Der Kampf der Häftlinge

Von Claus Menzel |
In keinem Konzentrationslager Nazi-Deutschlands war der Widerstand größer und erfolgreicher gewesen als in Buchenwald. So waren es die Häftlinge selber, die das Lager vor dem 11. April 1945 mit Hilfe der Amerikaner befreiten. 24.000 Menschen aus etwa 24 Nationen konnten am Ende gerettet werden.
Die ersten Schüsse fielen im Morgengrauen, und wie ihre Bewacher von der SS wussten auch die Gefangenen, was sie bedeuteten : Die Panzer der dritten amerikanischen Armee standen vor Weimar. Einige Stunden später an diesem 11. April 1945, zwischen 14.30 und 15 Uhr, flatterte die weisse Fahne vom Turm Eins : Das Konzentrationslager Buchenwald war befreit. Allerdings nicht von den Amerikanern sondern von den Gefangenen selbst. Ottomar Rothmann, damals Häftling in Buchenwald und dreissig Jahre später stellvertretender Leiter der Gedenkstätte:

"Wir hörten Schüsse, und aus meiner heutigen Sicht sage ich, so überrascht wie die Masse der Häftlinge war, so erschrocken war offensichtlich die SS. Man muss dazu natürlich sagen: Die Kasernen waren geräumt, der Kommandanturstab war geflüchtet. Sie wussten natürlich auch, dass sie die Amerikaner im Rücken hatten, und plötzlich sahen sie vor sich eine für sie ja immerhin unbekannte Anzahl bewaffneter Häftlinge. Das hat sie doch geschockt."

Wohl wahr. Dabei war der Widerstand der Häftlinge gegen die Herrschaft der SS in keinem Konzentrationslager Nazi-Deutschlands auch schon vor dem 11. April 1945 größer und erfolgreicher gewesen als in Buchenwald. Hier, wo auf dem Ettersberg, in Sichtweite der Stadt Weimar, seit dem Juli 1937 etwa 240 000 Kommunisten, Sozialdemokraten, Konservative und Juden aus allen Ländern Europas sowie sowjetische und italienische Soldaten hinter Stacheldraht eingesperrt waren, hier, wo die SS den Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid und den Kommunisten Ernst Thälmann ermordet hatte, wo Ilse Koch, die Frau des Lagerkommandanten, tätowierte Häftlinge erst töten und dann buchstäblich häuten ließ und die Nazis selbst Kinder gefangen hielten, war recht früh eine Widerstandsbewegung entstanden, die am Ende sogar über Maschinengewehre verfügte. Zwar hatte der Befehl des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, keinen Häftling lebend in die Hände der Alliierten fallen zu lassen, auch Buchenwald erreicht. Ihn auszuführen aber erwies sich als unmöglich.

Es begann, als am 4.April 1945 alle jüdischen Häftlinge ans Tor befohlen wurden - und nicht einer erschien. Es ging weiter, als sich zwei Tage später, 46 politische Häftlinge melden sollten und unauffindbar für die SS irgendwo im Lager verschwanden. Zwar konnte die illegale Lagerleitung nicht verhindern, dass zweimal je 9 000 Häftlinge aus Buchenwald abtransportiert wurden. Auch die übrigen Gefangenen noch zu verschleppen aber hatte die SS keine Macht mehr. Sie flüchtete. In seinem Buch "Der SS-Staat" schrieb der Publizist und Buchenwald-Häftling Eugen Kogon :

Zurück blieben die Posten auf den Wachttürmen, die sich beim näher- und näher-kommenden Schlachtenlärm knapp vor 15 Uhr in den umliegenden Wald zurückzogen, worauf die Kameraden des Lagerschutzes, die bewaffnet in Deckung lagen, sofort den Stacheldraht durchschnitten, die Türme besetzten, das Tor am Lagereingang nahmen und die weisse Fahne hissten. So fanden die ersten amerikanischen Panzer das befreite Buchenwald vor.
Und der Kommunist Richard Kucharzyk, ebenfalls Häftling in Buchenwald :

"Ein ungeheurer Schrei ertönte durch das gesamte Lager. In kurzen, heftigen Kampf wurde die SS, die das Lager bewacht hatten, gefangen genommen und verjagt. Gegen 18.00 Uhr abends wurden durch die Kampfgruppen der illegalen Widerstandsbewegung bereits über 300 gefangene SS-Leute in das Lager eingebracht. Das Lager war frei. 21000 Menschen aus etwa 24 Nationen wurde durch diesen Kampf das Leben gerettet."

Übrig waren die Toten, die Leichen, die nicht mehr hatten verbrannt werden können. Der Anblick, der sich ihm bot, als er das Buchenwald-Aussenlager Ohrdruf besuchte, hat Dwight D. Eisenhower, damals Oberkommandierender der Westfront und später Präsident der USA, tief beeindruckt :

"Ich bin niemals imstande gewesen, die Gefühle zu schildern, die mich überkamen, als ich zum ersten Mal ein so unbeschreibliches Zeugnis für die Unmenschlichkeit der Nazis vor Augen hatte - ein Zeugnis dafür, dass sie sich über die einfachsten Gebote der Menschlichkeit in skrupelloser Weise hinwegsetzten. Nichts hat mich so erschüttert wie dieser Anblick "

Auf Befehl der Amerikaner mussten die Bürger von Weimar das Lager besichtigen. Rückblickend schrieb in seinem Buch "Die Reise" der spanische Schriftsteller und Buchenwald-Häftling Jorge Semprun:
"Dann werde die Frauen in ihren Frühlingskleidern und die Männer mit ihren Schulmeister- und Krämerbrillen anfangen zu heulen und zu sagen, davon hätten sie nichts gewusst und daran seien sie nicht schuld. Mir wird richtig übel davon."