Der Klang von Eisenoxyd
Ein gehörloser jemenitischer Junge, der in Polen eine neue Heimat findet und dort an einer zeitgenössischen Oper über einen antiken Mythos arbeitet: Michael Roes führt in seinem Roman "Die Laute" eine Fülle von Themen zusammen und vermeidet es dennoch geschickt, sich zu verzetteln.
Asis ist 13 Jahre alt, lebt in der jemenitischen Stadt Ibb und will Profifußballer werden - bis ihn eines Nachmittags ein Blitz trifft. Nur dank der raschen Hilfe eines Kardiologen entkommt Asis dem Tod, aber von nun an hört er Lautenmusik in seinem Kopf, ausgerechnet er, für den Musik bislang nichts weiter war als "eine Art Hintergrundrauschen des Zusammenseins, wenn sie gerade mal nicht Fußball spielen". Der schwerhörige Bilal lehrt ihn, die Laute zu spielen, und Asis nutzt seine neue Fertigkeit, um das Mädchen, das er heimlich liebt, zu beeindrucken: Jeden Abend musiziert er unter dem Fenster von Inaja, der Schwester seines Freundes Hamid, und hofft auf ein Lächeln der Angebeteten.
Michael Roes' Roman wirkt auf den ersten Blick wie eine geradlinige Erzählung, eine Geschichte von Musik und Liebe. Aber weit gefehlt: Inaja ist einem anderen versprochen und ihre Brüder verprügeln den unwillkommenen Verehrer und schütten ihm Säure ins Ohr. Von da an entfaltet der Titel seinen Doppelsinn: "Die Laute" steht sowohl für das Musikinstrument als auch für jene Laute, die Asis nicht mehr hören kann und die Roes in Sprache zu übersetzen versucht.
Nach dem Besuch einer Gehörlosenschule in Aden verschlägt es Asis in die polnische Stadt Nowa Huta, wo er in der Packhalle am Flughafen arbeitet und in seiner freien Zeit komponiert. Eine moderne Oper soll es werden, ein Werk über den musikalischen Wettstreit zwischen Apollo und Marsyas:
"In meiner Oper ist Apollons Instrument ein Computervirus, der in einer Endlosschleife Neustarts simuliert. Marsyas gleicht dem Hacker Neo aus dem Film "Matrix". Er spielt ein klassisches Instrument (aber keine Flöte!), und seine Partitur beruht auf offen gelegten Quellcodes."
Dazu baut Michael Roes noch eine dritte Ebene ein, jene des Wettstreits, zwischen Apollo und Marsyas auf der einen und Asis und einem jungen polnischen Komponisten auf der anderen Seite. Zwischen diesen drei Handlungsebenen bewegt sich der Text, wechselt Erzählzeit und -perspektive, thematisiert die gesellschaftliche Lage im Jemen, spielt mit Motiven wie der Häutung des Marsyas als Strafe für seine Niederlage gegen Apollo und präsentiert eine Fülle an verschiedenen Strängen und Geschichten.
Das Grundmotiv jedoch bleibt die Frage nach dem Hören und Verstehen, nach Lauten im Lautlosen ("Wie klingt Eisenoxyd?"), nach der Interaktion zwischen Hörenden und nicht Hörenden. Fast synästhetisch versucht der Roman, die Grenzen zwischen den Sinnen aufzulösen, ohne unlesbar zu werden.
Denn Roes erweist sich als Erzähler, der es versteht, den Leser mitzunehmen, in den Jemen, wo der Autor selbst längere Zeit lebte, in die Tristesse einer grauen polnischen Stadt oder in die Abstraktion der Geräusche, die Asis nicht hören, wohl aber empfinden kann. Michael Roes' Roman ist intelligent, ohne prätentiös zu werden, hintergründig, ohne mit der eigenen Raffinesse zu kokettieren, vielschichtig, ohne sich in den Facetten zu verlieren. Und wer wissen möchte, wie Eisenoxyd tatsächlich klingt, der mag zwischen den Zeilen des Buches eine Antwort finden.
Besprochen von Irene Binal
Michael Roes: Die Laute
Matthes & Seitz, Berlin 2012
528 Seiten, 24,90 Euro
Michael Roes' Roman wirkt auf den ersten Blick wie eine geradlinige Erzählung, eine Geschichte von Musik und Liebe. Aber weit gefehlt: Inaja ist einem anderen versprochen und ihre Brüder verprügeln den unwillkommenen Verehrer und schütten ihm Säure ins Ohr. Von da an entfaltet der Titel seinen Doppelsinn: "Die Laute" steht sowohl für das Musikinstrument als auch für jene Laute, die Asis nicht mehr hören kann und die Roes in Sprache zu übersetzen versucht.
Nach dem Besuch einer Gehörlosenschule in Aden verschlägt es Asis in die polnische Stadt Nowa Huta, wo er in der Packhalle am Flughafen arbeitet und in seiner freien Zeit komponiert. Eine moderne Oper soll es werden, ein Werk über den musikalischen Wettstreit zwischen Apollo und Marsyas:
"In meiner Oper ist Apollons Instrument ein Computervirus, der in einer Endlosschleife Neustarts simuliert. Marsyas gleicht dem Hacker Neo aus dem Film "Matrix". Er spielt ein klassisches Instrument (aber keine Flöte!), und seine Partitur beruht auf offen gelegten Quellcodes."
Dazu baut Michael Roes noch eine dritte Ebene ein, jene des Wettstreits, zwischen Apollo und Marsyas auf der einen und Asis und einem jungen polnischen Komponisten auf der anderen Seite. Zwischen diesen drei Handlungsebenen bewegt sich der Text, wechselt Erzählzeit und -perspektive, thematisiert die gesellschaftliche Lage im Jemen, spielt mit Motiven wie der Häutung des Marsyas als Strafe für seine Niederlage gegen Apollo und präsentiert eine Fülle an verschiedenen Strängen und Geschichten.
Das Grundmotiv jedoch bleibt die Frage nach dem Hören und Verstehen, nach Lauten im Lautlosen ("Wie klingt Eisenoxyd?"), nach der Interaktion zwischen Hörenden und nicht Hörenden. Fast synästhetisch versucht der Roman, die Grenzen zwischen den Sinnen aufzulösen, ohne unlesbar zu werden.
Denn Roes erweist sich als Erzähler, der es versteht, den Leser mitzunehmen, in den Jemen, wo der Autor selbst längere Zeit lebte, in die Tristesse einer grauen polnischen Stadt oder in die Abstraktion der Geräusche, die Asis nicht hören, wohl aber empfinden kann. Michael Roes' Roman ist intelligent, ohne prätentiös zu werden, hintergründig, ohne mit der eigenen Raffinesse zu kokettieren, vielschichtig, ohne sich in den Facetten zu verlieren. Und wer wissen möchte, wie Eisenoxyd tatsächlich klingt, der mag zwischen den Zeilen des Buches eine Antwort finden.
Besprochen von Irene Binal
Michael Roes: Die Laute
Matthes & Seitz, Berlin 2012
528 Seiten, 24,90 Euro