Der Koffer-Streit

Von Kathrin Hondl |
Pierre Lévi wurde 1943 in Avignon festgenommen, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sein Koffer war in einer Ausstellung im Pariser "Mémorial de la Shoah" zu sehen und wurde dort von Lévis Sohn entdeckt. Der wollte, dass der Koffer in Paris bleibt. Doch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau will die Leihgabe zurückhaben.
Auf der "Mauer der Namen" im Pariser Mémorial de la Shoah ist auch sein Name eingraviert: Pierre Lévi. Einer von 76.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die von 1942-44 aus Frankreich deportiert und in Auschwitz ermordet wurden. 76.000 Menschen sind keine namenlose Masse, das ist die eindringliche Botschaft dieses Mahnmals. Eine Botschaft, die auch die Dauerausstellung über die Deportation der französischen Juden vermittelt: die zerstörten Leben von Individuen - es geht um Einzelschicksale.

Zu sehen sind Briefe, Kleidungsstücke, Fotografien, offizielle Dokumente und: ein Koffer. Der Koffer von Pierre Lévi. In einer schwarzen Wandvitrine liegt er. Genauer: Die Hälfte des Koffers. Der Deckel fehlt. Der Griff ist auf einer Seite abgerissen, das handgeschriebene Namensschild hängt noch dran: Pierre Lévi. Der Name des Vaters von Michel Lévi-Leleu, der den Koffer zufällig beim Besuch der Ausstellung entdeckte. Ein Schock. Wenig später wendet er sich an den Direktor des Mémorial de la Shoah, Jacques Fredj:

"Zuerst wollte er den Koffer zu sich nach Hause mitnehmen. Aber nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, verstand er, dass das nichts bringt. Dass diese Geschichte nur dann einen Sinn hat, wenn man sie erzählt und vermittelt. Er hielt also die Idee, dass der Koffer in einem Museum ist, für nützlich und interessant."

Einziges Problem: Der Koffer im Pariser Shoah-Museum trägt nicht nur das Namensschild von Pierre Lévi, sondern auch gut sichtbar eine Inventarnummer des Museums der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Eine Leihgabe - auf wenige Monate befristet. Dass aber der Koffer seines Vaters ein zweites Mal die Reise von Frankreich nach Auschwitz machen könnte, ist ein unerträglicher Gedanke für Michel Lévi-Leleu. Jacques Fredj versuchte zu vermitteln:

"Wir haben nach einer Lösung gesucht, die beiden Seiten zufrieden stellt. Es war nicht nötig, die Besitzverhältnisse in Frage zu stellen. Herr Lévi-Leleu war damit einverstanden, dass der Koffer Eigentum des Museums in Auschwitz bleibt. Und so habe ich die Museums-Leitung gebeten, den Koffer als Dauerleihgabe dem Memorial in Paris zu überlassen."

Doch die Leihfrist wird nur um sechs Monate verlängert, bis zum 31. Dezember 2005. Als dann die vertragsgemäße Rückkehr des Koffers nach Auschwitz droht, bleibt Herrn Lévi-Leleu nur noch der Weg vors Gericht. Als rechtmäßiger Erbe fordert er die Rückgabe des Koffers seines ermordeten Vaters. Die Gedenkstätte in Auschwitz - zum ersten Mal mit so einer Forderung konfrontiert - fürchtet einen Präzedenzfall. Zu Unrecht, sagt Jacques Fredj:

"Das Museum argumentiert, es würde zerstört, wenn alle Familien ihr Eigentum zurückverlangen würden. Leider gibt es aber so viele Gegenstände im Museum von Auschwitz, auch zahllose nicht identifizierte Objekte, die gar niemand einfordern könnte - dass dieses Argument nicht annehmbar ist. Im Gegenteil: Wir werden immer wieder von Leuten kontaktiert, die uns Dokumente geben, damit sie im Museum gezeigt werden. Ich denke, man muss keine Angst haben, dass die Leute jetzt die Museen stürmen und ihre Sachen wiederhaben wollen. Dieses Problem gibt es nicht."

Das kollektive Gedenken an die Shoah sei gefährdet, meint dagegen die Leitung der Gedenkstätte von Auschwitz, und hat beschlossen, von nun an keine Gegenstände mehr auszuleihen, bei denen die früheren Besitzer erkennbar sind. Eine Reaktion, für die der Leiter der Pariser Gedenkstätte kein Verständnis hat.

"Man kann den Familien von Holocaust-Opfern und Überlebenden nicht irgendwelche Regeln entgegenhalten, man muss versuchen, sie zu verstehen, sie zu begleiten. Und vor allem muss man solche Situationen vermeiden. Ich denke, wenn die Museumsleitung in Auschwitz nur ein bisschen sensibel gewesen wäre, hätte sie verstanden, dass Herr Lévi-Leleu gar nicht viel verlangt - und die Affäre wäre vermieden worden."

Fürs Erste bleibt der Koffer von Pierre Lévi nun im Memorial de la Shoah, offiziell beschlagnahmt von der französischen Justiz. Noch diesen Monat wird der Fall vor Gericht verhandelt werden, das dann entscheiden muss: Wem gehört der Koffer von Pierre Lévi? Das Memorial de la Shoah ist an dem Rechtsstreit nicht beteiligt. Doch das unglückliche Scheitern der Vermittlungsversuche, die vergebliche Bitte, den Koffer als Dauerleihgabe zu gewinnen, stimmen nachdenklich. Fast entsteht der Eindruck, als konkurrierten da die beiden Holocaust-Gedenkstätten in Auschwitz und Paris um ein Ausstellungsstück.

Jacques Fredj: "Ich denke nicht, dass wir Konkurrenten sind. Wir ergänzen uns. Das Museum in Auschwitz ist in erster Linie ein Gedenkort. Der größte Friedhof des europäischen Judaismus. Das sind wir nicht, und werden es auch nie sein. Bei uns geht es in erster Linie um Forschung und Bildung, um Pädagogik und Vermittlung. Wir sind in der Stadt, ein neuer Ort. Nein. Es gibt da kein Konkurrenzdenken - jedenfalls nicht von unserer Seite."

Auf die Frage, ob der traurige Koffer-Streit nicht doch die partnerschaftlichen Beziehungen beider Museen beeinträchtigt - das Memorial de la Shoah organisiert zum Beispiel regelmäßig Bildungsreisen nach Auschwitz - antwortet Jacques Fredj:

"Ich hoffe nicht - jedenfalls gibt es ein Abkommen mit dem Museum von Auschwitz, an das wir uns halten, wir sind dazu verpflichtet. Das Problem ist eher das Ansehen des Museums von Auschwitz - das wird beschädigt: nicht nur gegenüber den Familien der Opfer. Diese mangelnde Sensibilität schadet dem Image der Gedenkstätte von Auschwitz."