Der Genozid wirkt nach

Von Thomas Franke |
Die gut 300 Kilometer lange Grenze zwischen Armenien und der Türkei ist die undurchlässigste in Europa. Seit einigen Monaten jedoch kommt Bewegung in das Verhältnis zwischen beiden Staaten.
Die armenisch-türkische Grenze. Majestätisch erhebt sich Ararat aus der Ebene, mit mehr als 5000 Metern der höchste Berg in der Türkei. Seine Spitze ist bedeckt mit Schnee und, wie meist, von ein paar Wolken umkränzt. Den Armeniern ist der Berg heilig. In dieser Region fand 1915 eines der größten Massaker des 20. Jahrhunderts statt.

Die Armenier hatten damals keinen eigenen Staat. Die meisten von ihnen lebten im Osmanischen Reich, auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Während des Ersten Weltkrieges begannen die Türken, die armenische Bevölkerung zu vertreiben und zu ermorden. Die Armenier sagen, allein im Jahr 1915 seien anderthalb Millionen Menschen bei Todesmärschen und Massakern ums Leben gekommen, und sprechen von einem Völkermord. Die Ereignisse blieben damals im Ausland weitgehend unbeachtet.

Es ist Mittagszeit und heiß. Das Dorf heißt Markara, eine halbe Autostunde südwestlich der Hauptstadt Eriwan. Es ist der letzte Ort auf der armenischen Seite, einzelne Häuser, klein, einfach. Die Sonne blitzt auf den mit Blech gedeckten Dächern. In den Vorgärten Maulbeerbäume, die dunkelroten und gelblich-weißen Früchte sind krumm wie Maden, süß. Störche brüten auf Laternenpfählen, auf Dächern. Hinter all dem ein Zaun, dann eine geharkte Sandfläche, ein Wachturm, eine Brücke, verwaist, zugewachsen. Unkraut wuchert auf Plattenwegen. Eine große rote Fahne mit dem Halbmond: Die Türkei, von dieser Seite aus unerreichbar.

Unter einem Maulbeerbaum hockt ein junger Mann im Schatten. Neugierig steht er auf, bietet die Früchte an. Er habe gerade die Schule beendet. Weggehen möchte er nicht aus Markara. Arbeit gebe es in dem Dorf aber auch nicht. Er zeigt auf den Grenzzaun.

"Meiner Meinung nach muss man die Grenze öffnen, natürlich. Dann finden wir Arbeit, dann können wir Handel treiben, dann fließt das Geld. Und dann werden wir auch gut leben."

Die nächste große Stadt im Westen ist Kars in der Osttürkei. Die Straße dorthin ist gut, eigentlich alles kein Problem, die Fahrt könnte nur eine Dreiviertelstunde dauern. Doch wenn ein Armenier von hier aus in die Türkei fahren möchte, dann muss er über die armenische Hauptstadt Eriwan weiter nach Norden, nach Georgien, dann im Bogen quer durch Georgien hindurch bis an die türkische Grenze, dann weiter die Schwarzmeerküste hinunter und noch durch die Berge. Insgesamt dauert die Tour nach Kars mehr als 20 Stunden.

Zwei Männer kommen dazu. Auch sie sind neugierig auf die Fremden. Viele kommen nicht nach Markara. Die Grenzgegend ist Sperrgebiet. Sie wollen wissen, woher wir kommen. Aus Deutschland.

Man sollte die Grenze besser zu lassen, meint der eine. "Die Türken" hätten den Genozid verübt. Und ihnen ihr Land weggenommen. Er zeigt nach drüben, auf die Hänge des Ararat.

Warum die Türken den Genozid nicht anerkennen würden? Die hätten anstelle von Hirn Gummi im Kopf. Er werde eine Armee gründen, 100.000 Mann, und das angestammte armenische Land auf der anderen Seite des Zaunes zurückholen, in zehn Jahren.

Das Massaker im Osmanischen Reich ist das große Trauma der Armenier. Es überdeckt alles, selbst die alltägliche Armut. Die Armenier fordern, dass es Genozid, Völkermord, genannt wird und die Türkei sich zu ihrer historischen Schuld bekennt.

Nicht nur die historischen Ereignisse aus dem Jahr 1915 belasten das Verhältnis zwischen Armenien und der Türkei. Hinzu kommt der Krieg um Berg-Karabach. Karabach ist ein Landstrich in Aserbaidschan, in dem vor allem Armenier leben. Als die Sowjetunion zusammenbrach, forderten die Armenier den Anschluss von Berg-Karabach an Armenien. Die Aserbaidschaner ließen Karabach nicht ziehen. Es kam zum Krieg, in dessen Verlauf Armenien Berg-Karabach besetzte. Das ist bis heute so. Die Türken stehen auf der Seite ihres Brudervolkes, der turksprachigen Aserbaidschaner. Aus Solidarität mit ihnen brach die Türkei 1993 die diplomatischen Beziehungen zu Armenien ab. Sie fordert, dass sich Armenien aus Berg-Karabach zurückzieht. Und es gibt noch ein Problem: die Diskriminierung der armenischen Minderheit in der Türkei. Vor zwei Jahren wurde der armenische Intellektuelle Hrant Dink in Istanbul von türkischen Nationalisten ermordet. Die gegenseitigen Verletzungen sitzen tief.

Seitenwechsel: Hasbey, ein Dorf auf der türkischen Seite, gut 50 Kilometer von der Grenze nach Armenien entfernt. Truthähne laufen über den Weg. Kühe trotten nach Hause. Flache Steinhäuser pressen sich an den kargen Boden der Hochebene, dazwischen weht Wäsche im Wind. Kuhfladen sind aufgeschichtet. Die Bewohner heizen damit. Im Winter sinken die Temperaturen hier auf minus 40 Grad. Adler kreisen. Am Horizont erhebt sich der Ararat.

Etwas abseits des Dorfes schaufeln Männer einen Graben zu einem Wasserreservoir. Ihre Gesichter sind vom Bergwind zerfurcht, die Schnurrbärte schwarz und dick. Hasbey hat keine funktionierende Wasserversorgung. Das soll sich ändern. Die Weltbank hat Geld gegeben, doch zusätzlich muss jede Familie zehn Meter Graben in Eigenarbeit ausheben. Seraf Cinar lächelt zufrieden.

Er habe seine zehn Meter längst gegraben. Nur zwei Stunden habe das gedauert.
Seraf Cinar ist der Dorfvorsteher, ein kleiner Mann mit Krawatte, Strickpullunder und vielen Goldzähnen. Der Wasserspeicher oberhalb des Dorfes ist der größte Fortschritt seit langem. In Hasbey wohnen Kurden. Die Alten hätten immer von den blutigen Kämpfen zwischen Armeniern und Türken berichtet, erzählt er. Armenier wohnen hier nicht mehr.

Die karge Gegend im Osten der Türkei ist über Jahrzehnte wirtschaftlich vernachlässigt worden, hat den Anschluss an das 21. Jahrhundert noch lange nicht gefunden. Um das zu ändern, hat die regierende AKP unter Regierungschef Erdogan mehrere Programme zur Armutsbekämpfung aufgelegt. Sie hat auch keine andere Wahl, denn wenn sie die Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen möchte, dann muss sie den östlichen Landesteil entwickeln. Sie muss die Probleme mit den Minderheiten lösen sowie die Beziehungen zu den Nachbarn stabilisieren. Das sind im Osten Syrien, der Irak, Iran – allesamt unruhige Kandidaten, und eben der Südkaukasus. Erol Cebeci ist einer der führenden Außenpolitiker der Regierungspartei.

"Seit wir an der Macht sind, verfolgen wir eine Politik, die wir Null-Problem-Politik nennen. Das heißt, dass wir mit keinem unserer Nachbarn irgendwelche Probleme wollen, und das schließt auch die Probleme mit ein, die über Jahre vor uns her geschoben wurden. Armenien ist so ein Fall. Wir sind Nachbarn, wir haben ungelöste Probleme. Unabhängig davon, wer die Fortschritte blockiert, kann das so nicht bleiben."

Der Georgienkrieg im vergangenen August hat die außenpolitischen Bemühungen der türkischen Regierung noch zusätzlich verstärkt. Dadurch, dass die russische Armee die Transitstrecke in Georgien blockierte, war auch der Nordosten der Türkei auf einmal für mehrere Tage gleichsam vom östlichen Ausland abgetrennt. Denn da die Grenze zu Armenien zu ist, bleibt der Türkei nur die Straße durch Georgien. Der Krieg im August habe die Politiker in der gesamten Region wachgerüttelt, so der türkische Abgeordnete Cebeci.

"Wir wollen friedlich und wohlhabend in dieser Region leben. Wenn wir das Problem zwischen Armenien und der Türkei lösen, dann, glaube ich, hat Armenien davon größere Vorteile als wir. Das heißt aber nicht, dass es uns nicht auch weiterbringt. Der Krieg im August 2008 hat vieles verändert."

Im vergangenen Jahr lud der Präsident Armeniens, Sersch Sarkisian, seinen türkischen Amtskollegen Abdullah Gül zum Besuch eines Fußballspiels der beiden Nationalmannschaften nach Erivan ein. Ein erster Schritt und Gül sagte zu, kam im September, einen Monat nach dem Krieg in Georgien. Es war der erste Besuch eines türkischen Staatschefs in dem Nachbarland. Außenminister Edward Nalbandian geht die Annäherung nicht schnell genug.

"Die Türkei ist eine Geisel ihrer eigenen Politik, weil sie die Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen mit der Lösung von Berg-Karabach verbunden hat. Glücklicherweise haben die Türken aber verstanden, dass eine Verknüpfung beider Themen beide Prozesse gefährden. Deshalb haben wir jetzt begonnen, im gegenseitigen Einvernehmen – ohne jede Vorbedingung."

Erivan, die Hauptstadt Armeniens. Ein Bürogebäude etwas außerhalb des Zentrums. Grauer Beton, Putz bröckelt, einige Fenster sind kaputt. Im ersten Stock ein Empfangstresen, ganz in weiß, Ledersessel, ein großes Aquarium. Das Treppenhaus verfallen, das Parkett in vielen Büros links und rechts zerschlissen.

Im Büro von Arsen Ghazaryan dagegen ist neues helles Laminat verlegt. Ghazaryan ist Spediteur und Vorsitzender des Unternehmerverbandes von Armenien. Ghazaryan trägt ein weißes Hemd und edle Ledersandalen, ein im Kaukasus durchaus geschäftsfähiges Schuhwerk. Landkarten hängen an der Wand. Er bietet Tee und Kaffee an.

"Armenier trinken vor allem Kaffee. Aber da wir ein internationales Unternehmen sind, gibt es bei uns auch Tee.
Zur Zeit haben wir zwei Transitwege. Durch Georgien und durch Iran. Wir brauchen unbedingt Alternativen, wenn wir uns dynamisch entwickeln wollen. Das betrifft nicht nur Armenien, sondern die ganze Region."

Armenische Unternehmen könnten gewaltige Kosten einsparen, wenn sie ihre Waren direkt über die armenisch-türkische Grenze in die türkischen Mittelmeerhäfen bringen, dort verschiffen und auf dem Weltmarkt anbieten würden, meint Ghazaryan. Er rechnet vor, dass sich die Transportkosten, je nach Gut, um 20, sogar um 30 Prozent verringern würden. Dazu käme die Türkei als Absatzmarkt.

"Wir importieren zur Zeit Waren aus der Türkei im Wert von 100 Millionen US-Dollar im Jahr. Armenien hat immer Waren und Dienstleistungen ohne Hindernisse ins Land gelassen, die Türkei hat das nicht. Wir könnten von trivialen Lebensmitteln aus dem Agrarsektor bis hin zu Strom, Gas und Zement vieles liefern."

Und schließlich würde Armenien selbst wieder Transitland werden und von den Nachbarn Transitgebühren kassieren. Bisher verlaufen alle Transitrouten durch Georgien, auch die lukrativen Öl- und Gaspipelines. Und das, obwohl der Weg durch Armenien kürzer wäre. Arsen Ghazaryan ist zugleich Co-Vorsitzender des Rates für die Entwicklung armenisch-türkischer Geschäftsbeziehungen. Dieser Rat wurde bereits vor zwölf Jahren in Istanbul und Erivan gegründet. Er ist die erste gemeinsame türkisch-armenische Institution, die sich für bessere Beziehungen zwischen den beiden Staaten einsetzt. Dass die armenisch-türkische Grenze nicht schon längst geöffnet ist, sei allein die Schuld der Türken, meint Ghazaryan.

"Unser Präsident und die Regierung haben im letzten Jahr die ersten Schritte getan und eine sehr mutige und sehr offene Politik gegenüber der Türkei gemacht. Unsere Führung hat den politischen Willen die Beziehungen zu normalisieren – für Frieden und Zusammenarbeit. Damit bin ich sehr zufrieden. Wirklich. Ohne jedes Aber.
Wenn jetzt jemand fragt: Muss man die Grenze öffnen? Fragen Sie das die türkische Regierung! Die aserbaidschanische Regierung! Nicht die armenische."

Auch hier gilt, wie in jedem festgefahrenen Konflikt: Schuld sind immer die anderen.

Zurück ins Grenzgebiet, in die Ararat-Ebene, auf die armenische Seite. Panzer sind in den trockenen Boden eingegraben. Ihre Geschütze zeigen in Richtung Türkei. Alte Eisenbahnwaggons stehen herum. Die Schienen gibt es schon lange nicht mehr.

Etwa fünf Kilometer vor der Grenze liegt das Dorf Eraskahun, das Nachbardorf von Markara.
Geworg Badalian kommt die Straße entlang, sieht die Fremden, lädt sie ein in sein Haus. Es sei nicht gut, so lange auf der Straße zu stehen, hier sei Sperrgebiet.

Das Haus ist klein und kühl. Auf dem Sofa sitzt die Enkeltochter mit dem Nachbarkind, beide lutschen auf Aprikosen, kommen mit den Füßen kaum über die Sofakante. Seine Vorfahren hätten drüben gelebt, auf der türkischen Seite, erzählt Badalian, nur etwa acht Kilometer von Eraskahun entfernt. 1915 flohen sie von dort, wie alle anderen Bewohner. Dennoch würde er gern mal hinüber fahren in die Türkei und das Dorf seiner Vorfahren ansehen.

"Mit den Nachbarn muss man in Freundschaft leben. Immer. Nicht in Feindschaft. Sie sind auch von Gott geschaffen. Und Gott hat nicht unterschieden zwischen Türken, Armeniern, Russen. Wir sind alle seine Kinder."