Konjunktur der Verschwörungstheorie
Barack Obama habe ihn im Wahlkampf abgehört: Ganz ohne Beweise erhebt Donald Trump diesen Vorwurf gegen seinen Amtsvorgänger. Mit derartigen Verrücktheiten mache sich der US-Präsident zum mächtigsten Symptomträger der Verschwörungstheorie, kommentiert Bernhard Pörksen.
Vielleicht werden Mentalitätshistoriker auf der Suche nach den Bewusstseinsspuren einer Epoche dereinst vier Tweets von Donald Trump ausgraben, die er kürzlich im Abstand von wenigen Minuten abgefeuert hat. Vielleicht werden diese vier Tweets eines Tages als Signatur dieser Epoche gelten, die man die "Zeit des großen Verdachts" nennen könnte. Donald Trump wirft hier in seiner hämmernden Wut-Prosa dem Vorgänger-Präsidenten Barack Obama vor, er habe ihn während des Wahlkampfes abhören und ausspionieren lassen. Und er greift damit die Verschwörungstheorie eines "tiefen Staates" auf, die schon länger unter seinen Anhängern und Beratern kursiert.
Der tiefe Staat – das sind die Kräfte, die sich im Establishment von Washington und im Gefolge von Barack Obama zum Putsch verabredet haben, um Trump scheitern und ihn irgendwann über Gerüchte zu seinen Russland-Verbindungen stürzen zu lassen. Ist das nicht verrückt? Natürlich ist es das, denn es gibt keinen einzigen belastbaren Beweis für die Abhöraktion. Aber eben diese Verrücktheit ist symptomatisch für die Zeit des großen Verdachts. Alles scheint möglich, alles denkbar. Trump ist nur der seltsamste und mächtigste Symptomträger dieser fiebrigen Mentalgymnastik, die im pauschalen Argwohn und der totalen Skepsis erstarrt.
Verschwörungstheorie wird diskursmächtig
Umfragen belegen: Die Verschwörungstheorie, einst eine Denkfigur der Selbstisolation, ein Exerziersport von Spinnern an der Peripherie, breitet sich auch hierzulande aus, sie wird diskursmächtig. Sind es russische Trolle und die Geheimdienste einer fremden Macht, die in den sozialen Netzwerken attackieren? Regieren Schweigekartelle in den Massenmedien? Haben raffinierte Digital-Spezialisten durch gezielte, personenbezogene Propaganda erst den Brexit möglich gemacht und dann dem Mann im Weißen Haus zum Wahlsieg verholfen, wie man in linksliberalen Kreisen argwöhnt?
Schon diese wenigen Fragen zeigen: Düster schillernde Manipulationsbehauptungen sind in Mode. Aber warum ist die verschwörungstheoretische Versuchung so erfolgreich, gerade jetzt, gerade heute? Die Antwort lautet, dass wir einerseits mit jeder Menge beunruhigender, fragmentarischer, für den Einzelnen kaum überprüfbarer Informationen konfrontiert sind. Und dass wir uns andererseits – auf der Suche nach der Ruhebank fester Wahrheiten – blitzschnell und sehr leicht in eine Wirklichkeitsblase hinein googeln können, die bestätigt, was wir ohnehin glauben.
Die Gleichzeitigkeit von allgemeiner Verunsicherung und der Möglichkeit, für alles sofort Bestätigung zu finden – das ist die Tiefenursache für die Fieberschübe des aktuellen Manipulationsgeraunes. Und man muss sagen: Verschwörungstheorien bieten in einer solchen Situation maximale kognitive Stabilität – bei geringen intellektuellen Unkosten. Denn sie sind, wie der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper zu sagen pflegte, "selbstimmunisierend", nicht widerlegbar; man kann auch ihre Nichtbeweisbarkeit zum Beweis umdeuten und hat damit scheinbar immer Recht. Ist nicht auch die Tatsache, dass die Belege gänzlich fehlen, der eigentliche Beleg dafür, wie raffiniert die Verschwörer vorgehen, wie geschickt sie alle Spuren verwischen?
Hinzu kommt, dass Verschwörungstheorien das Rätsel des Bösen scheinbar lösen und als einen verdeckten Kampf derjenigen erklären, die hinter den Kulissen ihren unheimlichen Dienst tun. Sie sind Weltformeln des Übels, die unmittelbar Scheinklarheit und das imaginäre Bild einer Ordnung erzeugen. Der geübte Konspirationstheoretiker ist ein Genie der Mustererkennung, ein Apostel der Kohärenz im Universum verstörender, schwer einschätzbarer Nachrichten und frei umher wirbelnder, leichthändig verknüpfbarer Daten und Dokumente.
Aufklärung braucht neue Form
Natürlich, man kann ihn verspotten. Aber immerhin wird eben durch die Konfrontation mit dieser Angstfigur des rationalen Diskurses eines unabweisbar deutlich: Aufklärung braucht heute eine neue Form. Es reicht nicht mehr, einfach nur Argumente auszutauschen, weil in den Zeiten des großen Verdachts die gemeinsame Gesprächsgrundlage bröckelt. Man muss, ganz gleich, ob in der Wissenschaft, den Medien oder der Politik, deutlich machen, was überhaupt als Beweis taugt, welche Quellen man verwendet, wie man zu den eigenen Ansichten und Gewissheiten gelangt ist.
Aufklärung über die Aufklärung, das ist es, was es heute braucht. Ob das reicht? Das ist offen. Aber Demokratie lebt – trotz vieler erschreckender Gegenbeispiele – von der Idee der Mündigkeit.