Wo ruft der Bürgermeister an, wenn die Flut kommt?
Man stelle sich vor: Die deutsche Nordseeküste wird von einer Sturmflut heimgesucht. Die Küstenorte stehen metertief unter Wasser. In Mecklenburg-Vorpommern wird ein solches Krisenszenario gerade durchgespielt - mit 300 Übungsteilnehmern.
Rettungshubschrauber über den Kliniken, Polizei, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk, Bundeswehr an Straßen und Bahnhöfen von Mecklenburg-Vorpommern - so dürfte es im Ernstfall klingen, denn es gilt, eine große Krise zu managen, und zwar mitten in der Urlaubssaison, wenn die Hotel- und Pensionsbetten von Touristen gefüllt sind.
Doch so klingt es derzeit nicht in M-V, sondern nach Telefonklingeln, Stimmengewirr und geschäftigem Klappern auf der Computertastatur, denn der Fall wird unter dem Stichwort "ARCHE 2018" in den Verwaltungsstäben der Landkreise und im Lagezentrum des Innenministeriums Schwerin durchgespielt, erklärt der zuständige Ministerialbeamte Uwe Becker.
"Die Grundannahme des Szenarios ist eine Sturmflut an der Nordseeküste. So was kündigt sich ja auch an, schon Tage vorher. Und die Behörden dort haben den Menschen empfohlen, die Küstenregion zu verlassen. Und so machen sich eine Million Menschen auf den Weg und flüchten durch unser Land, in unser Land. Und die Herausforderung ist es jetzt für uns, mit all unseren Krisenstäben auf Landes- und auf der Landkreisebene mit diesen Menschen jetzt zurechtzukommen."
300 Übungsteilnehmer spielen das Szenario durch
35.000 Menschen muss Mecklenburg-Vorpommern sofort aufnehmen und für mindestens eine Woche versorgen können, darunter etliche Krankenhauspatienten und Pflegebedürftige. 300 Übungsteilnehmer spielen das Szenario im ganzen Land durch. Allein im fensterlosen Lagezentrum des Innenministeriums sitzen 40 bis 50 Menschen vor Monitoren und Telefonen. Michael Teuber vom Technischen Hilfswerk ist gerade mit dem Tippen fertig und erklärt:
"Also wir haben als Übungseinspielung an die Landkreise und Kommunen eine Kostenverzichterklärung des Bundesministers des Innern, für Bau und Heimat geschickt. Wenn die Landkreise uns angefordert haben, stellen wir eine Rechnung, und bei so großen Lagen ist es nicht ganz unüblich, dass der BMI schon zu Beginn sagt: 'Wir stellen keine Rechnung aus. Das simulieren wir jetzt hier mit der E-Mail."
Auch Christoph Kühl übt mit. Sein Arbeitgeber hat den ehrenamtlichen THWler aus Rostock für diese zwei Tage freigestellt und würde das in einem "scharfen" Fall erst recht tun, denn Christoph Kühl und seine Technikerkollegen würden - so wie jetzt zur Übung - zwei große Fahrzeuge vor das Innenministerium stellen. Darin ist die sogenannte Ausweichführungsstelle, um eine stromlose Ersatzkommunikation mit allen anderen Krisenstäben zu sichern, notfalls per analogem Funk: "Sei es, dass hier Stromausfall ist, Telefonausfall, könnten wir runter gehen in unseren Anhänger und praktisch weiter das Szenario durchspielen."
Derweil wird das beträchtliche Stimmengewirr im Lagezentrum gelegentlich unterbrochen von Ansagen wie dieser: "Im ersten Verkehrserlass steht drin, dass der Güterverkehr komplett einzustellen ist. Es gibt die ersten Rückfragen aus den Kreisen, ob sie sich darum kümmern müssen. Antwort - das geht jetzt gleich über INFIS Polizei raus -: Nein, das übernimmt komplett das BAG. Bevor die Landkreise nun anfangen, irgendwelche Flächen zu planen, um Güterverkehr abzuleiten und so was. Da sollen die sich nicht drum kümmern. Nur, falls ihr da irgendwas mitkriegt. Ende."
Versorgung von circa 4800 Sturmflutopfern
Diese Information ist auch im Krisenstab des Landkreises Ludwigslust-Parchim angekommen, der in Windeseile circa 4800 Sturmflutopfer aus der Nordseeregion zu versorgen hat. Thomas Schmidt, Fachdienstleiter Brand- und Katastrophenschutz, rechnet mit einem speziellen Problem, denn sein Landkreis grenzt an das betroffene Schleswig-Holstein:
"Dadurch, dass die Menschen sich von West nach Ost durch den gesamten Landkreis mit Verkehrsmitteln bewegen werden, ist die wesentliche Herausforderung neben der Unterbringung der Personenzahl die Weiterleitung im Bundesland weiter Richtung Osten, weil ich mir schon vorstellen kann, dass man relativ nah am eigenen Ort bleiben möchte. Und wenn ich jetzt mit dem Auto selber unterwegs bin, dann versuche ich möglichst, die erste Abfahrt, die ich bekomme, wieder runterzufahren. Das ist sicher schwierig, die Leute dahin zu leiten, wo wir Unterkünfte anbieten können, und ich glaube, dass das eine sehr große organisatorische Herausforderung ist."
Landespolizist René Grabner steht im Schweriner Lagezentrum vor einer riesigen Mecklenburg-Vorpommern-Karte. Die wichtigsten West-Ost-Verkehrsrouten sind in dickem Schwarz markiert, diverse Knoten-, Kontroll- und Übergabepunkte eingezeichnet. An jeder Abfahrt der Autobahnen A24 aus Hamburg und A20 aus Lübeck hängen bunte Zettel mit der Maximalzahl an PKW aus den Katastrophengebieten, die dort abfahren dürften, denn die Landkreise haben der Polizei ihre aktuelle Aufnahmekapazität durchgegeben.
Keine Ausnahmen!
"Wir haben geplant, alle Autobahnanschlussstellen mit Polizeikräften zu verposten. Jetzt gleichen wir das mit den Zahlen auf der Autobahn ab: Wie viel PKW mit eventuellen Personenanzahlen sind schon hier an dieser Abfahrt durch? Und wenn wir dann sagen: 'Laut unserer Vorgabe ist der Landkreis jetzt befüllt.', müssen wir diesen Kontrollpunkt zumachen und dann auf der Bundesautobahn weiterleiten."
Doch was, wenn Leute erklären, sie hätten in den offiziell bereits belegten Gegenden Verwandte oder Freunde, wo sie unterkommen können? Tja, sagt René Grabner und hebt die Hände: Keine Ausnahmen! Wenn in einer Katastrophensituation wie dieser zig- oder hunderttausende Menschen gleichzeitig durch M-V fliehen, könne die Polizei nicht jeden Einzelfall überprüfen.
"Wir werden dann definitiv auch mit festem Absperrgerät arbeiten und durch die Autobahnpolizei dann auch verkegeln. Und dass wir sagen: 'Halt, Stopp! Hier kommt keiner mehr runter - tut uns Leid. Wir sind an dem Punkt nicht mehr aufnahmebereit.'"
Dann hieße es: Weiterfahren Richtung Vorpommern, wo Flutopfer mindestens ebenso gut mit Unterkünften, Essen und vor allem Informationen etwa über vermisste Familienangehörige versorgt würden.