"Der Höhepunkt einer schon lange anlaufenden Welle"

Ulrich Herbert im Gespräch mit Katrin Heise |
Die massiven Ausschreitungen von Rechtsradikalen gegen Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen sorgten im August 1992 für deutschlandweites und internationales Entsetzen. Für den Historiker Ulrich Herbert ist "der Pogrom Lichtenhagen" die Spitze einer sich lange abzeichnenden Entwicklung.
Katrin Heise: Die Bilder haben sich im kollektiven Gedächtnis eingebrannt: der grölende, alkoholisierende Mob, applaudierende Menschen und im Hintergrund Plattenbauten, aus denen vereinzelt Flammen schlagen. In dieser Woche jähren sich die Ereignisse von Rostock-Lichtenhagen, die rassistischen Ausschreitungen ein Flüchtlings- und Ausländerwohnheim betreffend, zum 20. Mal jähren die sich. Mit dem Historiker Ulrich Herbert, der eine "Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland" geschrieben hat, betrachten wir, in welchem politischen, gesellschaftlichen und auch medialen Kontext das Pogrom stattfand, welche Auswirkungen es hatte und bis heute hat.

Und am Telefon begrüße ich jetzt den Historiker Ulrich Herbert, von ihm stammt die "Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland", er lehrt in Freiburg. Ich grüße Sie, Herr Herbert!

Ulrich Herbert: Guten Morgen!

Heise: Ausländer raus, haben wir eben gehört, wie die Menge skandiert hat. Von den langen Schlangen vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber in den Wochen vor den Krawallen war die Rede gewesen, die Schlagworte "Asylantenschwämme", "Asylmissbrauch", "Das Boot ist voll", die sind uns vielleicht auch noch im Gedächtnis, die stammen auch aus der Zeit. Herr Herbert, beschreiben Sie doch mal die Stimmung, die damals in Deutschland eigentlich geherrscht hat?

Herbert: Dazu muss man sagen, dass es anderthalb Jahre oder zwei Jahre nach der Wiedervereinigung stattgefunden hat. Und es ist interessant, dass die erste große, gesamtdeutsche Thematik eben diese Asylbewerberfrage war, die 1991 bis '93 die Menschen mehr als jedes andere Thema beschäftigt hat, wie die Demoskopen herausbekommen haben. Dabei ist von heute aus die Grundproblematik relativ einfach zu verstehen, das ging schon in der Mitte der 80er-Jahre los. Es gab ja schon seit den 70ern eine Ausländersperre, das heißt, es durften keine weiteren Gastarbeiter zuwandern, und in dem Maße, in dem sich in Europa, auch in anderen Teilen der Welt Bürgerkriege und Ähnliches ereigneten, drang, sozusagen, wurde der Migrationsdrang in die europäischen Länder dann vor allen Dingen über die, nach Deutschland über das Asylrecht gewissermaßen gestaltet.

Die Zahlen waren nach wie vor relativ gering, es waren unter Hunderttausend. Und trotzdem gab es in der Öffentlichkeit in Westdeutschland, also noch vor der Wiedervereinigung, eine große Auseinandersetzung darum. Und schon vor 1989 hat es auch zahlreiche Übergriffe gegeben. 1987, '88 hatte es bereits Übergriffe auf Asylbewerberheime gegeben. Und das hat sich mit der Wiedervereinigung insofern radikalisiert, als nun in die, als die Asylbewerber auf die verschiedenen Kommunen in ganz Deutschland verteilt werden sollten. Und das galt dann auch für die neuen ostdeutschen Kommunen, die damit überfordert waren, aber ihre Überforderung auch darstellen wollten, was teuer war. Also, sie wollten gewissermaßen auch öffentlich darstellen, dass sie damit nicht klarkamen. Es war beides, eine Überforderung und zugleich eine Demonstration der eigenen Überforderung. Das hat das Ganze ziemlich angeheizt.

Heise: Denn, ich meine, man muss sich ja vorstellen, dass überall im wiedervereinigten Deutschland Asylsuchende als Bedrohung empfunden worden sind. Das zog sich aber wirklich auch weit in die SPD-Kreise hinein!

Herbert: Das zieht, ja ... SPD-Kreise sicherlich auch, weil es zahlreiche sozialdemokratische Kommunen oder sozialdemokratisch geführte Kommunen gegeben hat, die dann durch die Überweisung, sagen wir mal, von 600 oder 1000 Asylbewerbern entsprechende Heime herstellen mussten. Noch dazu, wo die Asylbewerber in Heimen leben mussten, die durften nicht sozusagen in den normalen Wohnungsmarkt und sie durften auch nicht arbeiten vonseiten der Behörden aus, sodass sie also auch als Schmarotzer wahrgenommen wurden. Aber im Grunde ging es um was anderes: Es ging darum, dass die ... Das Recht auf Asyl ist ein Grundgesetzartikel, und die SPD, die Grünen und auch Teile der FDP waren dafür, das zu behalten, dieses Grundrecht.

Die Union, unter dem Druck dieser eben geschilderten Ereignisse, wollte das verändern, und dadurch ist diese Problematik in den Wiedervereinigungswahlkampf 1990 gekommen und hat eine unglaubliche Dynamik bekommen. Und es hat dann auch regelrechte Kampagnen gegeben, insbesondere aus der Boulevardpresse. 1991 gab es dann schon, ich glaube, in einer Woche 78 Überfälle auf Ausländer und 1992 hat sich das dann weiter gesteigert. Es hatte vor Rostock-Lichtenhagen schon eine ganze Reihe von Überfällen mit Todesfällen gegeben. Bei Rostock hatten Rechtsextremisten Asylbewerberheim überfallen und einen Rumänen getötet, es hatte das in Berlin gegeben, in Stuttgart, in Thüringen. Also, schon eine ganze Reihe von Toten. Und insofern war der Pogrom Lichtenhagen, also bei Rostock, der Höhepunkt einer schon lange anlaufenden Welle.

Heise: Sie würden aber sagen, Rostock-Lichtenhagen war ein Pogrom?

Herbert: Das ist der Begriff, den man dafür technisch zutreffend gebraucht. Wenn sich Massen zusammenrotten, um gegen Minderheiten vorzugehen, und insbesondere dann mit Feuer, mit Vertreibung, mit Gewalt. Es hatte ...

Heise: ... na, und unter dem Applaus von Tausenden Mitbewohnern ...

Herbert: ... von Tausenden Mitbewohnern. Es hatte sich dort zugespitzt, es waren insbesondere rumänische Roma, die dort untergebracht waren, und vietnamesische ... Vietnamesen. Die Vietnamesen waren ja schon seit vielen Jahren in der DDR gewesen und waren dort auch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit untergebracht. Das heißt, die DDR-Bevölkerung hatte gar keine Erfahrung im Umgang mit Ausländern, das spielt dabei eine Rolle, sodass die sich neu formierenden Rechtsradikalen, so muss man das sagen, hier ein sehr frühes, prägendes Erlebnis gehabt haben, das viele von denen auch gewissermaßen politisch eindeutig geprägt hat.

Heise: Nachdem die Bilder dann ja auch um die Welt gegangen sind, war man natürlich in Deutschland schon sehr schockiert. Wie waren denn dann aber die unmittelbaren Reaktionen? Ich meine, ich kann mich an Schweigemärsche erinnern beispielsweise.

Herbert: Es ging noch weiter. Die ersten Reaktionen in der Bundesrepublik waren geteilt. Es war, einerseits gab es durchaus Äußerungen auch in der Presse, dass das zwar jetzt nicht schön sei, aber doch ein Signal, dass das nicht so weitergehen könnte. Ich kann mich erinnern, dass in der "Bild"-Zeitung eine Seite gestanden hat, das Ausland prügelt wieder auf die Deutschen ein, nach Rostock, oder Stasi hat das Pogrom zu verantworten. Das hat eine Zeit gedauert, bis in der Bundesrepublik dann sich ein merkbarer Widerstand entwickelt hat, insbesondere nachdem im November des gleichen Jahres in Westdeutschland, also in Mölln in Schleswig-Holstein ein von Türken bewohntes Haus in Brand gesteckt worden ist mit drei Toten, eine Frau und zwei Mädchen.

Und damit war gewissermaßen, hatte das eine internationale Dimension auch gewonnen. Internationale Zeitungen schrieben darüber, es gab schwere Vorwürfe auch an die Bundesregierung, diese Entwicklung nicht zu stoppen oder vielleicht sogar anzuheizen. Dann, in der gleichen Zeit, gab es dann im Winter '92 eine sehr breite Bewegung der zivilen Gegenwehr, insbesondere die sogenannten Lichterketten ...

Heise: ... darauf würde ich auch gerne noch zu sprechen kommen. Wir erinnern uns mit dem Historiker Ulrich Herbert an die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen von vor 20 Jahren. Eine politische, eine unmittelbare politische Folge war allerdings in eine ganz andere Richtung gehend, nämlich der Asylkompromiss Mai '93: Asylberechtigung wurde eigentlich eingeschränkt!

Herbert: Ja, das ist ja nicht nur ein deutsches Phänomen, sondern ein ganz europäisches Phänomen. Europa hat sich dann letztlich mit Schengen, mit dem sogenannte Schengener Abkommen eine Außenmauer gegeben, sodass also Asylbewerber im ersten Land, in dem sie in Europa eintreffen, ihre Asylberechtigung angeben und dann überprüfen lassen müssen. Sodass im Grunde von ganz wenigen, die im Frankfurter Flughafen ankommen, keine oder kaum noch Asylbewerber nach Deutschland kommen.

Der Asylkompromiss war natürlich vor allem durch Druck auf die SPD entstanden, denn die musste zustimmen, um die Zweidrittelmehrheit im Bundestag zu erreichen. Sie hat letztlich schweren Herzens, glaube ich, zugestimmt. Im Nachhinein muss man sagen: Das ein solcher Asylkompromiss zustande kommt, ist vielleicht gar nicht das Problem, denn Migration, weltweite Migration auf dem Wege des politischen Asyls ist vermutlich nicht der richtige Weg, es braucht hier ganz andere, gesteuerte Migrationsprozesse, also gesteuerte Einwanderungsprozesse. Aber dass es diese Kampagne vorher gegeben hat, gehört doch zu den beschämendsten Kapiteln der jüngeren deutschen Geschichte.

Heise: Wurde es denn so wahrgenommen, als hätten die Rechten, die Ausschreitungen quasi ihr Ziel erreicht? Wurde das so empfunden?

Herbert: Das weiß ich nicht recht, ob das so empfunden wurde. Der Asylkompromiss wurde viel diskutiert. Es wurde schon gesagt, wir dürfen dem Druck der Straße nicht nachgehen. Andererseits gab es Argumente, dass ... Ich glaube, 1992 waren 450.000 Asylbewerber gekommen. Das waren vorher viel weniger, aber - die Zahl der 80er-Jahre war im Schnitt bei 60.000 -, aber es ist also kein auch so Riesenproblem gewesen. Und die Zahl, die Erhöhung der Zahl in den frühen 90er-Jahren hängt natürlich damit zusammen, dass in der Welt kolportiert wurde, die Deutschen machen dieses Tor bald zu, also jetzt oder nie! Aber insgesamt ist der Asylkompromiss, glaube ich, eine Ebene, die ... oder ein Ergebnis, sagen wir mal, über das man zwar diskutieren kann, aber zu dem es wenig Alternativen gab. Denn die Tore aufzumachen auf dem Weg des politischen Asyls ist eine sehr problematische Entwicklung.

Heise: Würden Sie denn auf der anderen Seite vielleicht noch kurz sagen können, Sie haben die Lichterketten erwähnt: Ist durch das Entsetzen nicht aber auch etwas von Initiativen, Aktivitäten, Solidargruppen ins Leben gerufen worden, die dem Terror da was entgegensetzen wollten?

Herbert: Unbedingt. Es hat sich, wie man das heute nennt, die Zivilgesellschaft erhoben. Das war sowohl im Osten wie auch im Westen der Fall. Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, dass diese ja doch im Grunde unglaublichen Ereignisse - man darf nicht vergessen: über 100 Tote hat es insgesamt gegeben in diesen, also ausländische, im Kontext von ausländischen, anti-ausländischen Übergriffen umgekommene Menschen, über 100 -, das ist schon Ende des Jahrzehnts, also um 2000 weitgehend vergessen gewesen. Und wenn Sie heute danach fragen, werden sie im Großteil der Bevölkerung nur noch ganz wenige Erinnerungen daran haben. Das heißt, wir haben das verdrängt. Und das muss man einfach konstatieren.

Heise: Dieser Verdrängung wollen wir natürlich in dieser Woche vor allem einiges entgegensetzen. Im Deutschlandradio Kultur verfolgen wir das Thema und die Erinnerung an 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen weiter. Der Historiker Ulrich Herbert, von ihm stammt die "Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland". Herr Herbert, vielen Dank für das Gespräch!

Herbert: Ich bedanke mich auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

"Links zum Thema bei dradio.de:"

Länderreport - Ausländerfeindlichkeit in Rostock-Lichtenhagen

Kalenderblatt - "Wir haben Angst um unser Leben"

Unter Polizeischutz zur Kaufhalle - Dokumentation über die rassistischen Ausschreitungen vor 20 Jahren in Hoyerswerda

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