Der ignorierte Abgang

Von Michael Schornstheimer |
"Die Beschäftigung mit dem Tod … ist die Wurzel aller Kultur", urteilte Friedrich Dürrenmatt. Doch für immer mehr Menschen sind Sterben und Tod ein Tabu. Die familiären Zusammenhänge haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gelockert. Zur räumlichen Entfernung durch berufliche Mobilität gesellen sich emotionale Entfremdung und Sprachlosigkeit, wenn unterschiedliche Lebenswelten nicht mehr "kompatibel" sind.
"Der Mensch ist ein Gras, das nicht lange steht.
Und ein Schatten, der bald vergeht."

"Wenn Sie einen Menschen fragen, was sind die wichtigsten Erfahrungen und Erlebnisse in ihrem Leben gewesen, so sind das etwa zu 70 Prozent die Abschieds- und Sterbesituationen."

"Heute ist die Tendenz ja eher, dass man einen Anruf beim Bestatter macht und der möge sich dann bitte um alles Weitere kümmern, so dass man so wenig Kontakt mit dem Toten hat, wie es gerade geht."

"Wir haben schon Leute erlebt, die wussten genau, dass sie noch ein halbes Jahr zu leben haben. Und sind dann bewusst in den Wald gegangen, um sich ihren Platz auszusuchen. Die waren in der Regel in dem Moment alle froh."
"Der Mensch ist ein Fleisch, das alsbald stinkt,
und ein Schiffl, das bald versinkt."

Einst war der Tod ein vertrauter Gast. Noch bis vor zwei, drei Generationen: Gestorben wurde zu Hause. Enkel und Kinder standen am Sterbebett. Die Angehörigen wuschen den Leichnam. Zur Beerdigung strömten nahe und ferne Verwandte, Nachbarn und Bekannte. Oft entwickelte sich die anschließende Trauerfeier zu einem ausgelassenen Leichenschmaus. Erst dann kehrten die Trauernden langsam wieder zurück ins alltägliche Leben.

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Tod immer mehr zum unerwünschten Fremden, der aus dem Haus verbannt werden sollte. Erkannt und präzise beschrieben hat das der Soziologe und Philosoph Norbert Elias, der Anfang der 80er Jahre einen Essay publizierte "Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen". Das Sterben wandelt sich, diagnostizierte Elias.

"Die Haltung zum Sterben, das Bild des Todes in unseren Gesellschaften ist ohne Bezug auf diese vergleichsweise größere Sicherheit und Vorhersehbarkeit des individuellen Lebenslaufs und der entsprechend höheren Lebenserwartung nicht ganz zu verstehen. Das Leben wird länger, das Sterben wird weiter hinausgeschoben. Der Anblick von Sterbenden und Toten ist nichts Alltägliches mehr. Man kann im normalen Gang seines Lebens den Tod leichter vergessen. Zuweilen spricht man heute davon, dass Menschen den Tod ‚verdrängen’."

Der bekannte Autor der umfangreichen Studie über den "Prozess der Zivilisation" war damals in akademischen Kreisen nahezu populär. Doch seine Schrift "Über die Einsamkeit der Sterbenden" stieß auf wenig Resonanz und erlebte keine zweite Auflage.

Die diagnostizierte "Verdrängung" von Sterben und Tod begriff Elias als individuellen und gesellschaftlichen Prozess, ausgelöst durch einen "Zivilisationsschub".
Dieser "Zivilisationsschub" wurde durch zahlreiche Faktoren ausgelöst: durch eine Medizin, die sich rasant weiterentwickelte und mit Hilfe von neuen Medikamenten und Apparaten den Zeitpunkt des Todes immer weiter hinausschieben konnte. Durch gesündere Lebensweise und bessere Ernährung. Und vor allem durch eine zunehmende Individualisierung.

"Das Bild vom Tode im Bewusstsein eines Menschen ist aufs engste verbunden mit dem Bilde von sich selbst, vom Menschen, das in der Gesellschaft vorherrscht. In den entwickelten Gesellschaften verstehen sich Menschen weithin als von Grund auf unabhängige Einzelwesen, (...) denen die ganze Welt, also auch alle anderen Menschen, als ‚Außenwelt’ gegenübersteht und deren ‚Innenwelt’ wie durch eine unsichtbare Mauer von dieser Außenwelt getrennt, also auch von anderen Menschen, abgetrennt ist."

Die Art des Sterbens, meinte Norbert Elias, hängt deshalb auch davon ab, ob und wie weit ein Mensch die Möglichkeit hat, sich für sein Leben Aufgaben und Ziele zu setzen und sie auch zu erreichen.

"Sie hängt davon ab, ob und wieweit der Sterbende das Empfinden hat, sein Leben sei ein erfülltes, ein sinnvolles, oder, je nachdem, auch unerfüllt und sinnleer gewesen. Die Gründe dieses Empfindens sind durchaus nicht immer klar. (...) Aber (...) man kann vielleicht annehmen, dass das Sterben für jemanden leichter wird, der empfindet, er habe das Seine getan, und schwerer ist für jemanden, der fühlt, er habe sein Leben versäumt."

"”Es gibt erstaunliche Situationen des Sterbens, dass eben Menschen sich entscheiden können: räumen ihr Leben auf, legen sich ins Bett und sterben. Es gibt Menschen, die können das überhaupt nicht, die wollen das und quälen sich wochenlang oder vielleicht noch länger. Aber es gibt gerade in der Sterbesituation Erfahrungen und Erlebnisse, wo wir sagen, was ist das, was das begleitet? Und das steht auch außerhalb unserer Einflussmöglichkeiten. Es ist schon etwas Fremdbestimmtes, was da abläuft.""

Christoph Müller Busch leitet am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin die so genannte Palliativ-Station. Hier werden Menschen aufgenommen, die an einer unheilbaren Krankheit leiden und bald sterben werden. Die Mitarbeiter der Palliativ-Station kümmern sich darum, dass die Patienten ihre restliche Lebenszeit möglichst erfüllt und beschwerdearm verbringen können.

"Also durch Schmerzbehandlung, durch Behandlung der Atemnot, durch Behandlung der Übelkeit, durch Behandlung von stinkenden Wunden, was es eben auch mal gibt, also durch alles, was eine Erkrankung und eine Lebenssituation belasten kann."

Seit dem Befund von Norbert Elias über die Einsamkeit der Sterbenden von 1982 haben sich die Fortschritte der modernen Medizin weiter beschleunigt. Die Lebenserwartung steigt. Die hoch technisierte Intensivmedizin verlängert aber auch häufig den Sterbeprozess und damit die Zumutung des Leidens. Viele Menschen fürchten sich davor und sie versuchen, sich mit so genannten Patientenverfügungen davor zu schützen. Der Segen der Medizin ist zugleich zu ihrem Problem geworden, findet auch Christoph Müller Busch:

"Zu einem Grundanliegen und einer Grundaufgabe der Medizin gehört es, Menschen auf das Sterben, auf den Tod vorzubereiten. Dass das Leben endlich ist. Dass eben wir nicht alles können in der Medizin, dass wir verzichten lernen auf bestimmte Maßnahmen. Dass ist etwas, was eben grundsätzlich dazugehört. Und gerade angesichts fortgeschrittener Erkrankungen haben wir es immer mit Menschen zu tun, die sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit dem Tod auseinandersetzen. Mit existenziellen Fragen, mit spirituelle Fragen, und genau das ist das Anliegen der Palliativmedizin, neben der Symptomkontrolle auch diese Frage in die Beziehung mit aufzunehmen die sie beschäftigen."

Jährlich sterben in Deutschland etwa 850.000 Menschen. Während die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen ist, hat sich an den Todesursachen nichts geändert. Fast ein Dreiviertel, also 600.000, sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.

Nach einer Umfrage der Deutschen Hospiz Stiftung aus dem Jahr 2001 wünscht sich eine Mehrheit der Bevölkerung einen schnellen und plötzlichen Tod.

"Wie Woody Allen mal gesagt hat: ‚Ich habe keine Angst vorm Sterben, aber ich möchte nicht dabei sein.’ Es ist ein großer Unterschied, Menschen zu befragen, die gesund sind und Menschen, die sterbenskrank sind. Menschen, die gesund sind möchten sozusagen aus dem heiteren Leben gerissen werden, durch einen Herzinfarkt sterben. Im Schlaf sterben, also morgens nicht mehr aufwachen und tot sein oder durch einen Unfall sterben. Während wenn Sie kranke oder schwerstkranke Menschen befragen und deren Angehörige, so steht an oberster Stelle die Symptomkontrolle, also die Behandlung von belastenden Schmerzen und weiteren Symptomen. Als weiteres kommt, auf die Sterbesituation vorbereitet zu werden. Der Zeitpunkt muss stimmig sein, und im Schlaf zu sterben ist weniger ein Anliegen der Sterbenden oder der betroffenen Angehörigen, sondern die Sterbesituation so gut und so würdig zu gestalten wie es geht."

"Es ist wirklich eine Chance, den Tod auf sich zukommen zu sehen. Erstens muss man keine Rücksichten mehr nehmen; zweitens kann man alles vorbereiten und abschließen. Der Tod tritt weder als scharfe Zäsur mitten ins Leben, noch kommt er auf seinen bösen, leisen Sohlen."

Urteilte der krebskranke Jurist Peter Noll in seinen Diktaten über "Sterben und Tod". Doch wie der Sterbeprozess letztlich verläuft, bleibt auch für den erfahrenen Chefarzt Christoph Müller-Busch immer wieder ein Geheimnis und eine Überraschung.

"Wir unterscheiden den normalen Weg, dass ist der, dass man eben schwächer wird, dass man bewusstseinseingeschränkt wird und einschläft und stirbt, und dann gibt es den komplizierten Weg, der mit Ängsten verbunden ist, der mit Schmerzen verbunden ist, der manchmal mit Wesensveränderungen verbunden ist, oder sogar häufig mit Wesensveränderungen verbunden ist. Wir wissen nicht, woran es liegt. Aber was wir immer erleben ist, dass die Auseinandersetzung mit Zeit etwas enorm Wichtiges ist. Also sowohl der vergangenen Zeit als auch der Gegenwart als auch der Zukunft. Zeit wird enorm wichtig. Bekommt eine ganze andere Dimension, als das bei uns Gesunden der Fall ist. Auch Wahrnehmung ist etwas, was sich verändert."

Verbreitet ist der Wunsch, zu Hause zu sterben. Gerade die letzten Wochen und Tage ihres Lebens wollen Sterbende in der gewohnten Umgebung verbringen, gemeinsam mit Familienangehörigen und vielleicht auch engen Freunden. Doch die Realität sieht anders aus, bilanziert eine Stellungnahme des Nationalen Ethikrates aus dem Jahr 2006.

"In Deutschland stirbt nur etwa einer von zehn Menschen zu Hause. Das hat unterschiedliche Gründe: Die medizinische Behandlung kann die Einweisung ins Krankenhaus nötig gemacht haben; nicht wenige Menschen sind lange vor der Sterbephase in eine Pflegeeinrichtung übergesiedelt oder suchen in der Sterbephase ein stationäres Hospiz auf. In zahlreichen Fällen erlauben die Lebensverhältnisse kein Sterben zu Hause, insbesondere dann, wenn keine nahe stehenden Personen zur Verfügung stehen oder die Angehörigen sich die Sterbebegleitung nicht zutrauen."

Es liegt aber auch an unserer zunehmend mobilen Gesellschaft. Zumindest in den Großstädten lebt und arbeitet fast niemand mehr dort, wo er ursprünglich geboren wurde. Nur die alten Eltern sind am Heimatort geblieben.

Viele Alte und Kranke leben allein, bis sie eines Tages wegen eines akuten Notfalls ins Krankenhaus kommen. 75 Prozent, drei Viertel von ihnen, können danach nicht mehr allein ihren Haushalt führen und werden deshalb aus dem Krankenhaus in ein Alten- und Pflegeheim entlassen, hat der Nationale Ethikrat in einer Untersuchung herausgefunden.

"Etwa 30 Prozent der Bewohner von Pflegeheimen versterben innerhalb der ersten drei Monate nach ihrem Einzug."

"Ich glaube schon, dass es wichtig ist, dass wir lernen, besser mit der Endlichkeit unseres Lebens und mit Sterben und Tod umzugehen. Wir müssen davon ausgehen, dass inzwischen Sterben enorm viel mit Entscheidungen zu tun hat. Das findet zu 60 bis 80 Prozent in Institutionen statt. Und in diesen Institutionen muss die Verantwortung für Sterbesituationen aufgenommen werden, und es müssen Entscheidungen gefällt werden, über Therapie. Und es müssen alle einbezogen werden. Und wenn die Menschen das besser annehmen können, dann wird auch eine gesellschaftliche Entwicklung sein, in denen Sterben und Tod nicht als Niederlage empfunden wird, sondern eben als etwas, was zum Leben dazu gehört und was das eigene Leben bereichern kann und da bin ich fest von überzeugt."

"Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Tote Menschen haben keine Probleme. Unter den vielen Geschöpfen auf dieser Erde, die sterben, sind es allein die Menschen, für die Sterben ein Problem ist. Sie teilen Geburt, Jugend, Geschlechtsreife, Krankheit, Altern und Tod mit den Tieren. Aber sie allein unter allen Lebewesen wissen, dass sie sterben werden; sie allein können ihr eigenes Ende voraussehen."

"Der Anblick eines Sterbenden rüttelt an der Phantasieabwehr, die Menschen wie eine Schutzmauer gegen den Gedanken des eigenen Todes aufbauen", erkannte Norbert Elias in seinem Essay.

Kinder und Jugendliche haben noch das Gefühl, dass das Leben endlos ist. Dreißigjährige kommen ihnen wie Greise vor. Das ändert sich, wenn sie selbst im dritten oder gar vierten Lebensjahrzehnt stehen. Plötzlich ist alles anders. Eines Tages wird klar, dass selbst bei Erreichen der durchschnittlichen Lebenserwartung schon mehr als die Hälfte der Lebenszeit verronnen ist. Unfälle und tödliche Krankheiten im Bekanntenkreis werden zum "memento Mori". Der Mahnruf aus der Antike sollte siegreiche Feldherren vor dem Größenwahn bewahren und an den eigenen Tod erinnern.

Das erklärt einen Teil der Abwehr, der so genannten Verdrängung. Gleichzeitig sind Sterben und Tod aber auch essentiell für die Lebenden, wie Chefarzt Christoph Müller-Busch immer wieder feststellt.

"Durch den Tod meines Bruders, der sich das Leben genommen hat, sehr früh bin ich mit der Frage der Auseinandersetzung mit Sterben und Tod gekommen. Das ist vielleicht auch das Faszinierende an der Palliativmedizin oder der Grund, warum das Sterben wieder mehr ins Interesse gerät, dass das doch eigentlich die wichtigste Zeit im Leben ist, für einen selber, mit dem Experiment, was uns allen bevorsteht, aber auch im Erleben der anderen. Wenn Sie einen Menschen fragen, was sind die wichtigsten Erfahrungen und Erlebnisse gewesen, so sind das etwa zu 70 Prozent die Abschiedssituationen in den Sterbesituationen."

Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in den Medien. Auf allen Kanälen wird getötet und gemordet. Messer blitzen. Pistolen ballern. Automatische Gewehre rattern. Blut fließt in Strömen. Im Actionkino und im Fernsehthriller. Auch bei Computerspielen. Schon Zehnjährige üben den virtuellen Massenmord, der von der Spiele-Industrie erst für Jugendliche ab sechzehn oder achtzehn empfohlen wird. Die Gegensätze könnten krasser kaum sein, findet die TU-Professorin Dagmar Schmaucks. An der Arbeitsstelle für Semiotik der Technischen Universität Berlin erforscht sie den "toten Mensch als Zeichen".

Als Siebenjährige erfuhr Dagmar Schmaucks, dass sich ihr Großonkel erhängt hatte. Mit elf erlebte sie, wie ihr Großvater jämmerlich an Magenkrebs starb. Seitdem hat sie das Thema nicht mehr losgelassen:

"Ich hab bei meinen Studenten herumgefragt und es gibt Studenten, die mit Mitte oder Ende Dreißig noch nie einen toten realen Menschen gesehen haben. Ich meine, Sie können ja heute nicht eine Nachrichtensendung sehen, ohne dass Sie da Opfer von Explosionen, Terroranschlägen, Kriegsereignissen, Hungerkatastrophen, Tsunamis und so weiter sehen. Das heißt, wir kriegen ein sehr unrealistisches Bild von Tod, weil in den Medien immer der spektakuläre Tod, der gewaltsame Tod, der Tod durch Einwirkung anderer Menschen thematisiert wird, aber dieses ganz alltägliche und sehr unspektakuläre Sterben im Krankenhaus, im Altersheim, im Hospiz, das ist natürlich sehr viel weniger im öffentlichen Bewusstsein drin. Deshalb ist auch die Todeserfahrung von Kindern, die mit so etwas aufwachsen, die ist natürlich sehr, sehr unrealistisch, sehr, sehr schräg, im Vergleich zu dem, was wirklich passiert. Die waren nicht dabei wahrscheinlich, wie die Omi gestorben ist, aber die haben natürlich Krimis ohne Ende gesehen."

Dagmar Schmaucks wagt die These, dass der Höhepunkt der gesellschaftlichen Verdrängung von Sterben und Tod schon überschritten sein könnte. Denn zumindest in der Großstadt Berlin beteiligen die Bestatterfirmen die Angehörigen der Verstorbenen mehr als früher beim Begräbnis.

Es kommt jetzt häufiger vor, dass die Hinterbliebenen den Sarg selbst bemalen und die Musik zur Trauerfeier auswählen. Und sie mit persönlichen Ritualen gestalten. Die Formen der Bestattung werden vielfältiger.

"Es gibt also beide Extreme: dass man jemanden so ganz und gar verewigen möchte. Das Klassische war ja das Einbalsamieren von Herrschern, heute ist die Plastination an die Stelle getreten, also der vieldiskutierte Gunter von Hagen und seine Leichenfabrik, wie das in der Boulevard-Presse immer heißt. Und auf der anderen Seite gibt es natürlich andere Kulturgemeinschaften, die auf schnellstmögliche materielle Auflösung Wert legen. Am anderen Ende der Skala wäre so etwas wie die traditionelle Tibetische Himmelsbestattung, da wurde der Leichnam in das nächste Kloster gebracht, von den Mönchen rituell zerlegt, und dann den Geiern, die schon warteten, weil sie bestimmte Melodien einfach kennen, aufgefressen. Also innerhalb von 24-Stunden war von der Leiche nichts mehr übrig. Zum Schluss wurden die Knochen noch zerstampft, und verstreut und innerhalb von einem Tag war der materielle Mensch nicht mehr vorhanden."

Am liebsten hätte Dagmar Schmauks für sich selbst eine solche tibetische Himmelsbestattung. Doch mangels Geier ist das hierzulande nicht möglich. So hat sie sich nach langen Überlegungen entschieden, ihren toten Körper, den sie als vorübergehend geliehenen Rohstoff betrachtet, der medizinischen Anatomie zu spenden.

Ein Sterbender braucht Nähe, Beistand und Wärme. Die trauernden Angehörigen hingegen müssen auch lernen, Distanz zu finden. Das ist der Unterschied zwischen denen, die im Begriff sind zu gehen und denen, die - für eine Weile noch - bleiben.

Zur gelungenen Trauerarbeit gehört die Einsicht, dass das eigene Leben weitergeht und weitergehen darf. Und die Kraft, Abstand zu finden, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, ohne den Verstorbenen dabei zu vergessen.

"Heute ist die Tendenz ja eher, dass man einen Anruf beim Bestatter macht und der möge sich um alles weitere kümmern, so dass man so wenig Kontakt mit dem Toten hat, wie es gerade geht. Und ich denke, das ist auch für den Trauerprozess eher schädlich. Dieses konkrete Umgehen, auch mal bei jemandem bleiben, während er stirbt, bis er gestorben ist, das ist einfach sehr wichtig, als wenn man irgendwann ins Hospiz oder ins Krankenhaus geht und feststellt, da ist jemand gestorben, ganze alleine, und er ist auch schon weggebracht, in irgendein Bestattungsunternehmen."

Die Vielfalt der Bestattungsformen treibt abenteuerliche Blüten. So bieten manche Bestattungsunternehmen an, aus der Kohlenstoff-Asche der Verstorbenen Diamanten pressen zu lassen. Diamanten-Bestattung heißt dieses kostspielige Verfahren.

Doch viele alte Menschen, die keine Kinder haben oder deren Kinder weit entfernt leben und arbeiten, entscheiden sich immer häufiger für eine anonyme Bestattung. Sie wollen ihren Angehörigen - wenn sie überhaupt welche haben - keine Probleme mit der zeitaufwendigen oder kostspieligen Friedhofspflege hinterlassen. Aber es gibt auch noch andere Gründe, um über Alternativen nachzudenken, findet Dagmar Schmaucks:

"Ich finde zum Beispiel den Flächenverbrauch und Rohstoffverbrauch von Friedhöfen, dass man also Edelholzsärge im Boden vergräbt, finde ich relativ überflüssig. Und diese Vorstellung, dass man irgendwie wieder in den Kreislauf des Werdens eingeht, den finde ich einfach reizvoll, weil ich mir das auf der physikalischen Ebene ganz gut vorstellen kann. Wir haben ja heute in Deutschland so etwas Ähnliches. Es gibt ja seit einigen Jahren diese Friedwald-Bestattungen, da wird eine schnell verrottbare Urne am Fuß von Bäumen eingegraben und man hat auch so diese Vorstellung, dass man zu diesem Baum eine persönliche, nährende Beziehung hat. Man kann sich den Baum schon zu Lebzeiten aussuchen, kann Kontakt aufnehmen, und weiß auch den Ort, an dem man einmal bestattet werden wird."

Die Idee Friedwald entstand Anfang der neunziger Jahre in der Schweiz. Zehn Jahre später, 2001, kam das Projekt nach Deutschland. Im hessischen Griesheim bei Darmstadt gründete der Computerfachmann Axel Baudach mit der Rechtsanwältin Petra Bach die Friedwald GmbH. Der erste Friedwald entstand bei Kassel im Reinhardswald, inzwischen existieren bundesweit 15, von der Insel Rügen hoch im Norden, über Fürstenwalde bei Berlin bis Saarbrücken, erläutert Geschäftsleiter Ingolf Kettenbach:

"In einem der 15 Friedwälder finden jeden zweiten Samstag Waldführungen statt, von dem dortigen Förster, und der Förster erklärt, wie das ganze abläuft. Er erklärt die Bäume, die zur Auswahl stehen, das sind alles Laubbäume, in der Regel, er erklärt, was es für den Wald bedeutet, dass er jetzt ein Friedwald ist, er zeigt ein Mustergrab, wie es aussieht, wie die Urne an dem Baum beigesetzt wird. Danach gehen die Leute in der Regel heim, sollten das noch einmal mit ihrer Familie besprechen und melden sich dann bei uns wieder zu einer konkreten Baumauswahl, das ist dann ein sehr individueller Termin, wo nur die Interessenten ganz allein mit dem Förster in den Wald gehen und sich ihren Baum aussuchen, wenn es zwei, drei Stunden dauert, ist das egal... Sie haben den Experten dabei, der kennt seinen Wald, der kann Ihnen sagen, dieser Baum ist vital genug, der wird die nächsten 70, 80 Jahre noch stehen, sollte nicht gerade der Blitz einschlagen. Und da treffen Sie eine gute Wahl."

Der Wald gehört der Kommune. Wird ein Teil des Waldes von der Gemeinde zum Friedwald erklärt, verwandelt sich das betreffende Waldstück rechtlich in einen Friedhof. Jedoch ohne Mauer oder Zaun. Die Friedwald GmbH hält den Kontakt zu den Förstern und organisiert die Verwaltung...

An jedem Baum wird auf Wunsch der Angehörigen ein Namensschild angebracht. Wer unbedingt möchte, kann sich aber auch anonym beisetzen lassen. Die Namen von über 80.000 Interessenten habe die Firma Friedwald bereits in ihrer Datenbank, erzählt Ingo Kettenbach. Er beobachtet einen Schneeballeffekt. In Kassel, wo das Projekt 2001 begann, seien inzwischen die Bewohner ganzer Straßenzüge als potentielle Friedwaldkunden eingetragen. Ganz unterschiedliche Menschen entscheiden sich für die Variante Friedwald: Junge und Alte. Großfamilien und Singles. Naturliebhaber und Motorradfahrer. Und insbesondere Eltern, die ihre Kinder begraben müssen.

"Wir haben schon Leute erlebt, die wussten genau, dass sie noch ein halbes Jahr zu Leben haben. Und sind dann bewusst in den Wald gegangen, um sich ihren Baum auszusuchen. Die waren in der Regel in dem Moment alle froh. Fröhlich, dass sie einen Platz gefunden haben, der ihnen gefällt, und jetzt einfach dieses Kapitel für sich abgeschlossen haben. Sie wussten, sie werden in dem nächsten halben Jahr oder Jahr sterben, aber trotzdem haben wir niemanden erlebt in dieser Situation, der dann todtraurig durch den Wald gelaufen ist. Sie waren in der Regel innerlich gelöst. Was ich auch mal erlebt hab und auch bemerkenswert fand, da ist eine Mutter gestorben von 6 Kindern und diese sechs Kinder haben jetzt einen Platz ausgesucht für ihre Mutter. Und ich bin mit ihnen durch den Wald gegangen und da hat mich eine Tochter beiseite genommen und gesagt, wissen Sie was, Herr Kettenbach, das ist das erste Mal, wo wir alle sechs seit fünf Jahren wieder miteinander reden."

Der Tod der Eltern ist das endgültige Ende der Kindheit, bilanziert die Autorin Barbara Dobrick in ihrem Buch: "Wenn die alten Eltern sterben."

"Beim Abschiednehmen von den Eltern verlieren wir unseren Kinderglauben an eine unendliche Zukunft, aber wir können auch unsere Kraft, die Tragfähigkeit unserer Identität erfahren. Diese innere Stabilität, (...) ist der Kern unseres Selbstgefühls. Zu erleben, dass wir den Anforderungen des Lebens gewachsen sind, dass wir erschütternde Krisen durchstehen und zu neuer Freude, neuer Aktivität, neuen Ideen kommen können, das schafft ein Gefühl grundlegender Zuversicht. So kann sich der Kreis schließen: Die Sicherheit, die wir als Kinder durch das Zusammensein mit der Mutter, dem Vater empfunden haben, diese Sicherheit wurde durch den Abschied von ihnen gefestigt."

"”Ich kam, weiß nicht woher
Ich bin und weiß nicht wer
Ich leb und weiß nicht, wie lang,
ich sterb' und weiß nicht wann,
ich fahr und weiß nicht wohin
mich wundert's, dass ich so fröhlich bin.""