Der Held mit dem Urschrei

Von Siegfried Forster |
Das Museum Quai Branly in Paris steht für einen Dialog der Kulturen. Das Museum für außereuropäische Kulturen will uns nicht nur Mythen aus Ozeanien, Afrika oder Asien näher bringen, sondern auch westliche Mythen mit exotischen Schauplätzen entschlüsseln. Jetzt soll dort eine Ausstellung unsere Vorstellungen vom Tarzan-Mythos erschüttern.
Am Anfang war der Schrei. Im Dschungel der Ausstellung empfängt uns Tarzan alias Johnny Weissmuller mit seiner Stimmband-Orgie aus dem Urwald. Kurator Roger Boulay:

"Weissmuller war der beste Interpret. In den Stummfilmen vor Weissmuller sehen Sie, wie die Schauspieler große Gesten machen, um zu zeigen, dass sie sehr laut schreien, aber es gibt natürlich keinen Ton. Kurz vor Weissmuller hatte man sogar einen Opernsänger mit dem Tarzan-Schrei beauftragt. Das ist also keine Erfindung Weissmullers. Aber das mit dem Opernsänger hat offenbar nicht sehr gut funktioniert und so wurde es wieder fallen gelassen."

Die Ausstellung führt uns in eine riesige Comic-Landschaft mit Ton- und Filmblasen. Wir hangeln uns anhand monumentaler Tarzan-Szenen durch die Dschungelkulisse: Originalzeichnungen und Filmausschnitte bevölkern die Wände, Urwaldsound strömt aus den Lautsprechern, ein Ölgemälde von Toussaint Dubreuil aus dem 16. Jahrhundert: "Der junge Herkules lernt Bogenschießen" erinnert daran, wie tief die Wurzeln der Tarzan-Legende reichen. Für den Ethnologen Pascal Dibie ist Tarzan kein Affenmensch, sondern vor allem eine Fragestellung:

"Der Autor Burroughs hat sich stark mit diesem Leben zwischen den Welten beschäftigt, zwischen der Wildnis und der zeitgenössischen Welt der Menschen. Burroughs war beeinflusst vom 'Dschungelbuch'-Autor Kipling, von Darwins Theorien. Aber auch von der Sage von Romulus und Remus, den Gründern der Stadt Rom, die von einer Wölfin aufgezogen worden waren. Er hatte auch von einer Geschichte aus Chicago gehört, von einem Jungen, der aus Afrika wiederkam und erzählte, mit Affen gelebt zu haben. All diese Legenden hat er hergenommen und eine eigene erfunden."

Im Jahr 1912 erfand Edgar Rice Burroughs den Tarzan-Mythos. 1914 veröffentlichte er den Klassiker "Tarzan bei den Affen" und verkaufte insgesamt über 15 Millionen Tarzan-Bücher. Burroughs erzählt die Geschichte eines Kindes, das von einer Gruppe Affen aufgezogen und Tarzan genannt wird, was in der von Burroughs erfundenen Affensprache "Weiße Haut" bedeutet.

"Bis 1940 hat er 26 Tarzan-Werke geschrieben. Tarzan durchschreitet die Epochen, die Zeiten: er ist bei den Kreuzrittern, bei den Gladiatoren, in der Prähistorie, in Ägypten, in unbekannten Königreichen. Tarzan ist eine reine Erfindung."

Reinste Erfindung, die vielen zu weit ging. Etwa 1934: damals tauchte Tarzan in erotischen Gewässern. Jane O'Sullivan spielte als Jane eine splitternackte Unterwasserszene, die wir in der Ausstellung genießen dürfen, aber ansonsten jahrzehntelang hinter Verschluss blieb, berichtet Roger Boulay:

"Diese Szene ist nie in einem Kinosaal gezeigt worden. In den USA gab es beim Start der Tarzan-Filme enorm viel Zensur. In Frankreich waren die Tarzan-Comics zehn Jahre lang verboten! Zwischen 1953 und 1965. Es ging nicht nur um die Nacktheit. Andere Vorwürfe lauteten: Tarzan ist ein Faulpelz, der nichts macht und zu nichts taugt. Mit einer Moral der Gewalt, die nicht weiter reicht als der Dschungel."

In Deutschland wurde 1954 ein Tarzan-Comic von der neugegründeten Bundesprüfstelle als erstes jugendgefährdendes Werk eingestuft. Zuvor hatten bereits die Nazis die Tarzan-Filme verboten: aus Gründen des Tierschutzes und - so das Zensurgutachten der NSDAP - weil der Film geeignet sei, das Rassenempfinden zu verletzen. Während bei King Kong die Angst vor dem Anderssein dominiert, verkörpert Tarzan einen Helden ohne Hass und ohne Grenzen:

"Tarzan steht eher für eine Vermischung der Kulturen und Völker. Tarzan verkörpert vor allem die ununterbrochene Linie zwischen Natur und Kultur. Es gibt keinen Bruch, er ist der lebende Beweis dafür: ein vornehmer Lord in der Stadt und ein schrecklicher Jäger im Dschungel."

Wie Karl May bei Winnetou erzählte auch Burroughs bei Tarzan wie ein Blinder von der Farbe. Er hatte nie auch nur einen Fuß auf den afrikanischen Kontinent gesetzt, alles war frei erfunden, die Schauplätze, die Afrikaner, die Atmosphären, die Musik. Ein Dschungeltraum, der bis heute auch musikalisch weiterlebt und in der Schau von Cyril Lefebvre in Szene gesetzt wird:

"Die Exotika-Musik der 50er-Jahre gemischt mit der Surf-Musik der 60er-Jahre erlebt derzeit einen großen Aufschwung - vor allem in den USA, aber auch in Europa. Sie hat sich modernisiert und weltweit verbreitet. Heutige Städte werden oft Beton-Dschungel genannt. Hie haben wir einen musikalischen Dschungel, der uns eher zum Träumen bringt, als dass er uns Angst macht. Wie bei einer Fabel."

Tarzan brachte nicht nur ältere Generationen zum Träumen, sondern hat bis heute das Zeug zum Superstar. In der Ausstellung sehen wir Tarzans Urwald-Welt als Plüschtier-Universum, als Kinderspielzeug in Fastfood-Restaurants, ausgestopfte Tiere als Dekor. Die Werbung hat den Zivilisationsflüchtling längst als verkaufsfördernd erkannt und lässt ihn Espresso schlürfen und als Parfüm an unsere Instinkte appellieren. Vor allem aber ist Tarzan für Kurator Roger Boulay wie geschaffen als Retter im Kampf gegen Wirtschaftskrise und Klimakatastrophe:

"Einige sind bereits dabei, Tarzan zu recyceln. Eine Umweltstiftung hat bereits Tarzan als Held gegen die Abholzung des Regenwaldes eingesetzt. Ich denke, Tarzan hat auf diesem Gebiet eine große Zukunft vor sich."