Holocaust-Gedenktag in Israel

Überlagerte Erinnerungen

08:05 Minuten
Eine Gruppe von drei jüdischen Männern (Displaced Persons) mit israelischer Fahne vor ihrer Abreise nach Palästina neben einem Soldaten (um 1948).
Jüdische Männer, sogenannte Displaced Persons, vor ihrer Abreise nach Palästina Ende der 1940er-Jahre. © picture alliance / akg-images / Walter Limot
Von Ofer Waldman · 26.01.2022
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In Israel wird jedes Jahr im Frühjahr an die Shoa erinnert und nicht am Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Die Gründe dafür liegen auch in den Ereignissen in Palästina im und nach dem Zweiten Weltkrieg.
„Die Erinnerung sozusagen hier, an Yom HaShoa, das heißt an den Holocausttag, ist verbunden mit dem Warschauer Aufstand und der Vorstellung von Widerstand, der hätte geleistet werden sollen, auch von anderen. Aber man erkennt nicht an, dass das, sozusagen, eine Verzweiflung gewesen ist im Kontext eines sicheren Todes, und nicht ein Kampf um Leben“, sagt der Historiker Dan Diner.
Der internationale Holocaust-Gedenktag am 27. Januar erinnert an die Befreiung von Auschwitz. In Israel ist das anders. Hier wird der Holocaustgedenktag im Frühling begangen und bezieht sich auf den jüdischen Aufstand im Warschauer Getto 1943. Eine bewusste, nationalpolitische Entscheidung, betont der deutsch-israelische Historiker Dan Diner in einem Gespräch in seiner Tel Aviver Wohnung.
„Insofern ist es in Richtung, nennen wir es mal so, Widerstandsmythos gegangen, der der Realität, der Nazi-Vernichtungspolitik, die in Auschwitz ihre Apotheose findet, nicht harmonieren kann.“

Der Zweite Weltkrieg als der „andere" Krieg

Es ist eine sonderbare Wahrnehmung des Holocausts, die bereits vor der Gründung Israels unter den Juden Palästinas während des Zweiten Weltkrieges herrschte. Für sie war der Zweite Weltkrieg „Ein anderer Krieg“, so der mehrdeutige Titel von Diners jüngstem Buch, das letztes Jahr bei der Deutschen Verlagsanstalt erschien.
„Das bedeutet, dass Palästina in einer Konstellation war zwischen zwei Kriegen. Einmal sozusagen unter britischer Herrschaft relativ geschützt zu sein, und mit dem Ausgang der Schlacht von El Alamein war die Gefahr, die mögliche Gefahr, dass Rommel die Grenzen Palästinas erreicht, abgewendet.“
Bernard Law Montgomery: Ein älterer Mann in Uniform und Fernglas steht auf einem Panzer.
Bernard Law Montgomery während der Schlacht von El Alamein in Nordafrika 1942. © imago images/Reinhard Schultz
Palästina gehörte – wie der gesamte Nahost – zum Herrschaftsbereich der Briten. Im gleichen Monat, in dem sie Erwin Rommels Armee vor den Toren Palästinas schlugen, drangen an die jüdische Bevölkerung Palästinas erste Nachrichten vom Schicksal der Juden Europas.  
„Als die Nachrichten von Herbst 1942 das Land erreichten, klangen sie derartig unglaublich, dass sie einfach nicht akzeptiert wurden, bzw. eine psychische Abwehr wirksam wurde. Und andererseits gab es so etwas, wie eine peinliche Reaktion.
Dass man sich selbst sozusagen auf die Schultern schlug, will man sagen, wir haben die richtige Entscheidung getroffen, dass wir hierhergekommen sind, also nach Palästina, ohne zu merken, dass das eigentliche Überleben einer Konstellation geschuldet war, an der sie keinen Anteil hatten, nämlich, die britische Präsenz, und dass Rommel von Montgomery bei El Alamein geschlagen wurde.“

Auswirkungen des Sieges bei El Alamein

Mit dem britischen Sieg war die unmittelbare Gefahr für die Juden Palästinas abgewendet. Damit rückte für sie auch der Zweite Weltkrieg und mit ihm die nicht zu fassenden Nachrichten von der Ermordung der Juden Europas wieder in den Hintergrund.
„Ich würde fast sagen, dass damit das Interesse für den Zweiten Weltkrieg abgeflaut ist, und eigentlich der andere Krieg, nämlich der Kampf um Palästina, begann, der sich hinzog bis zum Jahre 1947-48. Und insofern man könnte sagen, überwölbte dieser Krieg die Zeiteinteilung, die wir sonst kennen, wenn wir das Jahr 1945 ganz stark machen. Ich will aber damit nicht zum Ausdruck bringen, dass kein Bewusstsein dafür bestand, dass der Krieg zu Ende gegangen ist, und dass die Lager befreit wurden.“

Das Schweigen der Überlebenden

Vor allem die Überlebenden der Katastrophe trugen dieses Bewusstsein in sich. Doch selbst sie fügten sich alsbald der Wahrnehmung der jüdischen Bevölkerung in Palästina.
„Die sogenannten DPs, Displaced Persons, also diejenigen die keine Heimat mehr hatten und nicht mehr zurückkonnten, und mehrheitlich den Weg nach Palästina einschlagen wollten. Und auch bei Ihnen ist sozusagen die Erinnerung, an das was geschehen ist, abgeflaut, weil der Erwartungshorizont eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina alles andere überdeckt hat.“
Das Schweigen der Überlebenden, so Diner, war auch das Resultat eines stillen Vorwurfs vonseiten der jüdischen Bevölkerung Palästinas.

„Das große Missverständnis, hier im jüdischen Palästina, war gewesen, dass man den Juden einen Vorwurf machte, dass sie sich nicht gewährt hätten. Derartige Vorwürfe machen nur deutlich, dass man keine Ahnung hatte, von dem, was der Nazismus bedeutet, und der Zweite Weltkrieg und die Lager. Es ist völlig unsinnig. Und auch die vormaligen Opfer haben sich diesem Diskurs insoweit angeschlossen, dass sie geschwiegen haben.
Das heißt, es gab so etwas wie ein Mehltau, der über dem Ganzen lag, dass man über das, was dort geschehen ist, nicht spricht. Und diese Abwehr wurde erst gebrochen mit dem Eichmann Prozess. Da konnte man sagen, öffnete sich das israelische Bewusstsein, wenn man so will, der Wahrnehmung des Holocaust. Und erst im Jahre 1960/61 brach das an die Oberfläche.“

Noch ein Grund für das Vergessen

Diner identifiziert einen weiteren, in Vergessenheit geratenen Grund zur Marginalisierung des 27. Januar in Israel, nämlich die tiefsozialistische Identität der jüdischen Ansiedlung Palästinas und des jungen Israels.
„Die Befreiung von Auschwitz erfolgte durch die Rote Armee. Und die Identifikation mit der Roten Armee war hier sehr, sehr stark. Das heißt, die Rote Armee war eigentlich das Idealbild gewesen. Und insofern war man mitbeteiligt am Sieg durch die Identifikation. Und da gibt es eine Ähnlichkeit mit dem Bewusstsein der russischen Juden heute, die den 9. Mai als Siegesdatum über die Nazis ansehen, im Kontext sozusagen des Sieges der Roten Armee über die Wehrmacht. Und nicht sozusagen die Daten, die mit der Befreiung der Konzentrationslager zu tun haben.“
In den letzten Jahren ist der israelische Gedenktag jedoch – zumindest inhaltlich an jenen internationalen des 27. Januar herangerückt, so Dan Diner:
„Inzwischen hat sich auch hier sehr viel geändert. Dass man, obwohl man diesen Tag bewahrt, als Erinnerungstag, das, was man an diesem Tag heute zur Kenntnis genommen wird, vielmehr das andere ist, nämlich der absolute Tod. Und weniger der Widerstand. Aber das Datum ist geblieben.“
Und eben dieses Datum ist eine Reminiszenz der sonderbaren Wahrnehmung des Holocausts durch die Juden Palästinas, eine Wahrnehmung, die Dan Diners Buch, „Ein anderer Krieg“ ins Gedächtnis ruft.
„Das ist ein sehr, sehr komplex verflochtener, geflochtener Zusammenhang, in dem Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Geschichte Palästinas, Geschichte von Überleben, Geschichte von Beteiligung am Krieg und vor allem, ja, eine Geschichte der Militanz hier in Palästina damals in dieser Zeit vor allem gegen die Briten und dann später im ersten arabisch-israelischen Krieg sich ausdrückte“, sagt Dan Diner.

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