"Der 'Holländer' ist das Schwerste, was ich hier bislang dirigiert habe"
Die "Holländer"-Premiere bei der Eröffnung der Bayreuther Festspiele wird seine 111. Aufführung dort sein, erzählt der Dirigent Christian Thielemann. Die Zusammenarbeit mit dem sehr jungen Jan Philipp Gloger habe ihm viel Respekt abgenötigt: "Er ist ein sehr erfreulicher Typ von Regisseur."
Dieter Kassel: Morgen werden mit einer neuen Inszenierung der Oper "Der fliegende Holländer" die 101. Bayreuther Wagner-Festspiele eröffnet, und es handelt sich um eine Inszenierung von Jan Philipp Gloger, mit 31 einer der jüngsten Debütanten, die Bayreuth je gesehen hat. Und während für die Inszenierung ein sehr junger Mann, der noch nicht so viel Erfahrung hat, zuständig ist, ist für das Dirigieren jemand zuständig, der, ich stottere ein bisschen, der nun wirklich noch kein alter Mann ist, so kann man das nicht sagen als Gegenentwurf, aber der vor allen Dingen auch in Bayreuth schon sehr erfahren ist.
Christian Thielemann nämlich. Mein Kollege Jürgen Liebing hat mit ihm gesprochen, und er hat unter anderem über eine Besonderheit der morgigen Aufführung gesprochen, die eigentlich gar keine Besonderheit ist. Denn wenn morgen der Holländer beginnt, wenn er, wie das Wagner natürlich auch wollte, mit dem Vorspiel beginnt, dann wird man nichts sehen und nur Musik hören. Der Vorhang bleibt zu. Das ist eigentlich inzwischen nicht mehr ganz normal, weil gerne Regisseure schon dieses Vorspiel für den ein oder anderen Regieeinfall nutzen.
Da kann man dann doch etwas sehen, und deshalb hat Jürgen Liebing Christian Thielemann gefragt, ob er eigentlich damit einverstanden ist und ob ihn freut, dass das diesmal nicht passiert.
Christian Thielemann: Na ja klar, daraufhin habe ich ja auch hingearbeitet, dass wir uns da an die Partitur halten.
Jürgen Liebing: Obwohl anderes ja mittlerweile fast eher üblich ist.
Thielemann: Ja, wissen Sie, was üblich ist, hat mich noch nie geschert. Ich finde, man muss auch unabhängig sein gedanklich. Und es steht in der Partitur drin, es ist eine, in diesem Fall eine Ouvertüre und kein Vorspiel. Und das hat man ganz gerne für sich alleine, und es hat sich ja mittlerweile gottlob eigentlich bei vielen Regisseurinnen oder Regisseuren die Ansicht durchgesetzt, dass sie ja noch genug zu tun haben im Verlauf des Abends. Also, warum man sich dann auch noch die Last dieser Ouvertüre oder des Vorspiels auch noch aufhalsen muss, das verstünde man ja gar nicht, also, man kann ja auch ein bisschen ökonomisch vorgehen. Und das freut den Dirigenten dann ungemein.
Liebing: Jan Philipp Gloger, er ist einer der jüngsten Debütanten in Bayreuth neben Katharina Wagner und Patrice Chéreau, und sie sind, wenn ich das ein bisschen despektierlich sagen darf, ein alter Hase. Wie war die Zusammenarbeit?
Thielemann: Also der Gloger ist ein ganz begabter, ich will fast sagen, hochbegabter Mensch, der vor allen Dingen auch, was mich am meisten gefreut hat, seine Ansichten psychologisch so wunderbar an den Mann und die Frau gebracht hat. Wissen Sie, es ist ja nicht leicht, als, wie Sie sagen, junger Debütant mit so gestandenen Sängerinnen und Sängern, die schon eine Karriere, Weltkarriere hinter sich haben oder dabei sind, die zu zelebrieren, zu arbeiten.
Und wie er hier mit dem Chor umgegangen ist, also mit Leuten, die wirklich Erfahrung haben und die ja auch mit einem Blick und mit einem Riecher sofort riechen, dass der was kann oder eben nicht. Das hat mir großen Respekt abgenötigt, und er hat auch nie seine Stimme erhoben. Also er ist ein sehr erfreulicher Typ von Regisseur. Es ist wirklich bis zur gestrigen Hauptprobe hier kein böses Wort gefallen beim "Holländer". Also ich muss sagen, das erlebt man selten.
Das letzte Mal, wo ich es erlebt habe, war letzten Sommer in Salzburg bei der "Frau ohne Schatten" mit dem Christof Loy. Da war es genau dasselbe. Die sind sich vom Typ her relativ ähnlich. Das finde ich gut, wenn man bei den Eruptionen, die da gefühlsmäßig auf der Bühne sind, wenn da so ein paar Leute den kühlen Kopf bewahren. Und nun nicht auch noch mitmachen, wissen Sie, auf diesem Klavier weiter spielen.
Liebing: Sie sind in diesem Jahr nicht nur quasi Steuermann, sondern in gewisser Weise auch Feuerwehrmann, denn Sie sind eingesprungen für den Kollegen Thomas Hengelbrock, der die Premiere vom "Tannhäuser" im letzten Jahr dirigiert hat, inszeniert von Sebastian Baumgarten. Eine Inszenierung, die sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik nicht gut angekommen ist. Was wird denn diesmal musikalisch zumindest anders sein?
Thielemann: Na ja, musikalisch ist es natürlich wieder die Dresdner Fassung, vollständig. Also genau die, die ich schon vor Jahren hier in der Arnaud-Inszenierung dirigiert habe. Mit dem längeren Englischhornsolo vor dem Hirten, mit den zusätzlichen 13 Takten im zweiten Finale. Es kommen auch alle drei Strophen im ersten Akt. Es kommt die "Erbarm dich mein" und ich habe einen fabelhaften Tannhäuser, den Herrn Kerl, der also wirklich hier Unglaubliches geleistet hat, nämlich diese schwere Partie in dieser, wie Sie schon andeuteten, speziellen Inszenierung zu geben. Für mich ist das ein Abenteuer.
Ich habe das letzte Mal eine sehr dekorative Inszenierung dirigiert und habe mir eigentlich gedacht, dieses Mal, ja, mein Gott, warum wagst du das denn nicht einmal. Und außerdem, wenn hier Not herrscht in Bayreuth, dann springt man da natürlich ein, weil es ja auch der Musik gilt, verstehen Sie, ich kann ja jetzt nicht meine Mitwirkung davon abhängig machen, wie die Regie ist. Dann würde man ja der Regie noch mehr zugestehen. Also, da muss die musikalische Seite nun auch mal Flagge zeigen.
Und wir haben einige Sängerbesetzungen eben verändert und vor allen Dingen die Fassung verändert, was also für Herrn Baumgarten, glaube ich, auch nicht immer leicht war, denn er musste das ja nachinszenieren. Er hat auch ein paar Sachen geändert, und – es ist eine abenteuerliche Angelegenheit. Warum denn nicht?
Liebing: Aber ein Abenteuer, bei dem Sie irgendwie schon miteinander arbeiten?
Thielemann: Na ja, natürlich. Wissen Sie, mir fällt das so in den letzten Jahren auf: Je mehr man eigentlich das Traditionelle verinnerlicht hat und auch in der Tradition selber lebt und fest dort ist, desto mehr kann man sich auf Neues gelassen einlassen. Wissen Sie, ich lasse mich darauf mit großer Gelassenheit ein. Ich habe gewissermaßen oft geschmunzelt, und habe mir gesagt, na ja, das ist halt ein sehr ungewöhnlicher "Tannhäuser", ich mache das jetzt bislang auch nur dieses Jahr, weil eben, wie gesagt, das ein schwerer Zeitvorlauf war, und ich meine, es wäre ja auch irgendwie ein bisschen unökonomisch gewesen, zu sagen, jetzt mache ich hier sechsmal "Holländer" und laufe da immer fünf Tage durch die Gegend.
Ich bin ja eh hier in Bayreuth, also, da kann ich sozusagen den "Tannhäuser" noch mitnehmen, und mit dem Orchester macht es eh einen wahnsinnigen Spaß, dieser tolle Chor, und die Sänger sind wirklich alle jetzt, glaube ich, auf einem sehr hohen Niveau. Wir haben auch sehr gearbeitet natürlich an manchen Dingen, weil, wenn die die gewissen Gänge so drin haben und von bestimmten Tempi oder so etwas, die eben im letzten Jahr einfach anders waren, das habe ich gar nicht zu beurteilen, das habe ich bloß gemerkt beim Dirigieren, da ist es eine ziemlich schwierige Arbeit, so was, sagen wir einmal, zu verändern.
Beim "Holländer" war das ganz anders, da hat man die ersten musikalischen Proben mit den Sängern, die machen dann das so oder ich mache so, wie die wollen, aber da ist jetzt nicht noch eine dritte Meinung, die dazwischen ist, wissen Sie?
Liebing: Nun gehören Sie ja fast, könnte man ja sagen, zum Inventar dieses Hauses. Sie sind musikalisch zumindest beinahe so etwas wie ein Hausherr hier. Führen Sie eigentlich eine Art von Strichliste?
Thielemann: Nein. Aber ich hab jetzt 110 Aufführungen. Doch, die Strichliste führen die hier im Haus. Die Premiere vom "Holländer" wird meine 111. sein. Ja, und ich bin gerne hier. Ich finde es einfach schön hier, die verschiedenen Stücke zu dirigieren. Und jetzt beim "Holländer" habe ich eben gemerkt: Eigentlich muss ich sagen, der "Holländer" ist das Schwerste, was ich hier bislang dirigiert habe. Weil es einfach am wenigsten für den Graben gemacht ist. Also, die "Meistersinger" waren schon sehr schwierig. Und das wird auch allgemein hier in Bayreuth als ein, sagen wir mal, kitzliges Werk angesehen. Aus verschiedenerlei eben akustischen und koordinatorischen Gründen.
Aber der "Holländer", muss ich Ihnen ehrlich sagen, den finde ich noch schwerer zu beherrschen. Das sind zwar, wenn Sie so wollen, nur zwei Stunden fünfzehn Minuten oder zwei Stunden vierzehn Minuten, aber die haben es so in sich, das ist so wie beim Marathonlauf oder so, da sind Sie hinterher auch fertig. Da können Sie auch nicht sagen, ja, der hat doch nur zwei Stunden zehn Minuten dirigiert, was will er denn, das ist doch alles so – der soll sich nicht so haben. Also Sie müssen unglaublich aufpassen, dass dieses Stück nicht einfach zu laut wird.
Liebing: Nun haben Sie ja noch viele Jahre vor sich, Sie sind für einen Dirigenten ja noch ein junger Spund, aber schon mit viel Erfahrung. Also, Sie haben noch viel Zeit, auch noch mehr hier zu dirigieren. Was fehlt eigentlich noch in diesem Zehnerrepertoire?
Thielemann: "Tristan" und "Lohengrin".
Liebing: "Tristan" gibt es in 2015, und dann folgt noch ein "Lohengrin"?
Thielemann: Es könnte sein.
Liebing: Nun, Anfang September treten Sie ja offiziell Ihr Amt an als Chef der Dresdner Staatskapelle. Dirigiert haben Sie das Orchester ja mittlerweile schon sehr, sehr häufig. Mal einen Blick auf das kommende Jahr, die Staatskapelle und Wagner 2013, das Jubiläumsjahr, was gibt es da mit der Staatskapelle?
Thielemann: Na ja, da gibt es natürlich den Dresdner Wagner, das ist ja ganz klar. Und wir sind so ein bisschen großzügig, wir nehmen den "Lohengrin" noch mit hinzu, weil der ist ja in Dresden oder um Dresden herum geschrieben worden, wurde angenommen zur Uraufführung vom damaligen Intendanten, nur leider kamen da so ein paar politische Dinge dazwischen, aufgrund derer der Wagner die Stadt verlassen hat oder verlassen musste, und dann der Liszt das gemacht in Weimar. Also wir nehmen den mit dazu. Und deswegen haben wir ein breites Programm. Und natürlich ist es klar, das ist ja natürlich eine Kompetenz.
Ich halte sehr viel von diesen traditionellen Dingen, die man heute wieder lebt, wissen Sie. Das ist ja – Tradition ist ja nicht etwas, was man einfach hat und wo man sich drauf ausruht, nicht, wie Fafner, "ich lieg' und besitz", sondern wir müssen da immer wieder ran, komischerweise, und wir müssen die wieder mit Leben erfüllen. Also insofern ist das von großer Wichtigkeit, und es ist natürlich das Selbstwertgefühl eines Orchesters wie das der Sächsischen Hofkapelle oder Staatskapelle ist natürlich sehr auf Wagner gegründet, denn Wagner war ja auch dort mal Hofkapellmeister. Weber auch.
Und ich meine, es ist schon ganz klar, dass dieses Orchester zu diesen musikalischen Dingen eine besondere Beziehung hat, und es schwingt dann immer noch was mit. Wissen Sie, da kann man nicht sagen, ja, die spielen das jetzt besser oder, das wäre ja jetzt auch anderen gegenüber nun sehr hochmütig. Aber ich glaube schon, dass da was mitschwingt. Das ist so wie bei den Wiener Philharmonikern – wenn die wissen, sie haben die Bruckner-Symphonie uraufgeführt – ich meine, natürlich nicht die selben Leute, die da sitzen, das wäre ja auch irgendwie, ginge ja gar nicht – und trotzdem schwingt da was mit, wissen Sie, und das finde ich was sehr Schönes.
Liebing: Und Richard Wagner hat ja dieses Orchester auch als "Wunderharfe" bezeichnet.
Thielemann: Das gibt es auf der Welt nicht noch mal. Also ich meine, da gibt es leider Gottes, was die "Wunderharfe" angeht, weder eine Briefstelle oder irgendetwas. Es ist irgendwie gefallen, bei einem – es ist verbürgt, der Ausspruch, sonst würde man ihn nicht verwenden. Leider gibt es das nicht schriftlich, also, ich würde mich wahnsinnig freuen, würde man das schriftlich haben, aber ich meine, alleine das Wort "Wunderharfe" finde ich so, das ist auch so typisch wagnerisch irgendwie, das konnte gar kein anderer sagen als der.
Aber das muss ich einfach sagen, das gefällt mir sehr, und die Dresdner Musiker haben dieses ruhige Selbstbewusstsein, wissen Sie, ein Selbstbewusstsein, was sich nicht auf Arroganz oder Besserwisserei oder so was gründet, sondern wenn man da drin, sage ich mal so ein bisschen altväterlich, man so ein bisschen ruht darin und das einfach halt so ist, dann muss man auch nicht hochmütig sein, dann ist man das auch nicht, sondern da sagt man, sagen wir mal so: Ihr habt das, andere haben das und das, wir haben aber das. Und das ist schön. Und das soll auch so sein, und dann geht man ja praktisch auf dem gleichen Niveau miteinander um.
Liebing: Demnächst wird Ihr Buch erscheinen, "Mein Leben mit Wagner". Ich weiß, es ist unfair, wenn ich Sie jetzt nötige, dieses Buch, sonst hätte man es ja nicht geschrieben, in einem Satz zusammenzufassen, aber ich gebe Ihnen fünf.
Thielemann: Toll! Ja. Es gibt ja nun über Wagner furchtbar viel Literatur. Es gibt, glaube ich, die, ich weiß nicht, die drei Menschen auf der Welt, über die ist am meisten geschrieben. Also der eine ist kein Mensch oder zumindest ein halber Mensch nur: Der eine ist Jesus Christus, der andere ist Karl Marx und der Dritte ist Richard Wagner. Ich glaube, der Vierte ist Adolf Hitler oder so, das sind ja ganz tolle Kombinationen. Nein, es gibt ja über Wagner alles. Sie können ja irgendwie nun wissen, was er gegessen hat, was er angehabt hat und so weiter. Aber was nicht beschrieben worden ist bislang, ist mal ein wirklich eigener Erfahrungsbericht zum Beispiel hier über dieses Haus.
Es ist ganz merkwürdig, dass auch keiner der Dirigenten, die bislang hier lange waren, mal, sagen wir mal, so ein bisschen positiv aus dem Nähkästchen geplaudert hat und gesagt hat, guckt mal, wenn ich das im offenen Graben in Wien dirigiere oder in Berlin oder wo auch immer, dann achte ich darauf. In Bayreuth muss ich da und da und darauf achten. Das ist, glaube ich, für das Publikum sehr interessant, und deswegen ist es natürlich dann "Mein Leben mit Wagner". Es hat mit mir was zu tun, aber es hat auch allgemein damit zu tun, dass ich mal etwas beleuchte, wie es eben um Wagner in diesem Hause bestellt ist, und wie es doch anders ist und verwirrend für einen Dirigenten, der hierher kommt und Wagner dirigiert, und, wie ich jetzt wieder merke, beim "Holländer", es ist wirklich von Stück zu Stück auch noch sehr, sehr unterschiedlich.
Das wird ein wenig dort beschrieben, und ich glaube, dass das sehr, sehr interessant ist fürs Publikum.
Kassel: Christian Thielemann. Morgen, bei der Eröffnung der 101. Bayreuther Festspiele, steht er am Dirigentenpult bei der Neuinszenierung der Oper "Der fliegende Holländer". Das gerade war ein Gespräch mit Christian Thielemann, das mein Kollege Jürgen Liebing geführt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christian Thielemann nämlich. Mein Kollege Jürgen Liebing hat mit ihm gesprochen, und er hat unter anderem über eine Besonderheit der morgigen Aufführung gesprochen, die eigentlich gar keine Besonderheit ist. Denn wenn morgen der Holländer beginnt, wenn er, wie das Wagner natürlich auch wollte, mit dem Vorspiel beginnt, dann wird man nichts sehen und nur Musik hören. Der Vorhang bleibt zu. Das ist eigentlich inzwischen nicht mehr ganz normal, weil gerne Regisseure schon dieses Vorspiel für den ein oder anderen Regieeinfall nutzen.
Da kann man dann doch etwas sehen, und deshalb hat Jürgen Liebing Christian Thielemann gefragt, ob er eigentlich damit einverstanden ist und ob ihn freut, dass das diesmal nicht passiert.
Christian Thielemann: Na ja klar, daraufhin habe ich ja auch hingearbeitet, dass wir uns da an die Partitur halten.
Jürgen Liebing: Obwohl anderes ja mittlerweile fast eher üblich ist.
Thielemann: Ja, wissen Sie, was üblich ist, hat mich noch nie geschert. Ich finde, man muss auch unabhängig sein gedanklich. Und es steht in der Partitur drin, es ist eine, in diesem Fall eine Ouvertüre und kein Vorspiel. Und das hat man ganz gerne für sich alleine, und es hat sich ja mittlerweile gottlob eigentlich bei vielen Regisseurinnen oder Regisseuren die Ansicht durchgesetzt, dass sie ja noch genug zu tun haben im Verlauf des Abends. Also, warum man sich dann auch noch die Last dieser Ouvertüre oder des Vorspiels auch noch aufhalsen muss, das verstünde man ja gar nicht, also, man kann ja auch ein bisschen ökonomisch vorgehen. Und das freut den Dirigenten dann ungemein.
Liebing: Jan Philipp Gloger, er ist einer der jüngsten Debütanten in Bayreuth neben Katharina Wagner und Patrice Chéreau, und sie sind, wenn ich das ein bisschen despektierlich sagen darf, ein alter Hase. Wie war die Zusammenarbeit?
Thielemann: Also der Gloger ist ein ganz begabter, ich will fast sagen, hochbegabter Mensch, der vor allen Dingen auch, was mich am meisten gefreut hat, seine Ansichten psychologisch so wunderbar an den Mann und die Frau gebracht hat. Wissen Sie, es ist ja nicht leicht, als, wie Sie sagen, junger Debütant mit so gestandenen Sängerinnen und Sängern, die schon eine Karriere, Weltkarriere hinter sich haben oder dabei sind, die zu zelebrieren, zu arbeiten.
Und wie er hier mit dem Chor umgegangen ist, also mit Leuten, die wirklich Erfahrung haben und die ja auch mit einem Blick und mit einem Riecher sofort riechen, dass der was kann oder eben nicht. Das hat mir großen Respekt abgenötigt, und er hat auch nie seine Stimme erhoben. Also er ist ein sehr erfreulicher Typ von Regisseur. Es ist wirklich bis zur gestrigen Hauptprobe hier kein böses Wort gefallen beim "Holländer". Also ich muss sagen, das erlebt man selten.
Das letzte Mal, wo ich es erlebt habe, war letzten Sommer in Salzburg bei der "Frau ohne Schatten" mit dem Christof Loy. Da war es genau dasselbe. Die sind sich vom Typ her relativ ähnlich. Das finde ich gut, wenn man bei den Eruptionen, die da gefühlsmäßig auf der Bühne sind, wenn da so ein paar Leute den kühlen Kopf bewahren. Und nun nicht auch noch mitmachen, wissen Sie, auf diesem Klavier weiter spielen.
Liebing: Sie sind in diesem Jahr nicht nur quasi Steuermann, sondern in gewisser Weise auch Feuerwehrmann, denn Sie sind eingesprungen für den Kollegen Thomas Hengelbrock, der die Premiere vom "Tannhäuser" im letzten Jahr dirigiert hat, inszeniert von Sebastian Baumgarten. Eine Inszenierung, die sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik nicht gut angekommen ist. Was wird denn diesmal musikalisch zumindest anders sein?
Thielemann: Na ja, musikalisch ist es natürlich wieder die Dresdner Fassung, vollständig. Also genau die, die ich schon vor Jahren hier in der Arnaud-Inszenierung dirigiert habe. Mit dem längeren Englischhornsolo vor dem Hirten, mit den zusätzlichen 13 Takten im zweiten Finale. Es kommen auch alle drei Strophen im ersten Akt. Es kommt die "Erbarm dich mein" und ich habe einen fabelhaften Tannhäuser, den Herrn Kerl, der also wirklich hier Unglaubliches geleistet hat, nämlich diese schwere Partie in dieser, wie Sie schon andeuteten, speziellen Inszenierung zu geben. Für mich ist das ein Abenteuer.
Ich habe das letzte Mal eine sehr dekorative Inszenierung dirigiert und habe mir eigentlich gedacht, dieses Mal, ja, mein Gott, warum wagst du das denn nicht einmal. Und außerdem, wenn hier Not herrscht in Bayreuth, dann springt man da natürlich ein, weil es ja auch der Musik gilt, verstehen Sie, ich kann ja jetzt nicht meine Mitwirkung davon abhängig machen, wie die Regie ist. Dann würde man ja der Regie noch mehr zugestehen. Also, da muss die musikalische Seite nun auch mal Flagge zeigen.
Und wir haben einige Sängerbesetzungen eben verändert und vor allen Dingen die Fassung verändert, was also für Herrn Baumgarten, glaube ich, auch nicht immer leicht war, denn er musste das ja nachinszenieren. Er hat auch ein paar Sachen geändert, und – es ist eine abenteuerliche Angelegenheit. Warum denn nicht?
Liebing: Aber ein Abenteuer, bei dem Sie irgendwie schon miteinander arbeiten?
Thielemann: Na ja, natürlich. Wissen Sie, mir fällt das so in den letzten Jahren auf: Je mehr man eigentlich das Traditionelle verinnerlicht hat und auch in der Tradition selber lebt und fest dort ist, desto mehr kann man sich auf Neues gelassen einlassen. Wissen Sie, ich lasse mich darauf mit großer Gelassenheit ein. Ich habe gewissermaßen oft geschmunzelt, und habe mir gesagt, na ja, das ist halt ein sehr ungewöhnlicher "Tannhäuser", ich mache das jetzt bislang auch nur dieses Jahr, weil eben, wie gesagt, das ein schwerer Zeitvorlauf war, und ich meine, es wäre ja auch irgendwie ein bisschen unökonomisch gewesen, zu sagen, jetzt mache ich hier sechsmal "Holländer" und laufe da immer fünf Tage durch die Gegend.
Ich bin ja eh hier in Bayreuth, also, da kann ich sozusagen den "Tannhäuser" noch mitnehmen, und mit dem Orchester macht es eh einen wahnsinnigen Spaß, dieser tolle Chor, und die Sänger sind wirklich alle jetzt, glaube ich, auf einem sehr hohen Niveau. Wir haben auch sehr gearbeitet natürlich an manchen Dingen, weil, wenn die die gewissen Gänge so drin haben und von bestimmten Tempi oder so etwas, die eben im letzten Jahr einfach anders waren, das habe ich gar nicht zu beurteilen, das habe ich bloß gemerkt beim Dirigieren, da ist es eine ziemlich schwierige Arbeit, so was, sagen wir einmal, zu verändern.
Beim "Holländer" war das ganz anders, da hat man die ersten musikalischen Proben mit den Sängern, die machen dann das so oder ich mache so, wie die wollen, aber da ist jetzt nicht noch eine dritte Meinung, die dazwischen ist, wissen Sie?
Liebing: Nun gehören Sie ja fast, könnte man ja sagen, zum Inventar dieses Hauses. Sie sind musikalisch zumindest beinahe so etwas wie ein Hausherr hier. Führen Sie eigentlich eine Art von Strichliste?
Thielemann: Nein. Aber ich hab jetzt 110 Aufführungen. Doch, die Strichliste führen die hier im Haus. Die Premiere vom "Holländer" wird meine 111. sein. Ja, und ich bin gerne hier. Ich finde es einfach schön hier, die verschiedenen Stücke zu dirigieren. Und jetzt beim "Holländer" habe ich eben gemerkt: Eigentlich muss ich sagen, der "Holländer" ist das Schwerste, was ich hier bislang dirigiert habe. Weil es einfach am wenigsten für den Graben gemacht ist. Also, die "Meistersinger" waren schon sehr schwierig. Und das wird auch allgemein hier in Bayreuth als ein, sagen wir mal, kitzliges Werk angesehen. Aus verschiedenerlei eben akustischen und koordinatorischen Gründen.
Aber der "Holländer", muss ich Ihnen ehrlich sagen, den finde ich noch schwerer zu beherrschen. Das sind zwar, wenn Sie so wollen, nur zwei Stunden fünfzehn Minuten oder zwei Stunden vierzehn Minuten, aber die haben es so in sich, das ist so wie beim Marathonlauf oder so, da sind Sie hinterher auch fertig. Da können Sie auch nicht sagen, ja, der hat doch nur zwei Stunden zehn Minuten dirigiert, was will er denn, das ist doch alles so – der soll sich nicht so haben. Also Sie müssen unglaublich aufpassen, dass dieses Stück nicht einfach zu laut wird.
Liebing: Nun haben Sie ja noch viele Jahre vor sich, Sie sind für einen Dirigenten ja noch ein junger Spund, aber schon mit viel Erfahrung. Also, Sie haben noch viel Zeit, auch noch mehr hier zu dirigieren. Was fehlt eigentlich noch in diesem Zehnerrepertoire?
Thielemann: "Tristan" und "Lohengrin".
Liebing: "Tristan" gibt es in 2015, und dann folgt noch ein "Lohengrin"?
Thielemann: Es könnte sein.
Liebing: Nun, Anfang September treten Sie ja offiziell Ihr Amt an als Chef der Dresdner Staatskapelle. Dirigiert haben Sie das Orchester ja mittlerweile schon sehr, sehr häufig. Mal einen Blick auf das kommende Jahr, die Staatskapelle und Wagner 2013, das Jubiläumsjahr, was gibt es da mit der Staatskapelle?
Thielemann: Na ja, da gibt es natürlich den Dresdner Wagner, das ist ja ganz klar. Und wir sind so ein bisschen großzügig, wir nehmen den "Lohengrin" noch mit hinzu, weil der ist ja in Dresden oder um Dresden herum geschrieben worden, wurde angenommen zur Uraufführung vom damaligen Intendanten, nur leider kamen da so ein paar politische Dinge dazwischen, aufgrund derer der Wagner die Stadt verlassen hat oder verlassen musste, und dann der Liszt das gemacht in Weimar. Also wir nehmen den mit dazu. Und deswegen haben wir ein breites Programm. Und natürlich ist es klar, das ist ja natürlich eine Kompetenz.
Ich halte sehr viel von diesen traditionellen Dingen, die man heute wieder lebt, wissen Sie. Das ist ja – Tradition ist ja nicht etwas, was man einfach hat und wo man sich drauf ausruht, nicht, wie Fafner, "ich lieg' und besitz", sondern wir müssen da immer wieder ran, komischerweise, und wir müssen die wieder mit Leben erfüllen. Also insofern ist das von großer Wichtigkeit, und es ist natürlich das Selbstwertgefühl eines Orchesters wie das der Sächsischen Hofkapelle oder Staatskapelle ist natürlich sehr auf Wagner gegründet, denn Wagner war ja auch dort mal Hofkapellmeister. Weber auch.
Und ich meine, es ist schon ganz klar, dass dieses Orchester zu diesen musikalischen Dingen eine besondere Beziehung hat, und es schwingt dann immer noch was mit. Wissen Sie, da kann man nicht sagen, ja, die spielen das jetzt besser oder, das wäre ja jetzt auch anderen gegenüber nun sehr hochmütig. Aber ich glaube schon, dass da was mitschwingt. Das ist so wie bei den Wiener Philharmonikern – wenn die wissen, sie haben die Bruckner-Symphonie uraufgeführt – ich meine, natürlich nicht die selben Leute, die da sitzen, das wäre ja auch irgendwie, ginge ja gar nicht – und trotzdem schwingt da was mit, wissen Sie, und das finde ich was sehr Schönes.
Liebing: Und Richard Wagner hat ja dieses Orchester auch als "Wunderharfe" bezeichnet.
Thielemann: Das gibt es auf der Welt nicht noch mal. Also ich meine, da gibt es leider Gottes, was die "Wunderharfe" angeht, weder eine Briefstelle oder irgendetwas. Es ist irgendwie gefallen, bei einem – es ist verbürgt, der Ausspruch, sonst würde man ihn nicht verwenden. Leider gibt es das nicht schriftlich, also, ich würde mich wahnsinnig freuen, würde man das schriftlich haben, aber ich meine, alleine das Wort "Wunderharfe" finde ich so, das ist auch so typisch wagnerisch irgendwie, das konnte gar kein anderer sagen als der.
Aber das muss ich einfach sagen, das gefällt mir sehr, und die Dresdner Musiker haben dieses ruhige Selbstbewusstsein, wissen Sie, ein Selbstbewusstsein, was sich nicht auf Arroganz oder Besserwisserei oder so was gründet, sondern wenn man da drin, sage ich mal so ein bisschen altväterlich, man so ein bisschen ruht darin und das einfach halt so ist, dann muss man auch nicht hochmütig sein, dann ist man das auch nicht, sondern da sagt man, sagen wir mal so: Ihr habt das, andere haben das und das, wir haben aber das. Und das ist schön. Und das soll auch so sein, und dann geht man ja praktisch auf dem gleichen Niveau miteinander um.
Liebing: Demnächst wird Ihr Buch erscheinen, "Mein Leben mit Wagner". Ich weiß, es ist unfair, wenn ich Sie jetzt nötige, dieses Buch, sonst hätte man es ja nicht geschrieben, in einem Satz zusammenzufassen, aber ich gebe Ihnen fünf.
Thielemann: Toll! Ja. Es gibt ja nun über Wagner furchtbar viel Literatur. Es gibt, glaube ich, die, ich weiß nicht, die drei Menschen auf der Welt, über die ist am meisten geschrieben. Also der eine ist kein Mensch oder zumindest ein halber Mensch nur: Der eine ist Jesus Christus, der andere ist Karl Marx und der Dritte ist Richard Wagner. Ich glaube, der Vierte ist Adolf Hitler oder so, das sind ja ganz tolle Kombinationen. Nein, es gibt ja über Wagner alles. Sie können ja irgendwie nun wissen, was er gegessen hat, was er angehabt hat und so weiter. Aber was nicht beschrieben worden ist bislang, ist mal ein wirklich eigener Erfahrungsbericht zum Beispiel hier über dieses Haus.
Es ist ganz merkwürdig, dass auch keiner der Dirigenten, die bislang hier lange waren, mal, sagen wir mal, so ein bisschen positiv aus dem Nähkästchen geplaudert hat und gesagt hat, guckt mal, wenn ich das im offenen Graben in Wien dirigiere oder in Berlin oder wo auch immer, dann achte ich darauf. In Bayreuth muss ich da und da und darauf achten. Das ist, glaube ich, für das Publikum sehr interessant, und deswegen ist es natürlich dann "Mein Leben mit Wagner". Es hat mit mir was zu tun, aber es hat auch allgemein damit zu tun, dass ich mal etwas beleuchte, wie es eben um Wagner in diesem Hause bestellt ist, und wie es doch anders ist und verwirrend für einen Dirigenten, der hierher kommt und Wagner dirigiert, und, wie ich jetzt wieder merke, beim "Holländer", es ist wirklich von Stück zu Stück auch noch sehr, sehr unterschiedlich.
Das wird ein wenig dort beschrieben, und ich glaube, dass das sehr, sehr interessant ist fürs Publikum.
Kassel: Christian Thielemann. Morgen, bei der Eröffnung der 101. Bayreuther Festspiele, steht er am Dirigentenpult bei der Neuinszenierung der Oper "Der fliegende Holländer". Das gerade war ein Gespräch mit Christian Thielemann, das mein Kollege Jürgen Liebing geführt hat.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.