Der Fürst auf der Säule

Von Stefan Keim |
Opernpuristen müssen die Zähne zusammenbeißen: Mit Ethno-Klischees und manch schrägem Ton inszeniert Regisseur Claudio Valdés Kuri in Mülheim die Oper um den berühmten Azteken-Herrscher.
Montezuma bleibt ein Rätsel. Warum der Aztekenfürst die Spanier kampflos ins Land ließ, sie freundlich empfing, sich gefangen nehmen und schließlich töten ließ, ist immer noch Gegenstand historischer Spekulationen. Im Libretto zur Barockoper "Montezuma" von Carl Heinrich Graun werden die Ereignisse einiger Jahre auf einen Tag verdichtet.

Textdichter war niemand anderes als Friedrich II., der die Geschichte nutzte, um über das richtige Herrschen zu reflektieren. Natürlich wollte der "alte Fritz" nicht wie Montezuma sein und kampflos untergehen. Aber er schrieb ihm ein langes Solo aus Rezitativen und Arien, in dem der König die Abkehr von den weltlichen Dingen beschreibt und pure Liebe als Grundlage des Gebietens ausruft.

Bei der Inszenierung zum Start des Festivals "Theater der Welt" sitzt Montezuma bei diesem Gesang auf einer riesigen Säule, wie ein Denkmal seiner selbst. Der überragende Sopranist Flavio Oliver wechselt in der Höhe die Tonfälle von Zweifel und Zuversicht mit viel Gespür für die Nuancen. Zuvor hat der junge Sänger – mit seinem Body-Builder-Brustkorb ein Azteke wie aus dem Bilderbuch – die spielerische Seite des Fürsten gezeigt. Den anrückenden spanischen Eroberern begegnen die Ureinwohner mit Ironie, führen kleine Tänzchen auf, ziehen sich bunte Sachen an, parodieren die Ethno-Klischees unserer Tage.

Der mexikanische Regisseur Claudio Valdés Kuri inszeniert kraftvoll, körperbetont und krude. Doch hinter manchen Gags, die auf den ersten Blick albern wirken, stecken tiefer gehende Gedanken. Zum Beispiel kommt der spanische Abgesandte (hervorragend: Christophe Carré) mit einem Hund in Montezumas Tempel an. Das Tier macht Kunststückchen, bellt in die Arien und schlabbert eine Oboistin des Concerto Elyma im halb hohen Orchestergraben ab.

Der reale Montezuma hielt – so geht zumindest eine Historikertheorie – die Spanier für Götter, weil sie Pferde hatten. Das kannten die Azteken nicht. Nun lässt sich auf die – übrigens akustisch für Opern sehr problematische – Mülheimer Stadthalle keine Kavallerie stellen. Aber der verblüffte Blick auf den dressierten Hund erzählt von einer ähnlichen Faszination. Diese Spanier können den Tieren befehlen, also kämpft man besser nicht gegen sie.

Kuri hat ein junges, aufopferungsvolles Sängerensemble um sich geschart, das mehrere Monate mit ihm probiert, sich in die historischen Hintergründe eingearbeitet und an Originalschauplätzen recherchiert hat. Das ist für den Regisseur eine kurze Zeit, er arbeitet sonst ein ganzes Jahr an seinen Stücken. Der große Zusammenhalt ist zu spüren, die Sänger haben einen enormen Spaß auf der Bühne. Nicht jeder Gag ist gelungen, manchmal hat der Abend Züge eines Studententheaters. Doch die Frische und die Energie machen vieles wett.

"Montezuma" ist eine Gratwanderung, Opernpuristen müssen die Zähne zusammenbeißen, und für Schauspielbesucher ist eine Barockoper sehr ungewohnt. Doch Grenzgänge gehören zum Konzept des Festivals, dessen Leiterin Frie Leysen "Perspektivwechsel" als Schlüsselwort ausgegeben hat.

Das bedeutet in diesem Fall, dass Kuri eine zweite Ebene in die Aufführung zieht, die gegen Ende immer klarer wird. Es ist alles ein Spiel, die heutigen Mexikaner erforschen ihre Wurzeln und finden sie bei den Azteken ebenso wie bei den Spaniern. Die Oper endet auch nicht mit Montezumas Tod. In einem Epilog, zu dem Musik des Mexikaners Luis Antonio Rojas erklingt, setzen sich die Sänger zusammen und formulieren eine vage Hoffnung. Der auf alte Musik spezialisierte Dirigent Gabriel Garrido konzentriert sich nicht auf geschmeidigen Wohlklang, wie man die Oper auf CD hören kann.

Er lässt die jungen Musiker ebenso rau, wild und zerklüftet spielen, wie die Inszenierung sich gebärdet. Auf den historischen Instrumenten geht mancher Ton daneben, auch nicht jeder Einsatz ist sauber, aber es schäumt und sprudelt im Orchester. Allzu tief geht die Beschäftigung mit der mexikanischen Mischidentität nicht, aber Kuri und Garrido präsentieren eine energetische, ungewöhnliche Form des Musiktheaters, die aus dem geriatrischen Ghetto mancher Hochglanzfestivalproduktionen ausbricht. Junge Leute reißen die Oper an sich und machen damit ihr eigenes Ding. Gut so.

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