Der Horror bewusst naiv erzählt

Mit dem Tod der letzten Zeitzeugen werden die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, die nationalsozialistischen und die kommunistischen, unwiederbringlich historisch. Von nun an halten nur noch Fiktionen die Erinnerung an die Opfer wach. Verharmlosung ist keine notwendige Folge, das zeigt Jáchym Topols atemberaubender Roman "Die Teufelswerkstatt".
Topols namenloser Erzähler wächst in Theresienstadt auf, wo seine Mutter das nationalsozialistische KZ überlebt hat. Als die "Stadt des Todes" bis auf die staatliche Gedenkstätte dem Erdboden gleichgemacht werden soll, wehren sich ihre Bewohner, fast sämtlich Überlebende.

Unter der Führung von Onkel Lebo, der geheim im KZ geboren wurde, errichten sie ein alternatives Gedenkzentrum, eine Mischung aus Ashram und Kommune mit Joints und Getto-Pizzen. Tausende von "Pritschensuchern" reisen an, um nach Spuren ihrer ermordeten Großeltern zu suchen. Unter ihnen ist die hübsche Sarah, die dem Erzähler sehr gefällt. Er ist als rechte Hand Lebos zuständig für das erfolgreiche weltweite Fundraising der Kommune, weil er im Gefängnis als Helfer des Henkers Computerkenntnisse erworben hat.

Als Abrissbagger im Auftrag des Staates die Kommune zerstören, reden zwei Weißrussen auf den Erzähler ein. Das Guinness-Buch der Rekorde verzeichne zwar vier Millionen weißrussische Tote im Zweiten Weltkrieg, doch die Touristen fehlten in ihrem Land, klagen Alex und Maruška. Als Experte und mit den auf einem USB-Stick gespeicherten Sponsorenadressen soll der Erzähler die unbekannten Gräberstätten revitalisieren helfen:

"Wir wollen auch auf die Weltkarte."

Weil das Meer schon an Italien, der Käse an Holland und der Sex an Thailand vergeben sei, eben als Horrortrip: als Werkstatt des Teufels.

Schon in Minsk werden der Erzähler und Maruška bei undurchschaubaren Scharmützeln zwischen Opposition und Regierung beinahe exekutiert. Sie sehen geheime Ausgrabungen von Massengräbern mit weißrussischen, jüdischen und deutschen Leichen, ermordet von Deutschen, Sowjets und Weißrussen. Schließlich kommen sie in eines jener Dörfer, von denen seit 70 Jahren nur noch die gemauerten Schornsteine stehen. Die Mörder waren nicht Deutsche, sondern Ukrainer, aber das kümmert den Weißrussen Alex nicht: Für das Dorfmuseum hat er Überlebende des Dorfes, aber auch von Konzentrationslagern ermordet, mumifiziert und so elektrifiziert, dass die Mumien ständig ihre Leidensgeschichte aufsagen. Auch Lebo ist unter ihnen.

Aus der anfänglich absurden Shoah-Business-Komödie mit Hippie-Anklängen wird in der Mitte des Buches eine Opferkonkurrenz-Tragödie voller Horrorbilder. Topol verknüpft die ikonografischen historischen Bilder des Grauens zu einer apokalyptischen Stationenfolge, durch die sich sein Protagonist unschuldig wie eine Figur des tschechischen Nationalidols Bohumil Hrabal bewegt; Biere und Späßchen sind allerdings durch Drogen und Liebesgefühle ersetzt.

Der von der Übersetzerin Eva Profousova wunderbar getroffene naive Erzählton hält das Buch zusammen. Topols stupende Fantasie wirkt gebremster als in seinen früheren Büchern, der Ton ist dafür schärfer. Die Konflikte zwischen Ost und West um das richtige Opfergedenken, die moralisch bestürzenden Mischungen von Täter und Opfer – all das könnte bald so kommen wie in "Die Teufelswerkstatt". Ein großartiger Schriftsteller war Jáchym Topol schon bisher. Spätestens jetzt ist er zu einem von europäischem Rang geworden.


Besprochen von Jörg Plath

Jáchym Topol: Die Teufelswerkstatt
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová, Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 202 Seiten, 26,80 EUR
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