Der kalkulierte Verrat

Uwe Saeger erzählt die bekannte Bibelgeschichte, die mit dem Eintritt Judas‘ in Jesus' Jüngerschar beginnt und mit dem Verrat endet. Allerdings deutet er sie in seinem Roman um: Jesus, der Judas Gutes tut, braucht ihn als Verräter. Er funktionalisiert ihn, um der eigenen Leidensgeschichte und seiner Lehre Kraft zu verleihen.
Er gilt als Inkarnation des Bösen und als Verräter schlechthin: Judas. Für den Judaslohn von dreißig Silberlingen verriet er Jesus und mit dem Judaskuss liefert er den Herrn seinen Häschern aus. Sein Verrat steht am Beginn des Leidensweges Jesu, der mit der Kreuzigung endet. Der Verrat hat seit diesem Ereignis einen Namen, einen Preis und ein Symbol. Judas ist ein Scheusal. Er ist ein Nichtswürdiger, der aus niederen Bedürfnissen den verrät, von dem er geliebt wird. Eine aus heutiger Perspektive geschriebene Erzählung, die nicht mehr als den Verrat beschriebe, würde dem Neuen Testament hinterher schreiben. Uwe Saeger, der 1987 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, will in seiner Erzählung "Die gehäutete Zeit. Ein Judasbericht" mehr.

Er erzählt die Geschichte von Jesus und seinem Verräter Judas, der wie kein zweiter Jünger geliebt wurde. In Saegers Bericht wirft Jesus Judas kleine Nahrungsbissen zu, die dieser mit geöffnetem Mund empfängt. Judas wird gegeben und er empfängt die Gabe wie ein Hund. Die empfangene Zuneigung lässt Judas immer fetter werden. Der Herr mästet seinen Verräter, als würde er ihn schlachten wollen, aber er selbst wird schließlich zum Opfer werden. Jesus, der Judas Gutes tut, braucht ihn als Verräter. Er funktionalisiert ihn, um der eigenen Leidensgeschichte und seiner Lehre Kraft zu verleihen. Jesus, der den Menschen in Liebe zugeneigt ist, verleiht seinen Worten durch das Leiden, das er auf sich nimmt, Gewicht. Beide, Jesus und Judas, verschmelzen im Verlaufe des Berichts zu "Jejudassus".

Uwe Saeger erzählt eine bekannte Geschichte, die mit dem Eintritt Judas‘ in die Jüngerschar beginnt und mit dem Verrat endet. Er hält sich an die Eckdaten der Geschichte aus dem Neuen Testament, deutet sie aber, indem er nach Gründen für den Verrat fragt. Nach Saegers Lesart ist Judas Verrat Teil eines größeren Plans.

Der Heilsplan, den er der Geschichte unterlegt, hat drei entscheidende Ebenen, die ineinander verwoben sind: Jesus braucht für seine Geschichte den Leidensaspekt, den Judas garantiert. Doch auch Jesus hat eine bestimmte Funktion in einem Plan zu erfüllen. Er trifft sich heimlich mit Männern, die mit ihm und seiner Lehre bestimmte Absichten verfolgen. Insofern ist der Herr in seinem Tun zwar Herr seiner selbst und zugleich auch nicht. Und schließlich sind alle Beteiligten Teil eines göttlichen Planes, was die Frage nach der Willens- und Entscheidungsfreiheit für den Einzelnen aufwirft.

"Prometheus Ende" heißt eine Erzählung, die Uwe Saeger 1998 vorlegte. Das darin aufgerufene Thema von der Selbstverwirklichung greift er nun, zehn Jahre später, in "Die gehäutete Zeit" erneut auf. Uwe Saeger hinterfragt in dem neu erschienenen Bericht die Möglichkeiten, die der Einzelne in der Geschichte hat. Prometheischer Anspruch und die Niederungen des Verrats sind der Spielraum, der sich zwischen Wiege und Grube eröffnet. Saeger vermisst diesen Raum auf beeindruckende Weise und zeigt ihn in all seiner beklemmenden Enge. Ein faszinierender Erzähler meldet sich mit "Die gehäutete Zeit. Ein Judasbericht" zurück.

Rezensiert von Michael Opitz

Uwe Saeger
Die gehäutete Zeit. Ein Judasbericht

Hinstorff Verlag/ Rostock 2008
187 Seiten. 14,90 €.