Der Halbgott und seine Kinder

Von Reinhard Baumgarten · 07.11.2013
Mustafa Kemal Atatürk hat wie kein Zweiter das Wohl und Wehe der 1923 gegründeten Republik Türkei geprägt. Noch heute wird des ersten Präsidenten mit überwältigendem Personenkult gedacht. Doch die Unantastbarkeit des Übervaters hat Risse bekommen. Atatürks Wirken und dessen Folgen werden mehr und mehr hinterfragt.
Ne mutlu türküm diyene – Glücklich, wer sich Türke nennt. Also sprach Mustafa Kemal genannt Atatürk - Vater der Türken – im Herbst 1933.

Jedes Jahr steht die Türkei am 10. November um 9.05 Uhr für eine Trauerminute still. In Erinnerung an den Tod durch Leberzirrhose von Mustafa Kemal Atatürk heulen landesweit die Sirenen. In Ankara kommt in seinem Mausoleum die politische Spitze der Republik zusammen. 57 Jahre wurde der Begründer und erste Präsident der modernen Türkei alt.

In diesem Land werde Atatürk geliebt, erklärt der Publizist Orhan Alkaya. Seine Familie liebe ihn besonders, weil sie ihn persönlich kannte:

"Der Grund unserer Liebe ist, weil er mit radikalen Reformen das erreicht hat, was die Türken eigentlich schon seit 1820 anstrebten: den Anschluss an die westliche Moderne. Das hat er mit sehr radikalen Schritten bewirkt. Das damit verbundene Trauma ist heute noch nicht ganz überwunden."

Geboren 1881 als Mustafa in der damals zum osmanischen Reich gehörenden nordgriechischen Stadt Saloniki. Der Überlieferung zufolge bekam er von einem Lehrer den Beinamen Kemal – der Vollkommene. Den Ehrentitel Pasha erhielt er aufgrund militärischer Verdienste – insbesondere bei der Verteidigung der Dardanellen gegen britische Angreifer im Jahr 1915. Per Gesetz wurde dem damals 53-Jährige 1934 schließlich der Familienname Atatürk zugesprochen.

Symbol und Tabu
Atatürk sei heute in der türkischen Gesellschaft nicht nur ein Symbol, diagnostiziert der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar, Atatürk sei ein Tabu:

"Ich glaube, die Türkei ist das einzige Land der Welt, das einen Mann anbetet, der seit 75 Jahren tot ist. Das gibt's nicht mal in Nordkorea. Das ist einzigartig, und es ist total schizophren."

Offizier, Kriegsheld, Feldherr, Befreier, Reformer, Modernisierer – die moderne Türkei ist ohne Mustafa Kemal Atatürk nicht denkbar. Er war die zentrale Figur des türkischen Widerstands gegen den Vertrag von Sèvres, der die Reste des Osmanischen Reiches weitgehend unter die Kontrolle von Briten, Franzosen, Griechen, Russen, Armeniern und Italienern stellte. Er war die Leitfigur im Krieg gegen griechische Truppen, die weite Teile Kleinasiens erobern wollten und im August 1922 entscheidend geschlagen wurden.

Mustafa Kemal Atatürk gilt als die treibende Kraft bei der Abschaffung des Sultanats als Jahrhunderte alte Herrschaftsform sowie der Abschaffung des Kalifats. Seit dem frühen 16. Jahrhundert nannten sich die osmanischen Herrscher Kalif und sahen sich damit als die höchsten Repräsentanten der "Umma"– der weltweiten islamischen Gemeinschaft.

Mustafa Kemal Atatürk setzte in den 20er- und 30er-Jahren beispiellose politische und gesellschaftliche Reformen ins Werk. Die Idee dafür hatte er bereits Mitte 1918 seinem Tagebuch anvertraut:

"Sollte ich eines Tages großen Einfluss oder Macht besitzen, halte ich es für das Beste, unsere Gesellschaft schlagartig, sofort und in kürzester Zeit zu verändern. Denn im Gegensatz zu anderen glaube ich nicht, dass sich diese Veränderung erreichen lässt, indem die Ungebildeten nur schrittweise auf ein höheres Niveau geführt werden. Mein Innerstes sträubt sich gegen eine solche Auffassung."

Die alte Ordnung hatte versagt und musste ersetzt werden. Am 29. Oktober 1923 wurde im zentralanatolischen Ankara die Republik Türkei gegründet. Zehn Jahre später erklärte Atatürk:

"Meine Bürger, wir haben in kurzer Zeit viel erreicht und große Aufgaben gemeistert. Am meisten sticht die Gründung der Republik Türkei hervor, deren Grundlage türkisches Heldentum und die große türkische Kultur ist. Wir schulden diesen Erfolg dem kooperativen Fortschritt der türkischen Nation und ihrer wertvollen Armee."

Strikte Trennung von Staat und Religion
Der radikale Bruch mit der stark im Orient verwurzelten Vergangenheit war ein gewagter, aber auch folgenreicher Schritt, stellt der Politikwissenschaftler Cengiz Aktar fest. Der starre Blick nach Westen beeinflusste das Sehvermögen der neuen Nation ganz erheblich:

"Die Türken können ihre eigenen Archive nicht lesen. Sie haben keine Erinnerung. Das Alphabet wurde geändert. Das Lehren von Arabisch und Osmanisch war verboten. Es ist eine total selbstvergessene Nation. Es ist eine total künstliche Nation, die auf den Resten des osmanischen Imperiums aufgebaut wurde - mit all den Katastrophen, die das Imperium durchgemacht hat in den letzten Jahren seiner Existenz. Beispielsweise der armenische Genozid und die Ausweisung der anatolischen Griechen. Das waren echte soziale, politische und menschliche Katastrophen."

Zu den tiefgreifenden Reformen gehörte die strikte Trennung von Staat und Religion. Qua Verfassung gilt dieses säkulare Prinzip in der Republik Türkei bis heute, betont der Publizist Orhan Alkaya:

"Das ist ein Makel. Für die Mehrheit der Gesellschaft ist Atatürk nach wie vor ein Bollwerk gegen islamistische Rückständigkeit und Autokratie sowie gegen religiösen Totalitarismus. Eine objektive Auseinandersetzung kommt deswegen kaum zustande."

Laut Verfassung ist die Türkei seit den Tagen Mustafa Kemal Atatürks ein laizistischer Staat. Seit mehr als elf Jahren herrscht die islamisch-konservativer AK-Partei. Deren starker Mann, Recep Tayyip Erdoðan, bezeichnet sich als gläubiger Muslim, der sich als Regierungschef den laizistischen Prinzipien verpflichtet fühle:

"Es sind sehr viele Atatürkçü – Kemalisten - dahergekommen. Immer sagten sie, sie würden die Türkei über den Stand der gegenwärtigen Zivilisationen stellen. Alle haben sie die Türkei zurückgesetzt. So, wie es in diesem Land Menschen gibt, die die Religion missbrauchen, so gibt es auch Menschen in diesem Lande, die sowohl den Kemalismus, als auch den Laizismus missbrauchen. Das sei mal gesagt!"

Weltliche Verfassung statt Scharia
Atatürks Blick ging strickt nach Westen. Dort sah er die lichte Zukunft seiner Republik. Konsequent kappte er alle Verbindungen zum islamischen Orient. Die arabische Schrift wurde durch lateinische Buchstaben ersetzt; Persisch und Arabisch durften bis 1934 nicht mehr gelehrt werden; die Scharia – das Islamische Recht – wurde als Grundlage des Rechtssystems durch eine weltliche Verfassung ersetzt. Viele seiner Bürger waren überfordert. Vor allem im Osten des neuen Landes begehrten Anhänger der alevitischen Glaubensrichtung und enttäuschte Kurden auf. In den 20er- und 30er-Jahren kam es zu zahlreichen bewaffneten Aufständen mit Tausenden von Toten, die noch immer ihrer historischen Aufarbeitung harren.

Es war das Zeitalter nationalistischer Bewegungen. Das Osmanische Reich war ein Vielvölkerstaat gewesen mit Dutzenden Ethnien und Sprachen. Die Republik Türkei sollte nach dem Willen ihrer Gründer – und hier vor allem nach dem Willen Atatürks - ein Nationalstaat werden. Für den Politikwissenschaftler Cengiz Aktar war das ein Geburtsfehler:

"Türkischer Nationalismus ist wie jeder Nationalismus für mich das Virus des 21. Jahrhunderts. Es ist ein tödliches Virus. Es grenzt aus, es entfremdet.

Es ist das schlechteste Exportgut des Westens. Die Türkei leidet noch immer darunter. Sie war ein völlig künstliches Gebilde, basierend auf der Religion, anders ging's nicht. Sogar die Sprache hat nicht ausgereicht, diese Nation zusammenzuhalten – keine Wirtschaft, nichts. Die einzige Möglichkeit war der Islam. Wir schlagen uns immer noch mit diesem Nationaltum herum.

Atatürk ist nicht gestorben, er lebt in den Herzen weiter. Uund er gehört noch immer in den Schulen zu den Pflichtthemen."

Nach wie vor hängen in Ämtern und öffentlichen Gebäuden sowie in vielen Läden und privaten Wohnungen Bilder von Mustafa Kemal Atatürk. Doch der zum Teil völlig überhöhte Personenkult vergangener Jahrzehnte hat sich deutlich abgeschwächt.

Verklärter Gründer und Übervater
Der aus Atatürks Tagen stammende Schul-Eid wurde kürzlich gegen den Widerstand der Republikanischen Volkspartei abgeschafft. Eingefleischte Kemalisten beschwören seit vielen Jahren immer wieder den Rückfall in orientalischen Despotismus herauf. Dreimal hat das türkische Militär seit Gründung der Republik geputscht. Jedes Mal wähnten sich die Generäle als Beschützer und Sachwalter des Atatürkschen Erbes.

Bis in die jüngste Vergangenheit, so der Bildhauer Necati Inci, habe die Gleichung bestanden. Atatürk ist gleich einem Denkmal; ein Denkmal ist gleich Atatürk:

"Ich habe selbst mal ein Sprichwort erfunden: Wir haben Atatürk zum Denkmal gemacht und das Denkmal zu Atatürk. So ist das."

Atatürk – der verklärte Übervater der Türkei. Atatürks Biografien und "Hagiografien" füllen ganze Bibliotheken. Wer in der Türkei etwas zu sagen hat, berufe sich früher oder später auf Gründervater Atatürk, stellt Cengiz Aktar nüchtern fest:

"Mustafa Kemal Atatürk ist zu etwas wie ein zwingender Umweg für jedermann geworden. Jeder sollte irgendwann einmal Atatürk erwähnen, um dessen nachträglichen Segen zu bekommen. Das hat überhaupt nichts mehr mit Atatürk zu tun. Das hat mehr mit Kemalismus und Atatürkismus zu tun. Das ist eine Rechtfertigung für alles, ob richtig oder falsch. Du stellst die Flagge auf und daneben ein Bild von Atatürk und dann bist Du sicher, Deine Sünden sind vergeben."

Ne mutlu türküm diyene – Glücklich, wer sich Türke nennt. Der von Mustafa Kemal eingeführte türkische Nationalismus ist der ethnischen Vielfalt der neuen Republik nie gerecht geworden. Der anhaltende Kurdenkonflikt im Osten des Landes zeugt noch heute davon, mahnt Cengiz Aktar. Er hält eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gründervater für überfällig:

"Die Leute sprechen über diesen Mann, wie über einen Halbgott. Das ist inakzeptabel. Wenn die Türkei eine echte Demokratie und ein erwachsenes Land werden will, dann sollte es fähig sein, alles zu diskutieren. Aber über Atatürk zu diskutieren, ist gar nicht möglich, weil es ein Gesetz gibt, das ihn schützt. Wir schützen Atatürk noch immer. Vor wem eigentlich? Wahrscheinlich vor uns selbst."

Militär, Machtmensch und Visionär
57 Jahre wurde Republikgründer Atatürk alt. Er war ein begnadeter Militär, ein Visionär, ein Machtmensch, ein mutiger Reformer. Dass er an Leberzirrhose starb, mag mit seinem Alkoholkonsum zusammenhängen. Schon als junger Offizier geriet er deshalb in Schwierigkeiten und trat eine Kur an. Atatürk hatte keine leiblichen, aber adoptierte Kinder; die Ehe mit Gattin Latife ging in die Brüche.

Was würde er über den Zustand der heutigen Republik Türkei denken – 90 Jahre nach deren Gründung? Sehr wahrscheinlich, sagt der Politikwissenschaftler Suat Özþelebi, würde er sich sehr wundern:

"Frauenrechte zum Beispiel: Wir wissen, dass es in Atatürks Parlament einen recht hohen Frauenanteil gab. Den gegenwärtigen Anteil zu sehen, würde Atatürk betrüben. Aber er würde sich freuen, zu sehen, dass die Türkei zur weltweit 17. stärksten Wirtschaftsmacht geworden ist. Überhaupt würde er sich über viele Wirtschaftsstatistiken freuen. Über die Lage der Republikanischen Volkspartei würde er sich aber sicher nicht freuen."

Denn Politiker und Anhänger dieser Partei empfinden sich stärker als alle anderen dem Idol und Übervater Mustafa Kemal Atatürk verbunden.
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