"Der Hirntod ist nicht der Tod des Menschen"

Im Zuge der Debatte um eine Neuregelung bei Organspenden hat der Stuttgarter Kardiologe Paolo Bavastro eine Zustimmungslösung in den engstmöglichen Grenzen verlangt. Bavastro sagte, ein hirntoter Mensch sei nicht tot, sondern ein schwerstkranker, sterbender Mensch. Deswegen dürfe man ihm keine Organe entnehmen.
Frank Meyer: Für Organspenden ist die Regelung ganz eindeutig: Organe dürfen nur toten Spendern entnommen werden. Wann aber ist ein Mensch tot? Nach der gängigen Definition ist das der Fall, wenn der Hirntod eingetreten ist. Aber: ein hirntoter Mensch kann noch beatmet werden, dann hat er ein schlagendes Herz – das Blut fließt noch durch seinen Körper. Über die Grenze zwischen Leben und Tod sprechen wir mit dem Stuttgarter Internisten und Kardiologen PaoIo Bavastro. Seien Sie willkommen, Herr Bavastro!

Paolo Bavastro: Einen schönen guten Tag!

Meyer: Herr Bavastro, Sie haben als Chefarzt in Stuttgart eine hirntote Patientin behandelt, die schwanger war. Sie haben diese Schwangerschaft über 84 Tage hinweg aufrecht erhalten, sodass das Kind dieser Patientin per Kaiserschnitt entbunden werden konnte. Wie hat denn diese Erfahrung mit dieser hirntoten Patientin Ihre Auffassung vom Hirntod verändert?

Bavastro: Die Auffassung hat sich insofern verändert durch die ganz elementare evidente Tatsache, dass die Hirntodsituation, wenn sie denn als Tod definiert wird, bedeuten würde, diese Patientin war eine Leiche, und in einer Leiche entwickelt sich ein Embryo bis zur Lebensfähigkeit, das ist ein Widerspruch in sich. Und dadurch hat sich täglich die Evidenz gezeigt: Der Hirntod ist nicht der Tod des Menschen!

Meyer: Was haben Sie mit dieser Patientin erlebt nach ihrem Hirntod? Was haben Sie zum Beispiel beobachtet, was diese Patientin, oder dieser Körper – wie immer man das sagen will – noch registriert hat, noch erfahren hat von seiner Umwelt?

Bavastro: Was diese Patientin von ihrer Umwelt erfahren hat auf der Ebene des Bewusstseins, das kann ich nicht sagen, das wissen wir nicht. Was wir wahrnehmen konnten, das war täglich, dass das Herz schlägt, dass die Temperatur des Körpers da ist, dass sie Ausscheidungen hatte, sowohl Urin als auch Stuhl, dass sie geschwitzt hat. Wir wissen aus der Literatur und aus der Biologie, dass diese Menschen Antikörper bilden können, also geimpft werden könnten, dass Frauen schwanger werden können, dass Männer Erektionen haben – das sind alles elementarste biologische Phänomene, die dazu führen, dass man täglich am Krankenbett erlebt, dass das ein lebendiger Mensch ist, schwerstkrank, aber eben lebendig!

Meyer: Aber gäbe es nicht auch die Möglichkeit, dass die Patientin, die Sie damals behandelt haben, dass sie gar nicht hirntot war? Denn soweit ich weiß, den entscheidenden Test für diese Situation, ob ein Mensch noch zur eigenen Atmung fähig ist, den haben Sie doch nicht gemacht.

Bavastro: Die Vorgeschichte der Patientin in dem anderen Krankenhaus, wo sie schon behandelt war, hat mehrfach gezeigt, dass sie keine spontane Atmung hatte, weil dort mehrere Versuche gemacht worden sind, und die Tests, die damals – vor 20 Jahren – vorgeschrieben waren, die haben wir durchgeführt.

Meyer: Sagen sie deshalb nun ausgehend von diesen Erfahrungen: Ein hirntoter Mensch ist im Widerspruch zu der Auffassung, die bei uns auch im Transplantationsgesetz steht, ein hirntoter Mensch ist gar nicht tot?

Bavastro: So ist es. Ein hirntoter Mensch – deshalb ist der Begriff schon, wenn man das juristisch formulieren will, eine arglistige Täuschung –, ein Mensch in Hirnversagen ist ein Mensch, dessen Gehirn einen erheblichen Schaden hat, aber – es ist ein schwerstkranker, sterbender Mensch, aber noch kein Toter. Sonst könnten wir auch keine lebensfähigen Organe aus einem toten Menschen entnehmen. Wir brauchen lebendige Organe aus einem noch lebenden Organismus.

Meyer: Aber es ist ein sterbender Mensch. Das heißt doch, dieser Prozess ist unumkehrbar. Ein Mensch, bei dem man den Hirntod festgestellt hat, wird in jedem Fall sterben?

Bavastro: Soweit die bisherigen Erfahrungen, ja. Nur, das ist noch kein Kriterium, um jemanden, der sterbend ist, bereits für tot zu erklären, damit man ihm Organe entnehmen kann, ohne ihn zu töten. Biologisch ist es eindeutig definiert, in jedem Lehrbuch zu finden, dass ein Mensch in diesem Zustand ein schwerstkranker Sterbender ist, aber ein Sterbender ist noch kein Toter.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden über den Hirntod, angesichts der neuen politischen Debatte über Organspenden in Deutschland, und wir reden mit dem Internisten und Kardiologen Paolo Bavastro aus Stuttgart. Und wichtig ist ja die Frage nach dem Hirntod, weil dieser Todeszeitpunkt angenommen wird als Voraussetzung für die Organentnahme nach der heutigen Definition. Meinen Sie nun auch, das sei nicht haltbar? Also, man darf einem Menschen, der erst hirntot ist, dessen Kreislauf aber noch funktioniert, man darf dem eigentlich keine Organe entnehmen?

Bavastro: Primär nein, denn ein Sterbender ist noch kein Toter. Auf der anderen Seite muss man natürlich sagen – und das wäre mein Vorschlag, ich halte den für den einzig gangbaren Weg –, es sind Menschen, die irreversibel im Sterbeprozess sind. Wenn diese Menschen früher nach redlicher Aufklärung – mindestens so wie vor jeder anderen banalen Operation auch, also: Was ist der Hirntod? In welchem Zustand befindet er sich? Welche Folgen könnte es haben? Und so weiter und so fort –, dann kann er sich schriftlich äußern und nur seine ganz persönliche Äußerung gilt, denn in so einer schwierigen Situation kann kein anderer für mich stellvertretend irgendwas entscheiden, dann sind Organentnahmen nach engster Zustimmungslösung straffrei. Das ist so ein ähnliches juristisches Konzept, wie wir es bei der Abtreibung haben. Die Abtreibung ist eindeutig für alle auch unumstritten die Tötung des Embryos. Die Tötung des Embryos ist nicht erlaubt, aber sie ist straffrei gestellt, wenn bestimmte Bedingungen, eben diese Beratung und so weiter, erfüllt sind. Und so ähnlich wäre die Situation hier. Deshalb plädiere ich für die engste Zustimmungslösung, nachdem der Betreffende sich selber geäußert hat. Wer sich aber nicht geäußert hat, oder sich nicht äußern kann, weil ihm das Problem zu kompliziert, zu schwierig, sonst wie ist, oder er sich nicht entscheiden will, dann ist er eben kein Organspender. Diese Freiheit müssen wir jedem einzelnen Bürger lassen, sich so zu entscheiden, oder auch die Freiheit, sich nicht entscheiden zu müssen.

Meyer: Wenn man jetzt aber weiterdenkt, wenn man jetzt überlegt, potenziellen Organspendern sagt man jetzt: Passt auf, in dem Moment, in dem euch die Organe entnommen werden, seid ihr noch gar nicht tot. Ihr seid noch im Sterben begriffen. Meinen Sie nicht, dass dann die Zahl der Menschen, die bereit wären zu Organspenden, rapide zurückgehen würde?

Bavastro: Aber ist das ein Argument? Die Menschen, die muss ich doch aufklären! Ich kann doch nicht sagen: Ich lasse sie unaufgeklärt, nur damit ich zu mehr Organen komme. Das wäre eine zynische Argumentationskette!

Meyer: Wir haben aber auf der anderen Seite ja Menschen, die sterben – etwa 3.000 pro Jahr in Deutschland –, weil sie zu spät Spenderorgane erhalten. Damit würde …

Bavastro: Langsam!

Meyer: Damit würde man …

Bavastro: Widerspruch! Sie sterben nicht, weil Organe fehlen, sondern sie sterben an ihrer Krankheit! Das ist auch eine unredliche Argumentation.

Meyer: Aber sie könnten weiterleben, wenn sie Spenderorgane bekommen. Das heißt, man würde mit dieser … wenn man Ihrer Argumentation folgt, am Ende auch in Kauf nehmen, dass am Ende noch mehr solcher Menschen sterben, die auf Spenderorgane warten?

Bavastro: Ich kann aber nicht einen sterbenden Menschen für tot erklären, und ihn noch dazu im Unklaren lassen, in welcher Situation er sich vielleicht dann befinden könnte, nur, um zu mehr Organen zu kommen. Das ist eine zynische Argumentationskette. Die ist ethisch unhaltbar!

Meyer: Wie haben Sie dieses Dilemma für sich ganz persönlich selbst gelöst? Sind Sie bereit, sich Organe entnehmen zu lassen, nach ihrem Hirntod?

Bavastro: Ich habe bisher das Thema für mich nicht entschieden. Ich führe mit mir einen Zettel, in dem ich draufgeschrieben habe: Der Hirntod ist nicht der Tod! Und solange das Gesetz so unklar ist, wie es jetzt im Moment ist, und nicht die strengste Zustimmungslösung gilt, bin ich kein Organspender. Und diese Entscheidungslösung, die im Moment diskutiert wird, die halte ich für nicht ganz korrekt, weil: Wer soll denn die Menschen, wenn sie einen Führerschein, wenn sie einen Personalausweis beantragen, wer soll sie denn aufklären? Die Menschen am Schalter, die den Führerschein ausgeben, mit Sicherheit nicht! Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) oder die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die schreiben schlicht und einfach: Bist du bereit, Organe nach deinem Tod zu spenden? Das ist keine Aufklärung! Wer soll denn die Aufklärung sachgerecht und korrekt machen, in so einer ganz schwierigen und komplizierten Situation? Das müsste eine neutrale Stelle sein, die wirklich auch die Menschen aufklärt, was der Hirntod ist!

Meyer: Die zentrale Ethikkommission der Bundesärztekammer hat gerade gesagt, es sei unabdingbar, sich einer öffentlichen Debatte über das Hirntodkonzept zu stellen. Diese Debatte könnte jetzt in Gange kommen. Hätten Sie die Hoffnung, dass Ihr Konzept, wie Sie es uns gerade beschrieben haben, diese ganz enge Zustimmungslösung – im Blick auch darauf, was der Hirntod Ihrer Auffassung nach eigentlich ist –, hätten Sie die Hoffnung, dass diese Lösung dann angewendet wird?

Bavastro: Man muss sagen, dass man eine Diskussion, eine redliche und offene Diskussion über diesen Unbegriff Hirntod – deshalb sage ich immer Hirnversagen – führt, ist höchste Zeit; international und in ethischen Zeitschriften wird sie schon längst geführt! Und führende Ethiker, die zum Beispiel damals, 1968, diesen Begriff eingeführt haben, die haben sich schon öffentlich davon distanziert. Insofern wäre es höchste Zeit, das in Deutschland auch offen und redlich darüber diskutiert wird. Und dann muss man sehen, welche Lösung danach kommt. Mit Sicherheit wird es dann so sein, dass man diese Diskussionen, wie man sie jetzt führt – über Entscheidungslösung, Widerspruchslösung und Ähnliches – dass die so nicht mehr geführt werden.

Meyer: Ein hirntoter Mensch ist noch nicht tot. Dieser Auffassung ist der Internist und Kardiologe Paolo Bavastro. Herr Bavastro, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Bavastro: Bitte!


Die Äußerungen unserer Gesprächspartner geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
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