Der fragende Suchende

Von Hartmut Krug |
"Ohne die Theater wären die Kliniken noch voller." Das sagt nicht ein Mediziner, sondern Wolfgang Engel, einer der wichtigsten Regisseure der DDR. Auch nach 1989 hat Engel das deutsche Theater geprägt, etwa als langjähriger Intendant des Schauspiels Leipzig. Heute wird er 70 Jahre alt.
Der Schweriner Wolfgang Engel hat die Theaterarbeit sozusagen von der Pike auf gelernt. Er begann am Staatstheater Schwerin als Bühnenarbeiter, legte die Bühnenreifeprüfung ab und war dort für drei Jahre als Schauspieler und Regieassistent tätig. Über die Regiestationen Landesbühnen Sachsen-Radebeul und Berliner Kinder- und Jugendtheater "Theater der Freundschaft" kam er 1980 an das Staatstheater Dresden. Mit seinen Inszenierungen machte er es zum wohl wichtigsten DDR-Theater der Vorwendezeit.

Engels DDR-Inszenierungen waren nicht oppositionell, sondern immer kritisch fragend:

"Irgendwie hat man ja schon ein Motto. Der Mensch im Kampf mit gesellschaftlichen Verhältnissen. Das steht in den Stücken, die zweitausend Jahre alt sind, und das steht in den neuesten Stücken - und eigentlich immer, gerade zu DDR-Zeiten, wie dieses Menschsein durch gesellschaftliche Verhältnisse, durch Umstände beschädigt wird. Danach habe ich in allen Stücken, die ich inszeniert habe, immer gesucht."

Dabei setzen Engels Inszenierungen nicht auf ästhetische Überwältigung oder politische Belehrung, sondern zeigen ein fragendes Suchen. Und: Er zerschlägt Stücke nicht. So begann Carlo Goldonis "Der Krieg" (Dresden 1983) als Leseprobe auf offener Bühne, bei der sich die Schauspieler an Gedanken entzündeten und über Spielversuche in Rollen hinein fanden. Ein Bild für das episch geprägte Theater von Engel, der Theater als kollektives Denken versteht und die Zuschauer durch eine Spannung zwischen Behutsamkeit und aggressiver Kraft in ihren Bann zieht.

Theater als Ort der Leidenschaft
Bis 1991 entstehen in Dresden viele umjubelte Inszenierungen, so von Hebbels "Die Nibelungen" an zwei Abenden, die 1984 sogar auf Gastspielreise nach München, Wien und Zürich gingen, von Kleists "Penthesilea" und von etlichen Stücken Heiner Müllers:

"Ich finde richtig, in den Stücken zu entdecken, wie entsteht Gewalt. Also ich glaube nicht, dass wir leisten können, dass man grundsätzlich die Wurzeln erkennt. Also, dass man sich mit diesem Thema grundsätzlich auseinandersetzt. Und insofern bin ich natürlich, wenn Sie so wollen, höchst moralisch."

Wolfgang Engel inszenierte oft klassische Texte, darunter viele, die eher selten gespielt werden. Dabei verführt ihn seine große Lust an der Sprache nicht zum Literaturtheater, Theater ist bei ihm ein lebendiger "Ort der Leidenschaft".

"Eine Geschichte zu erzählen, ganz egal, ob der Text 2000 Jahre oder zwei Jahre alt ist, und einen Strang zu entdecken, der ganz gezielt ins heute zielt, war für mich immer mit höchstem Vergnügen verbunden. Ich kann nur denken von heute aus."

So bei der DDR-Erstaufführung von Becketts "Warten auf Godot" 1987, bei dem sich zwei junge Männer in einem Zirkusrund buchstäblich "zu Tode strampelten". Und sein in die Wendezeit fallender Dresdner "Faust", bei dem Engel als einer von zwei Fäusten selbst auf der Bühne stand, zeigte gleichermaßen einen poetischen Alptraum wie einen Alltagsvorgang, bei dem die Walpurgisnacht zur wüsten Hausgemeinschaftsfeier im Plattenbau-Treppenhaus wurde.

Ohne Theater wären die Kliniken noch voller, behauptet Engel
1999 dann, während seiner Zeit als Leipziger Intendant zwischen 1995 und 2008, wanderte sein neuer, 9stündiger Faust (1999) ebenso durch die Stadt wie sein Wallenstein, der 2007 am Völkerschlachtdenkmal endete. Bei diesem halbtägigen "Feldzug durch Leipzig" betonte Engel die Suche nach Selbstbestimmtheit durch einen Menschen, der, durch Politik und Macht deformiert, sich als Subjekt verloren geht. Ohne Theater wären die Kliniken noch voller, behauptet Engel:

"Solange wir die Welt durchspielen und den Zuschauer mit auf die Reise nehmen, also in diesem leidenschaftlichen, diesem gefühlsbetonten Sinne, ist er in der Lage, eigene Probleme zu reflektieren."

Nachdem Engel nach der Wende von 1991 bis 1994 fester Regisseur am Schauspiel von Frankfurt am Main und anschließend 13 Jahre Intendant in Leipzig war, ist er heute als freier Regisseur zwischen Düsseldorf, Dresden und Halle unterwegs. Natürlich mit Stücken, die in anderer Zeit spielen und doch auch Fragen an unsere Gesellschaft stellen. Wie mit Bulgakows "Meister und Margarita, Uwe Tellkamps "Der Turm" und Schillers " Wilhelm Tell".

"Die Schaubühne als moralische Anstalt, das find ich schon o.k. Damit meine ich nicht, dass wir Besserwisser sind, aber dass wir, verdammt noch mal, die Aufgabe haben, das, was vielleicht tabuisiert wird in der Gesellschaft, diese Tabus auf die Bühne zu bringen."

Was die unendliche Fülle von Wolfgang Engels alten und aktuellen Inszenierungen eint, sind die ästhetische Energie, die Sprachkraft und die Intensität seines psychologischen Schauspielertheaters.
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