Der Kegel und das schwarze Loch

Von Michael Laages |
Der Text steckt voller Magie - und nicht umsonst wird Dea Lohers "Unschuld" landauf-landab nachgespielt. Michael Thalheimer Inszenierung des grandiosen Stoffes belegt nun ein weiteres Mal Lohers fundamentale Wichtigkeit.
Auf der Werkliste von Dea Loher, der seit Jahren wichtigsten deutschen Dramatikerin, findet sich eine Art Bestseller, ein Evergreen: "Unschuld", das vor acht Jahren uraufgeführte Stück, mit dem die Autorin einen neuen Weg im eigenen Schreiben markierte, den sie von nun an konsequent beschritt; mit "Das letzte Feuer" oder "Diebe" – die Fabeln vom Abgrund im Alltag der Zeit, die sie innerhalb des dramatischen Rahmens versammelt, wurden ab "Unschuld" auf ganz neue Art miteinander verbunden. Sie scheinen meist ganz unabhängig (und auch nicht immer wirklich parallel) nebeneinander her zu laufen, sind aber durch oft miniaturisierte Klammern miteinander verbunden; das kann ein Buch sein oder auch ein Blick, eine Erinnerung an ein Detail; und plötzlich spielen all die fremden Menschen auf mehr oder weniger rätselhafte Weise mit im Leben der anderen.

Manchmal ist das Rätsel auch gar nicht zu lösen – wie bei Rosa, der schönen, vom todessehnsüchtigen Gatten Franz aber sehr vernachlässigten und von der Schwiegermutter, der schwer (zucker!)kranken Frau Zucker, schlimm ausgenützten Frau, die am Anfang von "Unschuld" vor den Augen zweier schwarzer und illegaler Asylbewerber ins Meer steigt um zu sterben; die sich jedoch kurz vor Schluss des Stückes, nass, aber höchst lebendig, auf einem Foto der Toten unwiderlegbar wieder erkennt. Pure Magie ist das. Und Lohers "Unschuld"-Text steckt voll davon. Nicht umsonst wird das Stück darum nachgespielt landauf-landab, und sogar Schultheatergruppen bemühen sich um die Entschlüsselung und Durchdringung einzelner Szenen. In Magdeburg wurde der Stücktitel sogar mal zum vielsagenden Motto einer ganzen Theatersaison.

Wie fast alle Theaterstücke seit 1995 entstand "Unschuld" übrigens in getreuer Kooperation mit dem Regisseur Andreas Kriegenburg, der auch die Uraufführung besorgte – insofern verdient der aktuelle "Unschuld"-Versuch am Deutschen Theater in Berlin, wo Kriegenburg ja Hausregisseur ist, "Unschuld" aber jetzt vom Kollegen Michael Thalheimer neu in den Blick genommen wurde, durchaus mehr als bloß Repertoire-Beachtung.

Deutlich wird schon in Olaf Altmanns Bühnen-Konstruktion der komplett andere Grundton, den die Aufführung anschlägt. Hatte Kriegenburg ehedem das sehr theatertypische Spiel mit Verschränkung, Verkleidung und Verstellung zum Generalthema erkoren, so setzen Thalheimer und Altmann ganz auf Strenge und Konzentration. Auf der Bühne steht ein raumfüllender Kegel aus Brettern, die sich zum hinteren Horizont (also zur Kegelspitze) hin perspektivisch verjüngen. Der halbe Kegel kann sich drehen und fährt auf der ziemlich herben (und auch noch halb runden!) Schräge die einzelnen Gruppenkonstellationen herein und wieder hinaus: die schwarzen Flüchtlinge und das blinde Mädchen namens Absolut, die Eltern eines toten Mädchens und Frau Habersatt, die für alles und jedes Schuld übernimmt, obwohl sie an nichts schuld ist, nicht mal an der eigenen Kinderlosigkeit, die furiose Philosophin und ihr stummer, später stumm gemordeter Gatte, ein Goldschmied, Franz und Rosa schließlich und Frau Zucker. Nun ist allerdings auf Altmanns halbrunder Schräge wimmelnde Bewegung eh nicht möglich – Thalheimers Inszenierung gerät damit naturgemäß eher statuarisch.

Das bekommt Lohers Text aber ähnlich gut wie ehedem Kriegenburgs Spiel mit den Theatertricks. Wo der Regisseur der Uraufführung Lohers trauer- und schmerzvollen Blick auf die unausweichlichen Katastrophen des Lebens mit Schminke und Zauberkunststückchen aus der Theatergarderobe durchsetzte, spielt Thalheimers Inszenierung am Rand von einer Art umgedrehtem schwarzen Loch. Die kleinen Zuversichten, die es ja auch gibt im Text, wirken auf diese Weise allerdings noch überraschender. Pausenlos gespielt und mit ostwestlich durchmischtem DT-Ensemble prächtig besetzt (wenn auch nicht unbedingt klar wird, wozu Thalheimer für die mörderisch-klarsichtige Philosophin Ella eine männliche Besetzung brauchte), wirkt "Unschuld" am Deutschen Theater nun zwar nicht unbedingt wie neu erfunden – aber angesichts der ansonsten ja mittlerweile vorherrschenden neckischen Jelinekiaden belegt auch diese Inszenierung des wirklich großen, grandiosen Stoffes Lohers fundamentale Wichtigkeit. Wenn das Theater der Welt, wie sie inzwischen ist, wieder gerecht werden wolle, sagt (und schreibt) die Dramatikerin, braucht's keine Sozialreportagen mehr, sondern die Tragödie.

Und die schreibt sie.