Der Gemeinschaftsrausch der Bestialität
Es ist einer der ersten publizistischen Versuche, die Ereignisse der Reichspogromnacht umfassend einzuordnen. Eindringlich und mit düsterer Vorahnung beschreibt der deutsche Journalist Konrad Heiden die Übergriffe auf Juden am 9./10. November 1938. Nun ist sein Text erstmals auf Deutsch erschienen.
Man setze sich in ein Café oder auf einen öffentlichen Platz, beobachte das alltägliche Treiben, nehme dieses Buch und lese 60, 70 Seiten. Die Wahrnehmung ändert sich. Ist das friedliche Treiben nur eine trügerische Ruhe? Wozu wären die Menschen um einen herum fähig? Konrad Heiden beschreibt derart dicht, was am 9./10. November 1938 vor aller Augen geschah, dass man als Leser die zeitliche Distanz zum Geschehen vor nunmehr 75 Jahren verliert.
"Der Kurfürstendamm, die große Prachtstraße des westlichen Berlins, sah am Mittag des 10. November aus wie nach einem Luftbombardement. Das Pflaster mit Glas bedeckt, mit zerbrochenen Möbelstücken, umgestürzten Warenstapeln, zerrissenen Kleidern", schreibt er und kommentiert: "Bestialität ist ein Gemeinschaftsrausch. Diese Beobachtung sei allen empfohlen, die die Geschichte dieser Zeit zu verstehen wünschen."
Heiden hat sein Buch über die Pogrome des November 1938 verfasst, kurz, nachdem sie sich ereignet hatten. Er lebte seit 1935 im Exil in Frankreich und gehörte zu den erfolgreichsten Publizisten unter den deutschen Emigranten. 1936 und 1937 veröffentlichte er in einem Züricher Verlag eine zweibändige Hitler-Biografie – ein in mehrere Sprachen übersetzter Bestseller, der ihn international berühmt machte: Denn neben der Hitler-Biografie von Rudolf Olden war es das erste große Werk über den Mann, der Europa in Angst und Schrecken versetzte. Als im November 1938 die alarmierenden Nachrichten aus Deutschland eintrafen, machte sich Heiden sofort an die Arbeit, recherchierte in NS-Blättern, wertete Augenzeugenberichte jüdischer Flüchtlinge und ausländischer Beobachter aus und verfasste innerhalb weniger Wochen sein Buch über die Pogrome des 9./10. November.
"Dies Buch wünscht objektiv zu sein", betont er mehrfach. Tatsächlich bemüht er sich, Übertreibungen und Pauschalverurteilungen zu vermeiden - und zu unterscheiden: Die Zerstörung der Geschäfte und Wohnungen von Juden fand zwar in aller Öffentlichkeit statt, sei aber von SA- und SS-Horden durchgeführt worden. Diese sind für ihn die verantwortlichen Täter, vor allem die SS. Die Bevölkerung sei passiv geblieben, schwankend zwischen Verständnislosigkeit und Ablehnung. Begreiflicherweise sei offener Widerspruch selten gewesen.
So sehr er sich um abgewogene Urteile bemüht: Er beschreibt die Vorgänge mit Leidenschaft und Sarkasmus und der düsteren Ahnung, wohin die Entwicklung führen könne, zum Massenmord an den Juden. Dennoch endet sein Buch erstaunlich optimistisch. Die Deutschen seien von der Notwendigkeit der NS-Regierung nicht mehr überzeugt und sie würden ihr früher oder später nicht mehr folgen. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Wie weit das Volk dem Führer folgte, hat er bald zu spüren bekommen, als ihm während des Krieges nur knapp die Flucht nach Südfrankreich, nach Portugal und schließlich in die USA gelang.
Es ist gut, dass dieses Buch neu herausgegeben worden ist. Es vergegenwärtigt ungeheuer eindringlich die dramatische Geschichte, über die nur noch wenige Zeitzeugen berichten können. Der umfangreiche Anmerkungsapparat zeugt von der editorischen Sorgfalt der Herausgeber. Im zweiten Teil zeichnen sie Leben und Werk Heidens nach, der leider nur noch in Fachkreisen bekannt ist. Seine publizistische Bedeutung in den späten 30er-Jahren kann sich mit der von Sebastian Haffner messen. Da er im Unterschied zu Haffner nach 1945 keine Karriere mehr gemacht hat und in den USA geblieben ist, wo er 1966 starb, ist er in Vergessenheit geraten. Diese Wiederveröffentlichung aber zeigt, wie sehr es sich lohnt, ihn und seine Bücher wiederzuentdecken.
Besprochen von Winfried Sträter
"Der Kurfürstendamm, die große Prachtstraße des westlichen Berlins, sah am Mittag des 10. November aus wie nach einem Luftbombardement. Das Pflaster mit Glas bedeckt, mit zerbrochenen Möbelstücken, umgestürzten Warenstapeln, zerrissenen Kleidern", schreibt er und kommentiert: "Bestialität ist ein Gemeinschaftsrausch. Diese Beobachtung sei allen empfohlen, die die Geschichte dieser Zeit zu verstehen wünschen."
Heiden hat sein Buch über die Pogrome des November 1938 verfasst, kurz, nachdem sie sich ereignet hatten. Er lebte seit 1935 im Exil in Frankreich und gehörte zu den erfolgreichsten Publizisten unter den deutschen Emigranten. 1936 und 1937 veröffentlichte er in einem Züricher Verlag eine zweibändige Hitler-Biografie – ein in mehrere Sprachen übersetzter Bestseller, der ihn international berühmt machte: Denn neben der Hitler-Biografie von Rudolf Olden war es das erste große Werk über den Mann, der Europa in Angst und Schrecken versetzte. Als im November 1938 die alarmierenden Nachrichten aus Deutschland eintrafen, machte sich Heiden sofort an die Arbeit, recherchierte in NS-Blättern, wertete Augenzeugenberichte jüdischer Flüchtlinge und ausländischer Beobachter aus und verfasste innerhalb weniger Wochen sein Buch über die Pogrome des 9./10. November.
"Dies Buch wünscht objektiv zu sein", betont er mehrfach. Tatsächlich bemüht er sich, Übertreibungen und Pauschalverurteilungen zu vermeiden - und zu unterscheiden: Die Zerstörung der Geschäfte und Wohnungen von Juden fand zwar in aller Öffentlichkeit statt, sei aber von SA- und SS-Horden durchgeführt worden. Diese sind für ihn die verantwortlichen Täter, vor allem die SS. Die Bevölkerung sei passiv geblieben, schwankend zwischen Verständnislosigkeit und Ablehnung. Begreiflicherweise sei offener Widerspruch selten gewesen.
So sehr er sich um abgewogene Urteile bemüht: Er beschreibt die Vorgänge mit Leidenschaft und Sarkasmus und der düsteren Ahnung, wohin die Entwicklung führen könne, zum Massenmord an den Juden. Dennoch endet sein Buch erstaunlich optimistisch. Die Deutschen seien von der Notwendigkeit der NS-Regierung nicht mehr überzeugt und sie würden ihr früher oder später nicht mehr folgen. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Wie weit das Volk dem Führer folgte, hat er bald zu spüren bekommen, als ihm während des Krieges nur knapp die Flucht nach Südfrankreich, nach Portugal und schließlich in die USA gelang.
Es ist gut, dass dieses Buch neu herausgegeben worden ist. Es vergegenwärtigt ungeheuer eindringlich die dramatische Geschichte, über die nur noch wenige Zeitzeugen berichten können. Der umfangreiche Anmerkungsapparat zeugt von der editorischen Sorgfalt der Herausgeber. Im zweiten Teil zeichnen sie Leben und Werk Heidens nach, der leider nur noch in Fachkreisen bekannt ist. Seine publizistische Bedeutung in den späten 30er-Jahren kann sich mit der von Sebastian Haffner messen. Da er im Unterschied zu Haffner nach 1945 keine Karriere mehr gemacht hat und in den USA geblieben ist, wo er 1966 starb, ist er in Vergessenheit geraten. Diese Wiederveröffentlichung aber zeigt, wie sehr es sich lohnt, ihn und seine Bücher wiederzuentdecken.
Besprochen von Winfried Sträter
Konrad Heiden: Eine Nacht im November 1938. Ein zeitgenössischer Bericht
Herausgegeben von Markus Roth, Sascha Feuchert, Christiane Weber
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
192 Seiten, 19,90 Euro
Herausgegeben von Markus Roth, Sascha Feuchert, Christiane Weber
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
192 Seiten, 19,90 Euro