Der geschichtsbewusste Riese
Helmut Kohl war der Kanzler, der im Nachkriegsdeutschland am Längsten regiert hat. Hans-Peter Schwarz möchte dem "Riesen", wie er ihn nennt, ein Denkmal setzten und geht dabei sehr akribisch vor.
Die Idee ist nicht schlecht. Im Prolog seines 1.052 Seiten starken Werks über den Bundeskanzler, der die Republik am längsten regiert hat, beschreibt Hans Peter Schwarz die Inszenierung des Abschieds 1998. Großer Zapfenstreich vor großer Kulisse, dem alten Kaiserdom zu Speyer. Die Szene ist charakteristisch für den geschichtsbewussten Helmut Kohl, der die große Geste liebte und sich selbst gern auf die Bühne historischer Bedeutsamkeit stellte.
"Der Riese, der sich hier mit großer Gebärde wie ein scheidender Kaiser verabschiedet", schreibt Schwarz. "Der Riese" ist auch der Titel des Prologs, Schwarz' Synonym für seinen Helden, dessen Weg er von den Kindheits- und Jugendjahren bis zu seinem politischen Ende nachzeichnet.
So wird aus einer guten Idee ein denkbar schlechter Auftakt. Allzu deutlich gibt Schwarz von Anfang an zu erkennen, dass er seinem "geschichtsbewussten Riesen", dem Politiker "voll physischer und psychischer Energie", ein biografisches Denkmal setzen will.
"Nie zuvor in der neuesten deutschen Geschichte ist eine stolze politische Größe von der Öffentlichkeit so tief gedemütigt worden, wie es ihm widerfahren ist."
Das ist die Botschaft, die sich durch das ganze Buch hindurch zieht. Die Deutschen haben kein angemessenes Verhältnis zu Kohl entwickelt. "Zu Recht wird Helmut Kohl nun im In- und Ausland als glänzender Staatsmann gefeiert", resümiert Schwarz im Kapitel "Der glückliche Riese", als Kohl nach der Wiedervereinigung wiedergewählt wird. Und fügt ein Zitat der Meinungsforscherin vom Allensbach-Insitut hinzu:
"Elisabeth Noelle-Neumann konstatiert, seine insgesamt erfolgreiche Politik sei vom Wähler 'bemerkenswert wenig honoriert worden'."
950 Seiten plus Anmerkungen und Register: Wer dieses Buch durchlesen will, braucht Durchhaltewillen. Schwarz erzählt alles ganz genau, die zahllosen politischen Kämpfe und Details aus Kohls politischem Werdegang: Kohls prägende Jahre als Kriegskind, sein stürmisches Drängen als Jugendlicher in die Politik, seinen Aufstieg in den 60er-Jahren in Rheinland-Pfalz, seinen innerparteilichen Kampf um die Kanzlerkandidatur, seinen persönlichen Triumph der Kanzlerwahl 1982, die unverhoffte und beherzt genutzte Chance 1989/90, als Kanzler der Einheit in die Geschichte einzugehen, das "Ende des Glückskindes" – den tiefen Fall nach seiner Abwahl.
Immer bewegt sich Schwarz im Dunstkreis seines Helden. 40 Interviews hat er mit Weggefährten geführt, Tagebücher der CDU-Granden Walter Leisler Kiep und Kurt Biedenkopf ausgewertet, eine enorme Fleißarbeit. Und so ist die Perspektive, aus der diese Biografie geschrieben ist, die der Männer um Kohl herum. Deshalb ist das Bild, das Schwarz von Kohl zeichnet, durchaus nicht unkritisch. Denn fast alle haben unter Kohl auch gelitten, seine Schwächen erlebt, irgendwann den großen Krach mit ihm gehabt, sich von ihm abgewandt oder sind von ihm ausgebootet worden. Daraus speist sich manch kritische Sicht, aber der Biograf hält letztlich immer zu Kohl.
Schwarz beherrscht die Kunst, die Erzählungen seiner Zeitzeugen so zu verarbeiten, dass die Dramen um Kohl herum erkennbar sind, zugleich aber allzu indiskrete Einblicke vermieden werden. Aber auch seine Gewährsleute haben ihm nicht alles erzählt. Welche Verabredungen es zwischen Kohl und Genscher beim Machtwechsel 1982 gab – das hat der Zeithistoriker nicht erfahren.
Schwarz kann gut erzählen, keine Frage. Aber sein Stil hat etwas Altbackenes. Der "tüchtige Mann" ist eine beliebte Figur. Überhaupt: Politik ist das Geschäft "maßgebender" (ein gern benutztes Wort) Männer. Ihre Ränke finden die ganze Aufmerksamkeit des Biografen. Dieses ältliche Politikverständnis gibt dem Buch etwas Staubiges. Man möchte fast sagen: Es ragt herüber aus der untergegangenen Bonner Republik.
In seiner Diktion und Denkart ist die Biografie des Politikwissenschaftlers und Historikers völlig distanzlos zu Kohl und seiner politischen Umgebung - fast schon eine Quelle für Historiker, die studieren wollen, wie diese kleine rheinisch-pfälzische Adenauer-Kohl-Republik tickte, in ihren konservativen Milieus.
Aber das ist nicht alles. Interessant zu lesen ist Schwarz' Beschreibung der Europapolitik Kohls, speziell in den 80er-Jahren. "Europa ähnelt immer mehr einer verlassenen Baustelle", so zitiert Schwarz den französischen Präsidenten Mitterrand 1984. Während Kohl nach seiner "Machtergreifung" 1982 (Schwarz benutzt tatsächlich diesen Begriff) innenpolitisch von einer Krise in die nächste schlittert, leistet er in der Europapolitik Großes. Er hat maßgeblichen Anteil daran, dass in den 80er-Jahren die Grundlagen für die europäische Integration der 90er-Jahre gelegt werden.
Am Ende ist es aber gerade die Europapolitik, die Schwarz skeptisch macht, ob Kohl als Großer in die Geschichte eingeht. Wenn der Euro scheitert und Europa darüber auseinander bricht, werde Kohl zur "tragischen Größe", fürchtet Schwarz.
Besprochen von Winfried Sträter
Hans-Peter Schwarz: "Helmut Kohl. Eine politische Biographie"
DVA, München 2012
1056 Seiten, 34,99 Euro
"Der Riese, der sich hier mit großer Gebärde wie ein scheidender Kaiser verabschiedet", schreibt Schwarz. "Der Riese" ist auch der Titel des Prologs, Schwarz' Synonym für seinen Helden, dessen Weg er von den Kindheits- und Jugendjahren bis zu seinem politischen Ende nachzeichnet.
So wird aus einer guten Idee ein denkbar schlechter Auftakt. Allzu deutlich gibt Schwarz von Anfang an zu erkennen, dass er seinem "geschichtsbewussten Riesen", dem Politiker "voll physischer und psychischer Energie", ein biografisches Denkmal setzen will.
"Nie zuvor in der neuesten deutschen Geschichte ist eine stolze politische Größe von der Öffentlichkeit so tief gedemütigt worden, wie es ihm widerfahren ist."
Das ist die Botschaft, die sich durch das ganze Buch hindurch zieht. Die Deutschen haben kein angemessenes Verhältnis zu Kohl entwickelt. "Zu Recht wird Helmut Kohl nun im In- und Ausland als glänzender Staatsmann gefeiert", resümiert Schwarz im Kapitel "Der glückliche Riese", als Kohl nach der Wiedervereinigung wiedergewählt wird. Und fügt ein Zitat der Meinungsforscherin vom Allensbach-Insitut hinzu:
"Elisabeth Noelle-Neumann konstatiert, seine insgesamt erfolgreiche Politik sei vom Wähler 'bemerkenswert wenig honoriert worden'."
950 Seiten plus Anmerkungen und Register: Wer dieses Buch durchlesen will, braucht Durchhaltewillen. Schwarz erzählt alles ganz genau, die zahllosen politischen Kämpfe und Details aus Kohls politischem Werdegang: Kohls prägende Jahre als Kriegskind, sein stürmisches Drängen als Jugendlicher in die Politik, seinen Aufstieg in den 60er-Jahren in Rheinland-Pfalz, seinen innerparteilichen Kampf um die Kanzlerkandidatur, seinen persönlichen Triumph der Kanzlerwahl 1982, die unverhoffte und beherzt genutzte Chance 1989/90, als Kanzler der Einheit in die Geschichte einzugehen, das "Ende des Glückskindes" – den tiefen Fall nach seiner Abwahl.
Immer bewegt sich Schwarz im Dunstkreis seines Helden. 40 Interviews hat er mit Weggefährten geführt, Tagebücher der CDU-Granden Walter Leisler Kiep und Kurt Biedenkopf ausgewertet, eine enorme Fleißarbeit. Und so ist die Perspektive, aus der diese Biografie geschrieben ist, die der Männer um Kohl herum. Deshalb ist das Bild, das Schwarz von Kohl zeichnet, durchaus nicht unkritisch. Denn fast alle haben unter Kohl auch gelitten, seine Schwächen erlebt, irgendwann den großen Krach mit ihm gehabt, sich von ihm abgewandt oder sind von ihm ausgebootet worden. Daraus speist sich manch kritische Sicht, aber der Biograf hält letztlich immer zu Kohl.
Schwarz beherrscht die Kunst, die Erzählungen seiner Zeitzeugen so zu verarbeiten, dass die Dramen um Kohl herum erkennbar sind, zugleich aber allzu indiskrete Einblicke vermieden werden. Aber auch seine Gewährsleute haben ihm nicht alles erzählt. Welche Verabredungen es zwischen Kohl und Genscher beim Machtwechsel 1982 gab – das hat der Zeithistoriker nicht erfahren.
Schwarz kann gut erzählen, keine Frage. Aber sein Stil hat etwas Altbackenes. Der "tüchtige Mann" ist eine beliebte Figur. Überhaupt: Politik ist das Geschäft "maßgebender" (ein gern benutztes Wort) Männer. Ihre Ränke finden die ganze Aufmerksamkeit des Biografen. Dieses ältliche Politikverständnis gibt dem Buch etwas Staubiges. Man möchte fast sagen: Es ragt herüber aus der untergegangenen Bonner Republik.
In seiner Diktion und Denkart ist die Biografie des Politikwissenschaftlers und Historikers völlig distanzlos zu Kohl und seiner politischen Umgebung - fast schon eine Quelle für Historiker, die studieren wollen, wie diese kleine rheinisch-pfälzische Adenauer-Kohl-Republik tickte, in ihren konservativen Milieus.
Aber das ist nicht alles. Interessant zu lesen ist Schwarz' Beschreibung der Europapolitik Kohls, speziell in den 80er-Jahren. "Europa ähnelt immer mehr einer verlassenen Baustelle", so zitiert Schwarz den französischen Präsidenten Mitterrand 1984. Während Kohl nach seiner "Machtergreifung" 1982 (Schwarz benutzt tatsächlich diesen Begriff) innenpolitisch von einer Krise in die nächste schlittert, leistet er in der Europapolitik Großes. Er hat maßgeblichen Anteil daran, dass in den 80er-Jahren die Grundlagen für die europäische Integration der 90er-Jahre gelegt werden.
Am Ende ist es aber gerade die Europapolitik, die Schwarz skeptisch macht, ob Kohl als Großer in die Geschichte eingeht. Wenn der Euro scheitert und Europa darüber auseinander bricht, werde Kohl zur "tragischen Größe", fürchtet Schwarz.
Besprochen von Winfried Sträter
Hans-Peter Schwarz: "Helmut Kohl. Eine politische Biographie"
DVA, München 2012
1056 Seiten, 34,99 Euro