Der hochfliegende Versuch, die Welt zu ordnen
In seinem neuen Buch untersucht der britische Historiker Mark Mazower die Geschichte des Internationalismus. Er zeigt, wie eng die Idee einer globalen Ordnung stets mit der Vorstellung verbunden war, der Westen müsse anderen Staaten seinem Idealbild vom Zivilstaat unterwerfen.
Dass dieses Buch in Deutschland genau zu dem Zeitpunkt erscheinen würde, da die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer kriegerischen Intervention des Westens in Syrien die Schlagzeilen beherrscht, konnten Autor und Verlag vielleicht ahnen, aber nicht wissen. Ein Zufall ist diese Koinzidenz dennoch nicht. Selten hat ein Werk der Geschichtsschreibung einen so klaren Fluchtpunkt in der Gegenwart wie dieses. Das macht die Lektüre spannend, aber auch heikel: Nicht immer eignet sich die Weitsicht des Historikers, ein scharfes Bild dessen zu bekommen, was sich direkt vor unserer Nase abspielt.
Mark Mazower, gebürtiger Brite, lehrt als Historiker an der Columbia-Universität in New York und hat viel beachtete Bücher über die NS-Zeit und die deutsche Besatzung auf dem Balkan und in Griechenland geschrieben. Sein jüngstes Werk hat die Geschichte des Internationalismus zum Gegenstand – der Idee, dass auch souveräne Nationen eine weltumspannende Ordnung brauchen, die sie an Regeln bindet, die notfalls gewaltsam durchgesetzt werden.
Die Geburtsstunde dieser Idee datiert Mazower auf das Jahr 1815: Napoleon war besiegt, der Wiener Kongress gestaltete Europa neu und schuf "das erste Modell einer internationalen Regierung" – die Heilige Allianz, deren Mitglieder sich verpflichteten, jede neue Revolution und jeden neuen Napoleon in Europa zu verhindern. Dazu kamen aber schon bald viel ambitioniertere Konzepte: Überall in Europa wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den fantastischsten Bauplänen gezeichnet, wie eine globale Regierung der Vernunft konstruiert sein müsste, die auf Recht, auf Wissenschaft und auf Brüderlichkeit basiert statt auf Macht.
Entlang dieses Grundmusters entfaltet Mazower die Geschichte des Internationalismus bis heute: Ein hochfliegender Versuch, die Welt vernünftig zu ordnen und die nationalen Egoismen zu bändigen, reiht sich an den anderen, von der universellen Assoziation des Grafen von Saint-Simon bis zum Völkerbund, und einer nach dem anderen geht wieder zugrunde, teils an expertokratischer Selbstüberschätzung, teils am Ränkespiel der Großmächte, die die internationalen Organisationen fördern, weil und soweit sie ihren Machtinteressen nützlich sind, und ihnen die Luft ablassen, sobald sie damit aufhören.
Dieses skeptische Narrativ hält Mazower bis in die Gegenwart durch. Auf dem Weg dorthin, und das ist die große Stärke dieses Buchs, zeigt er, wie eng der Internationalismus stets mit der Vorstellung verwoben war, der Westen müsse den Rest der Welt seinem Idealbild zivilisierter Staatlichkeit unterwerfen. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass alle, die diesen Vorstellungen nicht genügten, sich vom Völkerrecht auch nichts zu erhoffen brauchten: Die Haager Kriegsrechtskonvention hinderte das Britische Empire nicht, im Sudan zehntausend Aufständische abzuschlachten, und dass der Völkerbund Italien beim Überfall auf Äthiopien nicht in den Arm fiel, hätte niemanden groß gestört, wäre Äthiopien nicht selbst Mitglied des Völkerbunds gewesen. Was für Resonanzen bringen wir zum Schwingen, wenn wir heute von "failed states" reden und von "humanitären Interventionen"? Vor diese Frage stellt uns Mazower ganz nachdrücklich, und dafür ist ihm zu danken.
Gut ist Mazower vor allem darin, die Schwächen und Verlogenheiten des Internationalismus zu demaskieren. Das Ergebnis ist aber, dass sich eine gewisse Ratlosigkeit einstellt. Das gilt vor allem für die letzten Kapitel, die der Gegenwart gewidmet sind, der zugegebenermaßen ziemlich trostlosen Post-9/11-, Post-Irakkrieg- und Post-Finanzkrisen-Epoche. In ihnen nimmt Mazowers Erzählung einen faden Geschmack von Verfallsgeschichte an. Dass die globale Wirtschafts-, Finanz- und Sicherheitsarchitektur, die nach 200 Jahren Internationalismus mittlerweile entstanden ist, in großen Schwierigkeiten steckt, ist ebenso wahr wie bekannt. Aber Mazower zieht daraus den Schluss, die Ära des Internationalismus für beendet zu erklären. Das ist ein wenig überzeugender Kurzschluss.
Besprochen von Maximilian Steinbeis
Mark Mazower, gebürtiger Brite, lehrt als Historiker an der Columbia-Universität in New York und hat viel beachtete Bücher über die NS-Zeit und die deutsche Besatzung auf dem Balkan und in Griechenland geschrieben. Sein jüngstes Werk hat die Geschichte des Internationalismus zum Gegenstand – der Idee, dass auch souveräne Nationen eine weltumspannende Ordnung brauchen, die sie an Regeln bindet, die notfalls gewaltsam durchgesetzt werden.
Die Geburtsstunde dieser Idee datiert Mazower auf das Jahr 1815: Napoleon war besiegt, der Wiener Kongress gestaltete Europa neu und schuf "das erste Modell einer internationalen Regierung" – die Heilige Allianz, deren Mitglieder sich verpflichteten, jede neue Revolution und jeden neuen Napoleon in Europa zu verhindern. Dazu kamen aber schon bald viel ambitioniertere Konzepte: Überall in Europa wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den fantastischsten Bauplänen gezeichnet, wie eine globale Regierung der Vernunft konstruiert sein müsste, die auf Recht, auf Wissenschaft und auf Brüderlichkeit basiert statt auf Macht.
Entlang dieses Grundmusters entfaltet Mazower die Geschichte des Internationalismus bis heute: Ein hochfliegender Versuch, die Welt vernünftig zu ordnen und die nationalen Egoismen zu bändigen, reiht sich an den anderen, von der universellen Assoziation des Grafen von Saint-Simon bis zum Völkerbund, und einer nach dem anderen geht wieder zugrunde, teils an expertokratischer Selbstüberschätzung, teils am Ränkespiel der Großmächte, die die internationalen Organisationen fördern, weil und soweit sie ihren Machtinteressen nützlich sind, und ihnen die Luft ablassen, sobald sie damit aufhören.
Dieses skeptische Narrativ hält Mazower bis in die Gegenwart durch. Auf dem Weg dorthin, und das ist die große Stärke dieses Buchs, zeigt er, wie eng der Internationalismus stets mit der Vorstellung verwoben war, der Westen müsse den Rest der Welt seinem Idealbild zivilisierter Staatlichkeit unterwerfen. Was im Umkehrschluss bedeutete, dass alle, die diesen Vorstellungen nicht genügten, sich vom Völkerrecht auch nichts zu erhoffen brauchten: Die Haager Kriegsrechtskonvention hinderte das Britische Empire nicht, im Sudan zehntausend Aufständische abzuschlachten, und dass der Völkerbund Italien beim Überfall auf Äthiopien nicht in den Arm fiel, hätte niemanden groß gestört, wäre Äthiopien nicht selbst Mitglied des Völkerbunds gewesen. Was für Resonanzen bringen wir zum Schwingen, wenn wir heute von "failed states" reden und von "humanitären Interventionen"? Vor diese Frage stellt uns Mazower ganz nachdrücklich, und dafür ist ihm zu danken.
Gut ist Mazower vor allem darin, die Schwächen und Verlogenheiten des Internationalismus zu demaskieren. Das Ergebnis ist aber, dass sich eine gewisse Ratlosigkeit einstellt. Das gilt vor allem für die letzten Kapitel, die der Gegenwart gewidmet sind, der zugegebenermaßen ziemlich trostlosen Post-9/11-, Post-Irakkrieg- und Post-Finanzkrisen-Epoche. In ihnen nimmt Mazowers Erzählung einen faden Geschmack von Verfallsgeschichte an. Dass die globale Wirtschafts-, Finanz- und Sicherheitsarchitektur, die nach 200 Jahren Internationalismus mittlerweile entstanden ist, in großen Schwierigkeiten steckt, ist ebenso wahr wie bekannt. Aber Mazower zieht daraus den Schluss, die Ära des Internationalismus für beendet zu erklären. Das ist ein wenig überzeugender Kurzschluss.
Besprochen von Maximilian Steinbeis
Mark Mazower: Die Welt regieren. Eine Idee und ihre Geschichte
Verlag C. H. Beck, München 2013
464 Seiten, 27,95 Euro
Verlag C. H. Beck, München 2013
464 Seiten, 27,95 Euro