Der kluge Sound der Dichter

Julia Graf im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Dem Zauber eines gelungenen Gedichts könne sich niemand entziehen, sagt Julia Graf, Lektorin beim Berliner Hanser-Verlag. Nicht zufällig habe jeder Mensch einen Lieblings-Popsong - und Liedtexte seien ja auch eine Art von von Lyrik.
Liane von Billerbeck: Mit Michael Krüger, der selber Gedichte schreibt und ein großer Förderer der Lyrik ist, gehörte der Hanser Verlag traditionell zu den wenigen großen Verlagen, die es wagen, Gedichtbände herauszugeben und deren bescheidenen Verkauf durch gut weggehende Romane auszugleichen.

Inzwischen ist es der erst kürzlich ausgegründete Hanser Berlin Verlag, der sich der Lyrik angenommen hat, und als Lektorin zuständig ist Julia Graf, sie hat inzwischen zwei Bände für diesen Verlag lektoriert, zwei Gedichtbände, aber wie macht man das eigentlich, Gedichte lektorieren? Das wollen wir sie jetzt fragen, Julia Graf ist bei uns im Studio, schönen guten Tag?

Julia Graf: Ja, guten Tag!

von Billerbeck: Wie war denn Ihr Weg zum Gedicht?

Graf: Tja, also wie bei jedem Menschen wahrscheinlich durch die Lektüre. Ich habe als Kind viele Gedichte schon gehört von meiner Großmutter, die überhaupt keine gelehrte Frau war, aber die eben für die Literatur brannte und die mir die großen Balladen immer rezitiert hat – die konnte unglaublich viele Gedichte auswendig –, und …

von Billerbeck: Beispielsweise?

Graf: Na, Schillers "Glocke" natürlich, also und dann auch so Sachen, über die man heute lächelt, zum Beispiel Theodor Storm, also …

von Billerbeck: Aber da lächelt man nicht drüber!

Graf: Ja, ich glaube, in einigen … doch, bei den jungen Lyrikern, glaube ich, wird da eher drüber gelächelt. Da hat sie mir viel vermittelt einfach, die Begeisterung. Als ich dann so in der Pubertät oder so, dann habe ich mit Begeisterung Trakl gelesen, ja, die ganzen auch Rimbaud und Baudelaire natürlich, und dann später Bachmann und Emily Dickinson.

Also, was ich wirklich gestehen muss, ich habe nie selber geschrieben, was sonst man ja immer so in der Schublade hat, habe ich nie gemacht, aber ich habe viel so exzerpiert auch so auswendig gelernt übers Abschreiben, und habe mich viel mit Lyrik beschäftigt. Im Studium dann, während ich Germanistik, Philosophie und Romanistik studiert habe, habe ich mich da nicht so viel mit befasst, bin dann letztlich über die Arbeit wieder da hingekommen.

Ich habe ja im Berlin Verlag angefangen als sehr junge Lektorin, und dort war Mathias Gatza, der inzwischen selbst Autor ist, und der hat immer die Theorie gehabt, man muss die jungen Lyriker alle in die Verlage bringen, denn die werden vielleicht auch mal Romane schreiben, und überhaupt ist die Lyrik die Königsgattung der Literatur. Und er hat damals Björn Kuhligk und Jan Wagner in den Verlag geholt, und ich habe dann eben auch mit ihnen zusammengearbeitet und bin dann über diesen Weg so dazugekommen.

von Billerbeck: Über diese beiden Bände werden wir gleich sprechen, die Sie da herausgegeben haben, aber was Sie da eben sagten, das finde ich ja interessant, diese Äußerung, die über Lyrik in die Verlage bringen, damit die dann mal einen Roman schreiben. Das heißt ja, Lyrik ist so eine Art Durchgangsstadium.

Graf: Nein, das ist missverständlich. Ich habe ja dazu gesetzt, dass es ja eigentlich die Ursprungsgattung, aus der sämtliche Literatur kommt, ist. Aber es ist natürlich so, dass viele sehr junge Autoren, wenn sie so mit ihren ersten Schreibversuchen …, ist es doch bei vielen so, dass sie zunächst Lyrik schreiben, und gerade bei Jan Wagner und Björn Kuhligk haben wir eigentlich den Fall, das sind zwei Autoren, die Vollblutlyriker sind, obwohl ja Björn Kuhligk jetzt zusammen mit Tom Schulz auch einen wunderbaren Reiseband über neue Wanderungen in der Mark Brandenburg schreibt, und Jan Wagner auch ein glänzender Essayist ist, aber sie sind doch in erster Linie Lyriker.

von Billerbeck: Diese beiden Bände haben Sie herausgegeben bei Hanser Berlin, zwei von Ihnen lektorierte Gedichtbände, Jan Wagner ist schon erwähnt worden und Björn Kuhligk, und in dem Vorwort von Jan Wagner, da schreibt er, Dichter seien so eine Art Verborgene, eben weil sie mit ihren Gedichten, auch mit ihren Gedichtbänden relativ wenige Menschen erreichen. Teilen Sie diese Ansicht, dass es Verborgene sind?

Graf: Na ja, es ist schon so, dass, wenn man so in der S-Bahn schaut, was lesen die Leute, dann sind es doch eher Romane bis Schmonzetten, die die Menschen dort auf den Knien haben. Ich glaube aber, dass allein schon so Lyrik – wie eng soll man den Begriff fassen?

Jeder hat Lieblings-Popsongs, das ist auch eine Art von Lyrik. Und ich glaube, dass Lyrik diese unmittelbare Weise, wie sie uns anspricht, dass die jeden Menschen anspricht, und sich dem Zauber eines gelungenen Gedichtes wirklich niemand entziehen kann. Also der Überzeugung bin ich ganz sicher, Lyrik nutzt sich ja auch nicht ab – es ist ja erstaunlich, dass man irgendwie einen hundertmal durch die Mangel gedrehten Eichendorff, wenn man den plötzlich hört oder so aus dem Zusammenhang genommen liest, oder plötzlich seinem Kind vorspricht, dass man das gleiche Glücksgefühl haben kann, als ob man es zum ersten Mal hört, und das zeichnet eben gelungene Lyrik aus.

Es ist ja so, dass man bei Lyrik – da zeigt sich das Misslungene, glaube ich, besonders blitzartig, aber eben auch dieses Glück eines perfekten Kunstwerkes, das kann sich natürlich in der Lyrik auch auf einen Blick sozusagen demonstrieren, durch die Kürze der Form, und das ist eben das besondere Glück, glaube ich, das man empfinden kann.

von Billerbeck: Trotzdem ist es ja so, dass nicht so viele Menschen von diesen Gedichten erfahren, weil die Lyrikauflagen sind doch eher klein. Was macht das mit Dichtern, wenn sie kaum wer kennt, und wenn sie vielleicht wollen, dass sie eine Million Leser haben, aber eben doch nicht die eine Million bekommen?

Graf: Also ich vermag es nicht ganz zu sagen, ob sie sich heimlich grämen. Aber ich glaube, dass eigentlich gerade jetzt im Moment die Lyrikszene eine Blüte erlebt, sie sind sehr vernetzt, es gibt unglaublich viele Veranstaltungen, also Jan Wagner tourt unglaublich viel durch die Landschaft und ist immerzu auf Veranstaltungen, es gibt fast in jeder Stadt ein Poetikfestival, und auch Björn Kuhligk kann sich der Anfragen oft auch gar nicht erwehren, also ich glaube, dass es vielleicht nicht die großen Millionenauflagen sind, aber dass doch die Lyriker das Gefühl haben können, dass sie durchaus wahrgenommen werden, und das ist eigentlich sehr schön.

von Billerbeck: Jan Wagner ist erwähnt worden, da ist der eine Band, wir haben beide hier auf dem Tisch, von Björn Kuhligk und Jan Wagner, und der von Jan Wagner heißt "Die Eulenhasser in den Hallenhäusern". "Drei Verborgene" steht da drauf. Und diese Verborgenen, die heißen Anton Brandt, Theodor Vischhaupt und Philip Miller. Mir alle unbekannt gewesen bisher, und es gibt auch Erklärungen in diesem Buch. Was sind das für drei Herren?

Graf: Ja, das sind wirklich Verborgene, denn die sind der Fantasie Jan Wagners entsprungen, das ist eben ein großes literarisches Spiel. Er hat drei Figuren erfunden ganz unterschiedlicher Art, also einen Anagrammdichter, einen bukolischen, landschaftlichen Dichter, der aus dem bäuerischen Milieu kommt, und eben eine ephemere Gestalt, die im Rom der heutigen Zeit römische Elegien schreibt, und diese drei sind eben frei erfunden. Und er hat dazu eben auch einen wissenschaftlichen Apparat komponiert und eben eine erfundene Herausgeberschaft zelebriert, das ist sehr komisch, auf eine höhere Weise sehr witzig, und es sind aber auch wahnsinnig gute Gedichte, muss man sagen.

von Billerbeck: Also es gibt ja einen … der Apparat ist ja auch wirklich sehr interessant, es gibt also Worterklärungen zu diesen Gedichten und Hintergründiges, also ein sehr lesenswertes Buch, muss man wirklich sagen. Und Björn Kuhligk, das ist sein fünfter Gedichtband, da könnte man sagen, klassischer Gedichtband, "nur" in Anführungsstrichen Gedichte. Die Frage an Sie: Wie läuft denn so die Arbeit mit diesen Autoren? Kommt der mit einem Stapel Gedichte, und dann sagen Sie, na, dann suchen wir mal das schönste aus?

Graf: Nein, die meisten komponieren schon so etwas. Also oft nähert man sich so an, dass man sagt, gut, also ich habe jetzt langsam was zusammen, dann wird mal ein Teilmanuskript mir gezeigt, und dann, wenn das angenommen ist von dem Verlag, geht oft die Arbeit an den Gedichten noch weiter, dass man also den Vertrag schließt, damit es einfach … auch der Programmplatz, man muss ja planen können, da geht ja nicht so von der Hand in den Mund.

Dann wird einfach an dem stückweise gearbeitet. Also die Lyriker selbst, die ich … mit denen ich arbeite, sind selbst sehr diszipliniert und arbeiten daran schon sehr stark, bevor sie ihn mir geben, und dann setzen wir uns eben zusammen, also erst lese ich alleine und mache mir meine Notizen, - und die naturgemäß jetzt nicht mit dem Rotstift große Durchkreuzung oder Dazudichtung ganzer Sonettkränze sein können -, aber ich mache mir eben die Anmerkung, die ich habe, und dann setzen wir uns dann zusammen und besprechen die ganz in Ruhe.

von Billerbeck: Wie reagieren denn dann die Lyriker darauf? Kommt einer und sagt, mach das doch hier mal ein bisschen kürzer oder knapper? Also Kuhligk ist ja eher ein sehr nüchterner Typ erst mal, auf den ersten Blick. Aber es ist eine Poesie, die sich eben erst mit so einem Verzögerungseffekt entfaltet.

Graf: Ja, die lebt eben von vielen Spannungen und Brüchen. Also, ich würde von mir sagen, dass ich relativ einfühlsam da rangehe. Ich meine, damit steht und fällt natürlich alles, dass man nicht mit irgend so einem Konzept kommt, sondern dass man sich auf das Gedicht einlässt, auf den Ton erst mal jeden einzelnen Autors, der ja irgendwie so einen gewissen Sound über die Jahre entwickelt, aber dann auch jedes einzelne Gedicht eben auf seine Tonlage so erfasst sozusagen, und innerhalb der vom Autor gesteckten Struktur, sich innerhalb derer bewegt, also dass man nicht etwas anderes will, das finde ich ganz wichtig.

Natürlich kann man sagen, das geht nicht auf, dieses Konstrukt, oder … aber man kann natürlich sagen, wenn man hier ein Wort streicht, geht es rhythmisch vielleicht auch noch. Oder man sagt dann, ob man diesen Wie-Vergleich nicht irgendwie anders lösen kann, also solche … es gibt natürlich viel, was man da auch noch erzielen kann.

von Billerbeck: Und lässt sich jeder Autor da reinreden, oder dauert es erst eine gewisse Zeit, dass man quasi so ein Vertrauensverhältnis aufbauen muss, und erst dann dürfen Sie, oder wie läuft das?

Graf: Ich habe es eigentlich noch nie erlebt, ich mache ja nicht nur Lyrik, ich mache auch viel Prosa, dass man gar nicht mit jemandem reden kann. Es gibt natürlich verschiedene Typen, die einen sind sehr frühzeitig dankbar, wenn man viel eingreift und manche sind da zögerlicher. Aber ich glaube, wenn sie merken, dass man sie ernst nimmt und mit der notwendigen Demut an die Sache herangeht, dann habe ich es eigentlich noch nie erlebt, dass ein Autor sich einen Vorschlag oder überhaupt einem Gespräch völlig verschließt. Also ich … sie sind im Gegensatz eigentlich sehr dankbar immer dafür, dass man die Sache noch mal hinterfragt und sie in gewisser Weise vielleicht auch schützt.

von Billerbeck: Vor schlechten Gedichten, die sie geschrieben haben?

Graf: Ja, oder vor Kritik, die man voraussehen kann, oder, genau, diesen Dingen.

von Billerbeck: Gibt es einen Band, der viel mehr Julia Graf als der des Autors ist?

Graf: Nein, das würde ich auch nie sagen in der Öffentlichkeit. Ich finde jetzt nichts schlimmer, als wenn Lektoren sich damit brüsten, wie viel Einfluss sie auf Bücher haben. Denn in erster Linie, also der kreative Kopf ist der Autor, und man kann dann natürlich so wie mit einer Hebammentechnik daran was tun, aber das ist nicht das Entscheidende.

von Billerbeck: In unserem Lyriksommer war Julia Graf bei uns zu Gast, Lyriklektorin bei Hanser Berlin. Die beiden ersten von ihr dort lektorierten Bände sind von Jan Wagner unter dem Titel "Die Eulenhasser in den Hallenhäusern" und Björn Kuhligks Gedichtband "Die Stille zwischen null und eins". Herzlichen Dank für das Gespräch!

Graf: Gerne!


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