scharfschützen vernichten methodisch einen Fritz nach dem anderen. Es ist bereits Frühling, ein Flugzeug fliegt entlang der Küste, unter uns fährt ein Transportschiff ...
Im April 1943 endet abrupt das Tagebuch von Jewgeni Chaldej. Warum – keiner kann es sagen. Bis zu seinem Tod am 6. Oktober 1997 hat er nie über seine Aufzeichnungen gesprochen.
Besprochen von Paul Stänner
Jewgeni Chaldej: Kriegstagebuch
Herausgegeben von Ernst Volland und Heinz Krimmer
Verlag Das Neue Berlin
224 Seiten, 24,95 Euro