Der Franzose im Schwaben

Von Peter Hölzle |
Sie wollten schon immer mal Schwäbisch parlieren? Bitte. Aber dann müssen zuvor etwas Französisch bimsen, weil: ohne Französisch kein Schwäbisch, jedenfalls kein schönes, also echtes Schwäbisch. Ja, so sind sie da unten im deutschen Südwesten.
"Wia dr Schorsch daherkommt, mei liebr Scholli, mit seim brobbre Schemisle ond seim schicke Fazinettle, oifach schniggelebong. Ond schbendabl isch er derzueno. Soine Gschpusi offeriert'r en Muggefugg, koin Muggefugg, noi en reachte Kaffee. Ond Meringe krieget se au no gratis. Koi Wonder, dass der Malefiz alle Mädle em Flecke de Kopf verdreht. Fladdiere, busiere ond karessiere ko dersell wia an echta Casanova. Desch tuschur sei Bläsier ond sei Bassledo."

Kein Chinesisch, kein Kaschubisch, kein Kisuaheli dringt hier ans Ohr des geneigten Hörers, sondern Schwäbisch, Schwäbisch in feiner Form, was sich am Französischen erkennen lässt, mit dem es durchsetzt ist. So können Leute auf dem Land zwischen Neckar, Rems und Fils reden, wenn sie sich besonderen Themen zuwenden. So kann auch Christel Köhle-Hezinger reden, wie gerade zu hören war. Die Professorin für Volkskunde an der Universität Jena kann aber auch hochdeutsch, obwohl sie das einer gleichermaßen hoch- wie tiefstapelnden Eigenwerbung Baden-Württembergs zufolge gar nicht können darf. Die in Esslingen geborene, aber im ländlichen Vorort Mettingen Aufgewachsene verbindet mit dem eingangs gelesenen Text Erinnerungen.

"Ich erkenne die Worte meiner Kindheit, die Wörter, die französischen Wörter, die in diese Mundart eingeflochten waren. Das war natürlich überhaupt nicht bewusst als Kind. Ich hab' im Nachdenken über dieses Thema mir klar gemacht, dass eigentlich vor allem im privaten, im persönlichen, im häuslichen Bereich diese Wörter bei uns üblich waren, und das ist natürlich auch das Sprachelernen der Kindheit, denn ich bin in der Großfamilie aufgewachsen, und dann hat man halt vom Portemonnaie gesprochen für den Geldbeutel; den Plafond, das war die Zimmerdecke, den Parapluie, den Schirm, den man mitnimmt. Und das waren immer so e bissle herausgehobene Wörter. Also die waren immer schon mit einem kleinen Unterton, manchmal auch ironisch oder witzig, aber man hat sie nicht als Fremdwörter oder als Lehnwörter gelernt, sondern sie waren Teil dieser Sprache. Man hat auch gewusst, was sie bedeuten. Man hat sie nie übersetzt. Es war also selbstverständlicher Sprachkorpus."

Zum selbstverständlichen schwäbischen Sprachkorpus werden viele Schwaben, ältere zumal, einen Großteil des Vokabulars aus der kleinen Geschichte vom Dorf-Casanova rechnen, obgleich es sich dabei um Fremdwörter aus dem Französischen handelt. Hinter dem schwäbischen Schorsch verbirgt sich der französische Georges. Der bekräftigende Ausruf mei liebr Scholli geht auf das französische Adjektiv joli, zu deutsch hübsch, zurück. Im brobbre Schemisle und im schicke Fazinettle stecken französisch la chemise propre und le facenez chic, auf deutsch das modische Hemd und das schicke Einstecktuch. Schniggelebong und schbendabl sind deutsch-französische Mischwörter. Das erste verbindet das deutsche Adjektiv geschniegelt mit dem französischen Adjektiv bon im Sinn von fein herausgeputzt. Das zweite kombiniert den Wortstamm von deutsch spenden mit der französischen Endung –able. Die Verben offeriere, fladdiere und karressiere stehen für französisch offrir, flatter und caresser, zu deutsch anbieten, schmeicheln und liebkosen. Im Muggefugg und in der Meringe begegnen französisch le mocca faux und la meringue, auf deutsch der Ersatzkaffee und das Schaumgebäck. In den Adverbien gratis und tuschur verstecken sich die französischen Entsprechungen gratuit und toujours; letzteres steht für das deutsche Wort immer. Bläsier und Bassledo endlich vertreten französisch plaisir und passer le temps, womit auf deutsch Vergnügen und Zeitvertreib gemeint sind.

Man sieht: Auch wenn Schwaben kein Französisch können, stehen sie doch wie selbstverständlich mit einem Teil der westlichen Nachbarsprache auf Duzfuß. Mehr noch, sie haben sie eingepasst in ihren Sprachhorizont. Warum sie an dieser Einpassung seit einigen Jahrhunderten festhalten, begründet die Volkskundlerin Köhle-Hezinger so:

"Es war eigentlich so die Verfeinerung der Lebensweise. Und das passt jetzt speziell bei mir ganz gut, weil mir (!) auch über diese Weingärtnerkultur, aus der ich komme familiär, die Weingärtner immer schon auf diese Verfeinerung geguckt haben. Durch den Weinhandel war große Berührung mit den Städten vorhanden, und da hat man sich immer an dem orientiert, an dieser städtischen Kultur, an den feinen Möbeln und an den Textilien. Und da hat das gut reingepasst - dieses Französische -, und da war das eigentlich so ein ganz selbstverständlicher Bestandteil."

Die Verfeinerung reicht übers Weinbauernmilieu hinaus auch in handwerkliche und zum Teil agrarische Berufsschichten, und sie betrifft viele Lebensbereiche. Neben Mobiliar und Textilien ist die Mode mit ihren Accessoires zu nennen. Nicht von ungefähr kommt unser Dorf-Schürzenjäger in einem brobbere Schemisle daher und schmückt sich mit einem schicke Fazinettle. Und nicht von ungefähr wird sein Äußeres als schniggelebong charakterisiert. Frankreich steht hier als Land der Mode von alters her Pate und hat mit einer entsprechenden Fachterminologie eine breite Spur ins Schwäbische gelegt, die nicht immer leicht erkennbar ist. Lässt sich der Zusammenhang zwischen complet, dem französischen Wort für Anzug, und dem schwäbischen Koblee für Kostüm noch nachvollziehen, lässt sich das schwäbische Bassmetrie dem französischen Ursprungswort passementerie für Besatzartikel noch zuordnen, so gibt es andere Übernahmen, die als solche nicht mehr zu identifizieren sind. Christel Köhle-Hezinger hat solch ein Rätselwort parat, das auf französisch passepoil zurückgeht.

"A Bassboll – also im Schwäbischen war das dann natürlich eine etwas derbe Aussprache Paspel, also die Verzierung mit einem Schrägband, mit einer Tresse. Aber es konnte auch eine Funktion damit verbunden sein, ein Schutz einer Kannte. Aber eigentlich war's ein Schmuckelement, dass man etwas paspoliert hat."

Die von Frankreich ausgehende Verfeinerungskultur hinterließ nicht nur in Mobiliar und Mode Erkennungszeichen unübertrefflicher Eleganz. Auch in der Küche setzte sie Duftnoten, die ein Geschmacksraffinement verströmen, das sich vom schwäbischen Arme-Leute-Einerlei abhebt. Selbst den Dorf-Casanova unserer Eingangsgeschichte umweht ein Hauch kulinarischer Extravaganz von jenseits des Rheins. Wenn er zu seinen Eroberungszügen ansetzt, lässt er sich nicht lumpen, vergisst den scharf rechnenden Schwaben in sich und spendiert kulinarische Qualität. Statt Hefezopf und Muggefugg setzt er Meringe und "reachte Kaffee" als Verführungsmittel ein. Damit gibt er sich als Kenner feiner, sprich: französischer Küche zu erkennen. Deren Einfluss auf die schwäbische Kochkunst illustriert Köhle-Hezinger an einem berühmten Beispiel.

"Die französische Küche als die bürgerliche Küche, die seit dem 18. Jahrhundert zu uns kommt, das ist ein ganz wichtiger Punkt, den man hier noch hervorheben muss. Die Meringe haben wir natürlich deutsch ausgesprochen, aber ich denke zum Beispiel etwas Schönes, das hier auch Spitzenreiter ist in der Aussprache, ist die Schoddosoße, also die warme Weißweinsoße, die ja mit viel Eigelb plus Zucker aufgeschlagen wird. Das war der feine Nachtisch bei hochstehenden Festen, bei Konfirmationen oder bei Hochzeiten. Ich hatte sie ganz vergessen - ehrlich gesagt - aber als man dann beim Italiener wieder die Sabayon gegessen hat, als das auf der Zunge war, der süße Löffel, da kam dann in Erinnerung wieder diese Schoddosoß'. Und das war auch eben ganz selbstverständlich, dass man dann diese Namen übernommen hat und dass man wusste, wofür das steht."

Die Schoddosoß' steht für französisch chaudeau. Damit ist nicht warmes Wasser gemeint, wie die Übersetzung nahe legt, sondern eine Weinschaumcreme aus heißer Milch, Ei und Weißwein, die noch etwas raffinierter schmeckt als der fast gleichlautende Nachtisch, der das schwäbische Festmahl krönt. Eine Krönung anderer Art verdankt sich ebenfalls französischer Verfeinerungskultur. Gemeint ist ein an höfischen Vorbildern orientiertes Liebeszeremoniell. Einen matten Abglanz davon spiegelt die kleine Geschichte unseres Dorf-Schürzenjägers. Mit fladdiere, busiere und karessiere bewegt der sich im Rahmen dieses Rituals, das er – ganz unschwäbisch – zum Bläsier und Bassledo, zum Vergnügen und Zeitvertreib, erhebt.

Würde dies alles statt in französischem in deutschem Schwäbisch ausgedrückt, verlöre unser Wald- und Wiesen-Don Juan jenen Hauch mondäner Ausstrahlung, der ihn für die ländliche Mädchenwelt so anziehend macht, ja er schrumpfte zum nichtssagenden Dorftölpel, dem ein Hagestolz-Schicksal droht. Köhle-Hezinger bestätigt denn auch:

"Diese reiche Palette, die ja sehr, sehr fein differenziert ist, und eine ungeheuere Vielfalt von Nuancen zulässt, die war ganz wichtig."

Was steckt nun aber hinter all diesen sprachlichen und begrifflichen Übernahmen aus dem Französischen ins Schwäbische? Drücken sie die stillschweigende Anerkennung einer kulturellen Überlegenheit, ja einer kulturellen Dominanz aus? Sind sie vom Volk übernommen worden, weil seine Herrscher sie übernahmen? Nochmals Köhle-Hezinger:

"Ich denke, dass der Begriff der Dominanz in der Tat ganz wichtig ist, denn ich muss ja hinaufsehen zu irgendwas und ich denke schon, dass so eine Vorbildfunktion, so eine ideologische Aufladung von Idealen, die man hat, die man im Moment nicht erreichen kann, zum Beispiel im Bereich der materiellen Kultur, dass sich das dann auch niederschlägt im Sprachlichen."

Die Vorbildfunktion, die Frankreich für den deutschen Südwesten über Jahrhunderte in vielen Lebensbereichen hatte, war auch deshalb so dominant, weil sie konkurrenzlos war. Köhle-Hezinger bestätigt das mit einem persönlichen Beispiel:

"Man kann ja oft genauer sagen, was man mit etwas Bestimmtem nicht will, als das, was man will. Also die negative Folie ist ja oft leichter zu erkennen. Und ich kann zumindest für die Generation meiner Großeltern sagen - ich bin als Kind in den fünfziger Jahren geprägt worden, kulturell -, und da kann ich mit Sicherheit sagen, wo die Aversionen lagen, wo man nicht gerne hingeguckt hat, und das war nach Norden und nach Osten. Das war nicht da, wo man sich wohlgefühlt hat - also heute würde man sagen der 'Wohlfühlfaktor - und wo man sich gerne mit identifiziert hat, also das Preußische. Meine Großmutter hat noch ganz selbstverständlich vom 'Großen Vaterland' mit einem sehr negativen Unterton gesprochen, und Berlin war für sie der absolute Horror, also auch schon mental die Vorstellung. Und dann gab's mal in den zwanziger Jahren irgendwelche Berliner Kinder, die nach Süddeutschland gekommen sind. Und das eine muss geklaut haben wie ein Rabenkind. Das hat dann alle negativen Vorurteile bestätigt. Aber man hat einfach lieber nach Süden und nach Südwesten geschaut, und ich denke, dass da schon solche Restspuren, Ingredienzien und Prägungen noch zu erkennen sind."

Die Vorliebe für Frankreich wundert nicht, schließlich kam aus Frankreich lange Zeit der Fortschritt und die Freiheit. Aus Preußen hingegen kam die Arroganz der Krautjunker, die Pickelhaube und der Kasernenhofton, nicht zu vergessen die Niederschlagung der badischen Revolution von 1848. Da fiel die Wahl nicht schwer. Inzwischen hat sich das geändert. Schwaben strömen nach Berlin und sein Umland. Sie stellen inzwischen die größte deutschsprachige Minderheit in der Hauptstadt, was sich unschwer an der Zunahme schwäbischer Laute erkennen lässt. Aber die neue Liebe der Schwaben für Berlin, so behaupten Spötter, hängt weniger mit der Stadt und ihren Bewohnern zusammen als mit einem tief eingewurzelten Grundzug schwäbischen Wesens. Die Schwaben lieben Baustellen, und da es in deutschen Landen derzeit keine größere gibt als Berlin, lieben sie Berlin und lassen sich dort nieder. Dabei geht diesen jungen mobilen Schwaben aber auch einiges verloren. Sie vergessen mehr und mehr ihr französisches Schwäbisch, was sicher auch damit zu tun hat, dass Frankreich viel von seiner einstigen kulturellen Überlegenheit eingebüßt hat. Außer Mode und Küche ist da nicht mehr viel.