Der Geist aus dem Krautfass

Was Geschichte ist, weiß Herr Kaminski, der strenge polnische Volksschullehrer in Ratibor kurz nach Kriegsende, ganz genau. Seinen Schülern, Deutschen, Polen und Roma, erklärt er: Geschichte ist so was wie ein Märchen, aber wahr.
Der deutschsprachige Autor und polnische Literaturwissenschaftler Leszek Libera hat einen skurrilen Roman über die ersten Nachkriegsjahre im deutsch-polnisch-tschechischen Grenzgebiet vorgelegt. "Der Utopek" spielt zwischen 1945 und 1947 in Ratibor, der oberschlesischen Stadt an der Oder, die zwischen den Weltkriegen an der Peripherie des Deutschen Reichs lag und am Ende des Zweiten Weltkriegs Polen einverleibt wurde. Dort, in Ratibor, wuchs der deutsche Vertriebenenfunktionär und Heimatbeschwörer Herbert Hupka auf. Nicht weit entfernt, auf Schloß Lubowitz, kam einst der deutsch und polnisch sprechende Dichter Joseph von Eichendorff zur Welt. Libera spielt in Zitaten auf Eichendorff an, er beschreibt, wie die neuen kommunistischen Herrscher dessen Denkmal zerstören, und er kommt immer wieder auf Hupka zu sprechen.

Liberas Ratibor entpuppt sich als grandiose Metapher für das Scheitern der nationalstaatlichen Idee. Denn seine derben, volkstümlichen Schlesier schlüpfen je nach Bedarf in die ihnen angebotenen politischen oder nationalen Rollen. Im NS-Staat schlagen sie im Suff straflos einen Polen, in der polnischen Volksrepublik werden sie Polizisten – und bleiben sich dabei treu. Der Fleischer Tytko glaubt nicht an "den Quatsch mit dem Auschwitz", aber auch nicht an die Existenz von Lamsdorf, einem durch seine Unmenschlichkeit berüchtigten Internierungslager für Deutsche nach Kriegsende. Erwin Pijafka, der mit Schuhcreme und Honig handelt, hat vor 1945 Hitlerfiguren aus Honigwachs geformt, jetzt modelliert er Stalin. Max Krupa fühlt nun so polnisch, dass er meint, sich von den Krupps in Essen distanzieren zu müssen, obwohl diese gar nicht mit ihm verwandt sind.

Den kleinbürgerlichen Alltag inmitten eines großen Wandels – die kommunistische Herschafft verfestigt sich, aus den polnischen Ostgebieten kommen bei allen unwillkommene Flüchtlinge, Relikte deutscher Kultur werden beseitigt – beleuchtet Libera aus der Sicht des heranwachsenden Buks Molenda. Molenda gehört zur Spezies der Utopeks, jener Geister, die laut schlesischer Mythologie Wasserleichen oder Föten entsteigen. Liberas Erzähler ist ziemlich bösartig, einfältig und verantwortungslos, eine Art Simplizissimus mit Verdauungsstörungen und Hang zum Obszönen, darin zugleich ein ferner Verwandter von Günter Grass’ buckligem Blechtrommler Oskar. Der Utopek Molenda wohnt, an den antiken Philosophen Diogenes erinnernd, vorzugsweise in einem Krautfass, das alle möglichen Laute von sich gibt und ihm dort weiterhilft, wo seine nicht gerade hoch entwickelte Mitteilungsgabe zu versagen droht.

Leszek Libera, geboren 1948 in Ratibor, hat seinen Roman in einer rabiaten, grammatisch geradezu demolierten deutschen Volkssprache verfasst und dabei Eigenheiten des hierzulande gern als "Wasserpolnisch" belächelten Schlesisch aufgegriffen. Entstanden ist ein märchenhaftes, wunderbar bösartiges Werk über einen Umbruch in einer Übergangszone des vom Nationalstaat besessenen Europa. Kaum zu glauben, daß dieses Buch erst 25 Jahre nach der Vorlage des Manuskripts einen Verlag gefunden hat, noch dazu einen deutschen. Immerhin: Zu spät ist es nicht!

Besprochen von Martin Sander

Leszek Libera: Der Utopek. Roman
Neisse Verlag, Dresden 2010
260 Seiten, 18 Euro