Der heitere Rationalist

Rezensiert von Martin Ahrends |
Bertrand Russell weiß, dass man Wahrheit nur haben kann, wenn man sich ihr in immer neuen Fehlgängen zu nähern sucht, und zwar so, dass es möglichst jeder versteht. Auch die jetzt wieder erschienenen Bücher sind solche Versuche auf die Wahrheit hin.
Das Hornvieh nimmt panischen Reißaus vor der Eisenbahn, die seine Weide kreuzt und ihm dabei doch gar nichts Böses will. Für Bertrand Russell ergibt sich daraus ein Gleichnis:

"Wollte man dieser metaphysischen Wiederkäuerin erklären, dass der Zug nicht beabsichtigt, die Schienen zu verlassen, und mit dem Geschick der Kuh gar nichts zu tun hat, so wäre das arme Tier verwirrt … Der Zug, der ihr weder Gutes noch Böses will, würde ihr kälter, unergründlicher und schrecklicher erscheinen als ein Zug, der ihr Übles wollte. Genau so geht es den Menschen."

Russell belustigt sich über die menschliche Art, die ihm gegenüber gleichgültige Welt auf sich zu beziehen und daran "gläubig" oder abergläubig zu werden. Religion hielt er für eine Krankheit, die aus Angst entstanden ist. Russells Gleichnis vom metaphysischen Hornvieh offenbart den speziellen Humor dieses britischen Aufklärers, der ganz im Kantschen Sinne stets den Mut bewies, sich seines Verstandes zu bedienen.

So furchtlos er in seiner religionskritischen Publizistik war, für die er in Amerika mit einem Lehrverbot abgestraft wurde, so sehr hat er namhaft gemacht, was den Menschen im 20. Jahrhundert tatsächlich in Angst und Schrecken versetzen musste: nämlich der Mensch selbst mit seinen Erfindungen.

Nicht nur in seinen Schriften, auch als politischer Initiator hat er versucht, den wirklichen Gefahren der Menschheit zu begegnen: der atomaren Bewaffnung, der Möglichkeit eines dritten Weltkrieges. In jungen Jahren hat er die Sexualmoral der christlichen Kirche gegeißelt und sie eine Vergewaltigung der menschlichen Natur genannt; in hohem Alter noch hat er Gremien und Gesprächskreise auf höchster politischer Ebene kreiert, weil er die realen Gefahren erkannte, die Staatsreligionen wie der Kommunismus – zumal im Atomzeitalter - über die ganze Menschheit bringen können.

Bertrand Russell, der Skeptiker und Universalgelehrte, dieser heitere Rationalist, der mit einem Werk über mathematische Grundlagen seinen Ruf begründete, hat danach auch mit Büchern über Glück, Freiheit und Macht, über Erziehung, über die Ehe und ihre Moral, über die deutsche Sozialdemokratie, über Russland und China, Religion, Philosophiegeschichte und die Kriegsverbrechen in Vietnam Geistes- und Politikgeschichte geschrieben.

Mit seiner nie verantwortungslosen, aber von Ehrfurcht freien Plauderei auf höchstem Niveau ermutigt er seinen Leser, die Verhältnisse, in denen er sich befangen findet, Schritt für Schritt zu durchschauen, anstatt zu kapitulieren vor ihrer Komplexität. Auch in der Darstellung kapituliert er nie vor dem tiefen Graben, der wissenschaftlich Eingeweihte von Ahnungslosen trennen kann. Als Autor im besten Sinne populär, nimmt er in Kauf, mit seinen etwas schrägen Vergleichen das Gespött der hohen Gelehrsamkeit auf sich zu ziehen.

"Ich möchte darauf hinweisen, dass schlechte Philosophie sehr gefährlich werden kann und deshalb den Grad negativen Respekts verdient, den wir etwa dem Blitz oder dem Tiger zollen."

Als Philosophiehistoriker sondert er "Ideen, die der Menschheit genützt haben" von solchen, die "ihr geschadet haben". Wohltuend sind dieser britische Pragmatismus in Weltanschauungsfragen, seine hochgebildeten, unprätentiösen Raisonnements auf die Wahrheit hin, die er in seinen Schriften hinterlassen hat: Versuche – Essays sind das im besten Sinne.

Russell weiß sehr wohl, dass man Wahrheit nur haben kann, wenn man sich ihr in immer neuen Fehlgängen zu nähern sucht, und zwar so, dass es möglichst jeder verstehen kann. Dies heitere Räsonnieren ist so ziemlich das Gegenteil unserer vielleicht sehr deutschen Neigung zu hermetischer Systematik, wenn es um philosophische Dinge geht. Auch die beiden jetzt im Europaverlag wieder erschienenen Bücher sind solche Versuche auf die Wahrheit hin, und können als solche nicht veralten, weil sie ihre eigene Relativität stets wissend mit sich tragen.

Die Dinge unserer Gegenwart auf populäre Art durchschaubar zu machen, das war sein demokratisches Credo. Die "Unpopular essays" aus den 1940er Jahren, 1951 erstmals in der Übersetzung von Stephan Hermlin beim Europa Verlag erschienen und nun wieder aufgelegt, sie waren nie unpopulär und wären heute als "politisch unkorrekte Betrachtungen" vielleicht besser zu titeln.
Russell ist Lenin und Albert Einstein begegnet, mit Telegrammen an Kennedy und Chruschtschow griff er 1962 in die Kubakrise ein, als die Welt am Rand eines Atomkrieges stand. Und Chruschtschow hat tatsächlich geantwortet: ihm als einem Stellvertreter der Weltöffentlichkeit. In seinem Buch "Power" von 1938 analysiert er angesichts des erstarkenden Nazi-Deutschlands den menschlichen Machttrieb und das Verhältnis von Führern und Geführten mit der ihm eigenen ideologieferne, als soziale Tatsachen.

"Machtliebe muss, wenn sie wohltätig sein soll, mit einem Zweck verbunden sein, der nicht die Macht selbst ist. Ich meine nicht, dass es keine Machtliebe um ihrer selbst willen geben dürfe, denn dieser Trieb wird im Laufe einer aktiven Laufbahn erweckt werden; ich meine, dass der Wunsch nach einem anderen Ziel so stark sein muss, dass Macht unbefriedigend ist, sofern sie nicht dieses Ziel näher rückt."

Im Licht dieser schlicht anmutenden Sätze erhellt er die Fährnisse unserer Geschichte und Gegenwart, und er macht nützliche Vorschläge, die so besondere Psyche von Führerpersönlichkeiten in angemessenen politischen Verhältnissen für alle fruchtbar werden zu lassen.

Politikverdrossenheit? Bertrand Russell hätte dieses Wort als einen Widerspruch in sich selbst entlarvt, denn in der politischen Sphäre kann man sich so etwas wie Verdrossenheit nicht leisten. Auch angesichts von Hitlers Erfolgen - keine Spur von Schaum vor dem Mund, reiner, klarer Pragmatismus in moralischen, in weltanschaulichen, so auch in politischen Dingen. Vielleicht haben Männer wie dieser Literaturnobelpreisträger Russel mit ihrem nüchtern abwägenden Mut einen dritten Weltkrieg verhindert.

Bertrand Russel: Macht
Europa Verlag, Zürich 2010
Bertrand Russel: Unpopuläre Betrachtungen
Europa Verlag, Zürich 2010
Cover "Macht" von Betrand Russell
Cover "Macht" von Betrand Russell© Europa Verlag
Cover "Unpolitische Betrachtungen" von Bertrand Russell
Cover "Unpopuläre Betrachtungen" von Bertrand Russell© Europa Verlag