Wo der Krähengott Mond und Sonne verschlingt
Das spirituelle Herz Japans schlägt auf der Halbinsel Kii, südlich von Osaka. Der Kumano Kodo, Japans Jakobsweg, verbindet dort fast 90.000 Shinto-Schreine und buddhistische Tempel durch ein über tausend Jahre altes Pilgerwegenetz.
Der kleine Bus hält, und wir steigen an einem Oji-Schrein mitten in den japanischen Kii-Bergen aus. Vor uns liegt eine der sieben Routen, die zusammen den legendären Kumano-Kodo bilden, Japans heiligsten Pilgerweg, der insgesamt 600 Kilometer lang ist. Nach einer Verbeugung vor dem Oji-Schrein – einem der vielen shintoistischen Unterschreine an den Pilgerrouten, die der geistigen Reinigung, Sammlung und Gebeten dienen – geht es an einem Zaun vorbei, und zu den Wäldern. Kurz darauf hören wir den Schrei des Tengu.
Weil er die Sonne und den Mond frisst, und damit den Himmel verfinstert, gehört er zu den Yokai, den Ungeheuern. Oft halten die Tengu Pilgerstäbe in den Klauen.
Ein Schrein für ein Ungeheuer
Hier, am Weg Hosshinmon-Oji, hockt der schreiende Tengu auf einer am Wegrand aufgestellten Steinmönchsfigur mit Pilgerstab. An diesem Tag scheint es, als hätte der japanische Krähengott die Sonne tatsächlich gefressen. Es regnete über den Zedernwäldern, die Bambusgräser am Boden stehen in feuchtem Grün und Braun, ein seltsamer Ton liegt in der Luft, wie ein tiefes Raunen.
Später erfahre ich: Die Japaner glauben, hier auf diesem mystischen Pfad würden sich seit über 1000 Jahren die Geister der Ahnen versammeln, um mit den Pilgern Kontakt aufzunehmen. Doch als Pilger muss man das wollen, sagt die ältere Japanerin Megumi Hattori, die jetzt vorangeht. Und nicht alle Pilger seien zu diesem Kontakt bereit.
Heilige Quelle
Hattori: "Heutzutage pilgern die Menschen nicht nur auf diesem Weg, oder besuchen die Heiligtümer. Manche gehen auch, weil der Weg ein Teil der Sehenswürdigkeiten Japans ist. Aber immer noch suchen Japaner auf diesem Weg eine Art heilige Quelle in sich selbst."
Der Kumano Kodo durchläuft das Gebiet von drei Präfekturen. Ziel der nicht selten tagelangen Wanderungen sind die drei Shinto-Schreine in den ruhigen Kij-Bergen. "Es gibt nicht den einen Weg, sondern viele", sagt Megumi Hattori. "Schon der Kaiser sowie die einstigen Kaiser besuchten erst den Kumano-Hongu-Schrein. Dann den Nachi-Taisha-Schrein mit dem großen Wasserfall, und dann den Hayatama-Schrein."
Acht Millionen Gottheiten
Hattori: "Im Shintoismus gibt es viele Gottheiten, bis zu acht Millionen. Deshalb ist eine Gottheit immer nur für einen kleinen Bereich zuständig. Je nach Sorgen oder Wünschen besuchen die Leute die verschiedenen Gottheiten. Zum Beispiel die Hauptgottheit des Kumano-Taisha-Schreins heißt Susanoo. Sie ist der jüngere Bruder der Sonnengöttin Amaterasu, beide sind bis heute wichtige shintoistische Gottheiten. Amaterasu, die Sonnengöttin, ist auch die Urahnin der heutigen japanischen Kaiserfamilie."
Immer weiter schlängelt sich der Pilgerweg durch den Wald. Rechts und links der ausgetretenen Steinrücken, über die die Pilger vorsichtig gehen, stehen hüfthohe, regenschwere Farne. Manchmal steht eine verwitterte Jizo-Statue mitten im Wald, eine Mönchsfigur mit Pilgerstab, die anzeigt, dass man sich noch auf dem richtigen Weg befindet. Oft hängen an den Baumstämmen weiße Blitzzeichen aus Papier, Shide. Sie dienten der Erneuerung durch Reinigung, und zeigten an, dass sich hier eine heilige Stelle befindet.
Der japanische Jakobsweg
Weltweit sind nur zwei Pilgerwege UNESCO Weltkulturerbe. Der Camino de Santiago, der spanische Jakobsweg, und der Kumano Kodo, das spirituelle Herz Japans. Dass der Kumano Kodo ein Wegenetz ist, erkennt man spätestens, wenn man mit den vielen Besuchern einen der drei Hauptschreine betritt. Es herrscht Gedränge, wie jetzt am Hongu-Taisha-Schrein. Die Gottheit kommt nur, wenn man sie ruft
"Weil der Shintoismus keine starren Gottheiten hat, wohnen sie auch nicht im Gebäude", sagt Megumi Hattori. "Deshalb muss man sie auf sich aufmerksam machen." Der junge Shinto-Priester Ida Akihiro ergänzt: "Vor jedem Schrein betet man in traditionellem Stil. Zwei Mal Verbeugen, zwei Mal in die Hände klatschen, noch mal zwei Mal Verbeugen. Das macht man vor jedem Schrein."
Shintoismus im modernen Japan
"Man läutet darum dieses Glöckchen, oder klatscht in die Hand", erklärt Hattori, "damit sagt man, ich bin da, bitte höre meinen Wunsch." Auf die Frage, ob sich der Shintoismus auch im heutigen, modernen Japan behaupten könne, antwortet der Priester Akihiro:
"Grundsätzlich sind die Menschen nicht viel anders als im Altertum, glauben wir. Wir leben nach wie vor in der Natur, wir legen einen hohen Wert auf die Kultur und die Gesellschaft. In dem man so traditionelle Gebäude erhält, kann man den Menschen besser die Grundlage des menschlichen Lebens vorstellen."
Es heißt, nur wer den Kumano Kodo gegangen ist, habe Japan verstanden. Das wird für Pilger stimmen, die sich tagelang der Stille der Kij-Zedernwälder ergeben, und die manchmal die Ahnen raunen, und den Tengu, den Krähengott, schreien hören. Aber auch der Besucher aus Deutschland bekommt hier eine Idee von der spirituellen Seite dieses Landes.