Der italienische Philosoph Aldo Capitini

Kämpfer für eine gewaltfreie Gesellschaft

Eine Pace-Fahne, aufgenommen beim Friedensmarsch von Perugia nach Assisi im September 2016
"Capitini war der erste, der den Gedanken der Gewaltlosigkeit in die italienische Kultur eingeführt hat", sagt Friedensforscher Guiliano Pontara. © picture alliance / ROPI/Brancolini/Fotogramma
Von Matthias Bertsch |
Er wird wegen seiner Überlegungen zum gewaltlosen Widerstand auch als der „italienische Gandhi“ bezeichnet, und doch ist er hierzulande nahezu unbekannt: der aus Perugia stammende Philosoph, Pädagoge und Friedensforscher Aldo Capitini.
"Die Wahrheit wird nicht verteidigt, indem wir unserem Gegner Leid zufügen, sondern indem wir selbst leiden."
Ein Zitat von Mahatma Gandhi aus dem Buch "die Technik des gewaltlosen Widerstandes" – dem einzigen ins Deutsche übersetzten Werk Aldo Capitinis. Das Buch heißt im Untertitel "Von Jesus bis Martin Luther King", doch im Zentrum stehen Gandhi und der von ihm geschaffene Begriff des Satyagraha. Die aus dem Sanskrit stammende Wortschöpfung bedeutet Festhalten an der Wahrheit und verweist gleichermaßen auf eine Methode im politischen Kampf wie auf eine Grundhaltung des Satyagrahi. In den Worten Capitinis:
"Der Satyagrahi bekämpft nicht den Sünder, sondern die Sünde, er empfindet eine tiefe Liebe für den Menschen, der ein Unrecht begeht; er wendet die Technik des gewaltlosen Widerstandes an, damit jener erkennt, dass er im Begriff ist, ein Unrecht zu begehen."
Ein solches Denken, das politisches Handeln nicht mit einem Sieg über den Gegner, sondern dem Versuch, ihn durch ethische Prinzipien zu beeindrucken oder zu überzeugen, verband, war noch vor 70 Jahren in Italien kaum bekannt, betont der italienische Philosoph und Friedensforscher Guiliano Pontara, der Capitini Anfang der 50er-Jahre kennenlernte.
"Capitini war der erste, der nicht nur die Praxis, sondern den Gedanken der Gewaltlosigkeit in die italienische Kultur eingeführt hat. Es gibt keine großen pazifistischen Traditionen in Italien. Um einen Italiener zu finden, musste Capitini bis zu Franz von Assisi zurückgehen. Politisch ist Italien das Land von Macchiavelli und der Realpolitik – und das ist es bis heute. Die großen politischen italienischen Denker, einschließlich Gramsci, sind Denker einer Macht- oder Realpolitik."

Aldo Capitini wendete sich den Schwachen zu

Geboren 1899 in Perugia hatte Capitini als Jugendlicher die Beteiligung Italiens am Ersten Weltkrieg durchaus begrüßt, doch schon kurz nach dem Krieg stellte er das Recht des Stärkeren in Frage und wendete sich den Schwachen zu – eine Empathie, die eng mit der Erfahrung eigener Krankheit und Verletzlichkeit verbunden war, wie er später schrieb.
1928 beendete er sein Philosophie-Studium an der Scuola Normale Superiore in Pisa, drei Jahre später wurde er Sekretär der Hochschule. In dieser Zeit erschien auch die italienische Ausgabe der Autobiografie von Gandhi, ein Buch, das Capitini nachhaltig beeinflusste. Nach seiner Entlassung von der Universität 1933 – er weigerte sich, der faschistischen Partei beizutreten – ging Capitini nach Perugia zurück und arbeitete dort als Privatlehrer.
Daneben traf er sich regelmäßig mit anderen Antifaschisten – doch während viele von ihnen die Partisanen auch in ihrem bewaffneten Kampf unterstützten, beharrte er auf dem Prinzip der Gewaltlosigkeit. Seine Stunde schlug nach der Befreiung Perugias im Juli 1944, so der Friedensforscher Werner Wintersteiner.
"Capitini hat ja dann die sogenannten Zentren der sozialen Orientierung gegründet, das waren einfach demokratische Versammlungen, wo eine Utopie einer, einer seiner Schlüsselbegriffe, Omnikratia, ausprobiert wurde, das heißt dass eigentlich alle herrschen sollen, also eigentlich ist es die Idee der Demokratie beim Wort genommen."
Neben Perugia entstanden auch in Bologna, Florenz und anderen Orten Zentren der sozialen und der religiösen Orientierung – ähnlich wie Gandhi legte Capitini großen Wert auf Spiritualität. In diesen Zentren diskutierten Lehrer, Angestellte und Arbeiter – Männer wie Frauen – über kommunale Probleme genauso wie über philosophische und politische Grundsatzfragen. Die meisten dieser Zentren existierten nur wenige Monate, dann übernahmen die politischen Parteien und alten Eliten wieder das Ruder.

Capitinis wichtigste Waffe waren seine Worte

Das Denken des Kalten Krieges dominierte bald auch Italien: Kapitalismus oder Kommunismus war die Frage, aber Capitini wollte sich nicht einordnen lassen. Er kämpfte für sein Ideal einer gewaltfreien Gesellschaft – durch seinen vegetarischen Lebensstil und den von ihm 1961 ins Leben gerufenen Friedensmarsch von Perugia nach Assisi. Bis heute nehmen jährlich Zehntausende daran teil.
"Facciamo Pace" steht auf dem Banner von Teilnehmern am Friedensmarsch von Perugia nach Assisi in Italien.
Teilnehmer des Friedensmarsches von Perugia nach Assisi, den Aldo Capitini 1961 ins Leben rief.© picture alliance/Pacific Press/Matteo Nardone
Doch Capitinis wichtigste Waffe waren seine Worte.
"Capitini hat viele Bücher geschrieben und nicht nur das. Jede Woche schrieb er seine Grundsatzbriefe, die er auch veröffentlichte. Er publizierte viel in der lokalen und nationalen Presse, er ging zu philosophischen Tagungen und begann schon in den 50er-Jahren mit einer großen Kampagne für die Kriegsdienstverweigerung, um die wenigen, die in Italien aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigerten, zu unterstützen."
Guiliano Pontara weiß, wovon er spricht: Weil er den Militärdienst in Italien für ethisch verwerflich hielt, ging er 1952 nach Schweden – mit Hilfe Capitinis, mit dem er bis an dessen Lebensende im Oktober 1968 in engem Kontakt stand. Der heute 86-jährige Friedensforscher wünscht, dass der "italienische Gandhi" über Italien hinaus stärker zur Kenntnis genommen wird. Ähnlich sein österreichischer Kollege Werner Wintersteiner:
"Sein Ziel war ja immer die 'realta liberata', die befreite Realität, also das ist so eine fast biblische Ausdrucksweise, derer er sich gern bedient hat und in diesem Sinne, denke ich, ist er, gerade weil er radikal, das heißt zu den Wurzeln gegangen ist und unerbittlich war und nicht fünfe gerade hat sein lassen, ist er heute noch aktuell und brauchen wir so ein Denken."

Geistesverwandt mit Friedensforscher Ekkehart Krippendorff

Anders als in Italien ist Aldo Capitini in der deutschen Öffentlichkeit fast unbekannt. Einen Geistesverwandten gab es in Deutschland jedoch in dem Berliner Politologen und Friedensforscher Ekkehart Krippendorff, der lange in Italien gelehrt hat und Ende Februar in Berlin gestorben ist. Er und Capitini haben sich zwar nie getroffen doch in ihren Schriften ähnliche Gedanken entwickelt, betont Francesco Pistolato, der Krippendorffs Grundlagenwerk "Staat und Krieg" ins Italienische übersetzt hat.
"Ekkehart Krippendorff und Aldo Capitini haben sich nicht angepasst, aber auf sehr intelligente Art und Weise. Und ihr Denken hat sich auf einer tief-kulturellen und sehr breiten Basis fundiert, die wirklich kaum zu finden ist."
Pistolato, der in Udine als Friedensforscher arbeitet, verweist auf die gemeinsame Liebe Capitinis und Krippendorffs zur Literatur und ihre Wertschätzung für Gandhis gewaltlosen Widerstand. Vor allem aber lohne die Auseinandersetzung mit beiden, weil sie in ihrer grundlegenden Herrschaftskritik ein Gespür für die vielfältigen Formen der Gewalt und Ausbeutung hatten, die gerade in Zeiten des Klimawandels immer deutlicher zu Tage träten.
"Ist nicht unser Planet und die meisten Menschen, die auf diesem Planet leben, Opfer von einer unheimlichen Gewalt, die wir ausgeübt haben, wir Menschen? Und gegen dieses System, jeder auf seine Weise, haben sie sich gewehrt, und wir brauchen diese Leute, und sie werden überleben. Vielleicht gehen wir zugrunde, aber so ein Denken wird überleben."
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