Der geschönte Armutsbericht der Bundesregierung

Wer arm ist, zählt wenig

"Armut" steht auf einer Mauer
Armut in Deutschland - ein verdrängtes Problem © dpa-Zentralbild
Von Christoph Butterwegge |
Nach langem Streit zwischen Sozialministerium und dem Kanzleramt beschließt das Kabinett am heutigen Mittwoch den fünften Armuts- und Reichtumsbericht. Einen Vorteil haben die Streitereien, meint Christoph Butterwegge: Sie machen transparent, was vertuscht werden sollte.
Das war mal wieder eine schwere Geburt: Wie ihre schwarz-gelbe Vorgängerregierung hat es die Große Koalition wegen interner Meinungsverschiedenheiten nicht geschafft, den Bericht über die Lebenslagen in Deutschland fristgerecht vorzulegen. Das hätte nämlich schon zur Mitte der Legislaturperiode passieren sollen, also vor anderthalb Jahren.

Zensiert!

Bereits im Vorfeld der endgültigen Ressortabstimmung mit den übrigen Bundesministerien wurden zentrale Aussagen des Ursprungsentwurfs abgeändert, abgeschwächt oder ganz gestrichen.
Vergleichbares hatte es auch schon beim 4. Regierungsbericht im Spätsommer 2012 gegeben. Damals ließ Wirtschaftsminister und Vizekanzler Philipp Rösler (FDP) mehrere Passagen des Entwurfs von Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) abmildern oder wegfallen.
Sie betrafen den ausufernden Niedriglohnsektor, die zunehmende Lohnspreizung und die extreme Verteilungsschieflage. Sozialdemokratische Politiker warfen der schwarz-gelben Regierungskoalition nach Bekanntwerden der geänderten Fassung vor, intern Zensur ausgeübt, manipuliert und Berichtskosmetik betrieben zu haben.

Anliegen armer Menschen finden wenig Berücksichtigung

Das bestreitet die damalige SPD-Generalsekretärin und heutige Sozialministerin Andrea Nahles im aktuellen Fall, obwohl auf Initiative des Bundeskanzleramtes die theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Armut bzw. Reichtum und Demokratie entfielen.
Gestrichen hat sie außerdem das Unterkapitel "Einfluss von Interessensvertretungen und Lobbyarbeit", zusammengestrichen das Ergebnis einer Untersuchung, wonach die Wahrscheinlichkeit für eine Politikänderung wesentlich höher ist, wenn diese von vielen Befragten mit höherem Einkommen unterstützt wird. Selbst eine so banale Erkenntnis wie die, dass zumindest sehr Reiche politisch einflussreicher als Arme sind, sorgte für Konfliktstoff zwischen den Regierungsparteien.

Armut hemmt Wirtschaftswachstum

Umformuliert wurde auch ein Absatz, in dem es hieß, hohe Ungleichheit könne das Wirtschaftswachstum dämpfen, weshalb die "Korrektur von Verteilungsergebnissen" als "wichtige gesellschaftliche Aufgabe" gelten müsse. Nach der Intervention des Kanzleramtes ist jetzt nur noch zu lesen, die Auswirkungen großer sozialer Ungleichheit auf das Wirtschaftswachstum eines Landes seien empirisch nicht eindeutig belegt.
Offenbar missfällt dem Kanzleramt jeder Hinweis auf den engen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Stellung von Bürgern und ihren Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Politik. Dementsprechend tilgte es auch den sich auf die extrem niedrige Wahlbeteiligung von Armen gründenden Fachbegriff "Krise der politischen Repräsentation", der vor einer Zementierung der bestehenden Verteilungsschieflage warnt.

Verteilungsschieflage bedroht Demokratie

Seine aufklärerische Funktion hat der neue Armuts- und Reichtumsbericht also durch die subtile Opposition der Union gegenüber solchen Aussagen des Ursprungsentwurfs weitgehend eingebüßt. Dass die soziale Ungleichheit nicht bloß den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht, sondern auch eine Gefahr für die Demokratie bildet, will ein maßgeblicher Teil der Regierungskoalition gar nicht hören. Umso besser, möchte man als kritischer Beobachter meinen, dass dieser Armuts- und Reichtumsbericht wegen seiner verspäteten Fertigstellung eine Rolle im nächsten Bundestagswahlkampf spielen wird!

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher "Armut" (PapyRossa Verlag) und "Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung. Eine sozial- und steuerpolitische Halbzeitbilanz der Großen Koalition" (Springer VS) erschienen. 2016 war er Kandidat für das Amt des deutschen Bundespräsidenten, nominiert von der Partei Die LINKE.

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