Der koloniale Blick, der Religion als vormodern und unaufgeklärt ansieht

Von Rainer Kampling · 24.11.2011
Als Benedikt XVI. vor wenigen Wochen der Bundesrepublik einen Staatsbesuch abstattete, sprach er auch vor dem Bundestag. Nicht etwa seine Rede, sondern allein schon die Einladung ins Parlament löste heftige Kontroversen aus.
Weil er Oberhaupt der größten christlichen Kirche ist, sollte er dort nicht reden. Die Kritiker sahen darin eine Bedrohung des säkularen Staates, um den es nach ihrer Meinung nicht gut bestellt sein kann, wenn sie annehmen, die Rede eines Papstes könne ihn erschüttern.

Und fast zwangsläufig sah man auch die Errungenschaften der Aufklärung gefährdet, die historisch gesehen weniger religionsfeindlicher war, als manche glauben wollen. Da innerhalb der öffentlichen Meinung und Diskurse zum Thema Religion geradezu reflexhaft die Werte der Aufklärung beschworen werden, lohnt doch die Nachfrage, was dieses Wechselspiel der Begriffe als eigentliches Thema entbirgt.

Ganz offensichtlich sehen einige religiösen Glauben und religiöses Bekenntnis als die Reste einer Vormoderne an, die im Licht der Aufklärung eigentlich abgetan gehörten. Interessanterweise können sich in dieser Meinung Vertreter unterschiedlicher politischer Lager und Ideologien treffen. Neoliberalisten und Marxisten sind sich in dem Punkt der Obsoletheit von Religion nahe. Religion störe den Kapitalismus wie den Sozialismus.

Beide sind sich, auch mit vielen anderen, darin einig, dass sie die Bedeutung von Religion als innovativen Faktor gesellschaftlicher Entwicklung nicht nur nicht ernst nehmen, sondern kategorisch ablehnen und als bedrohlich empfinden.

Dieser ganz und gar koloniale Blick trifft Gläubige hierzulande ebenso wie die anderer Länder und Kontinente. In Deutschland ist das gewiss ein Problem für die muslimischen Immigranten, denen pauschal unterstellt wird, dass sie in der Demokratie nicht ankommen könnten, solange sie ihrer Religion anhingen. Dass Integration auf diese Weise gezielt unterlaufen wird, ist schlimm genug. Geradezu verheerend ist dieser Gesinnungsimperialismus aber im Blick auf andere Kulturen und Herkünfte.

Die Lähmung westlicher Politiker angesichts der Entwicklungen in der arabischen Welt hat seine Ursache wohl auch darin, dass man meinte, Religion und Glauben spielten keine Rolle, und sei es, wie man wohl wusste, weil sie unterdrückt wurden. Dass sich nun zeigt, dass auch dort bürgerliche Errungenschaften der Aufklärung auf der Agenda stehen, sollte den Gegensatz von religiöser Existenz und aufgeklärtem politischem Handeln als brüchiges Konstrukt erweisen.

Aber vielleicht gibt es noch einen anderen Grund, warum man sich vom Trugbild nicht trennen mag, Religion widerspreche zwangsläufig aufgeklärtem Denken und Handeln. Die Ablehnung der Religion erscheint fast die einzige Möglichkeit, sich seiner Vernunft zu bedienen.

Denn trotz parlamentarischer Demokratie fällt es in modernen Industrienationen schwer, politisch mitzubestimmen. Statt in Freiheit unter Abwägung der Argumente als Individuum eine vernunftgemäße Entscheidung zu fällen, sieht man sich unabweislichen Sachzwängen unterworfen. Gut, möchte man fast sagen, dass es die Religionskritik gibt, damit man noch ein wenig von der Aufklärung spürt.

Doch angesichts der tatsächlichen Bedrohung der Werte der Aufklärung durch sogenannte politische und wirtschaftliche Zwänge, sollte man sich fragen lassen, ob man sich mit dieser wohlfeilen Religionskritik nicht auf einer Spielwiese aufhält, und dabei die eigentliche Bedrohung der Aufklärung aus dem Blick verliert. Es wäre gut, wenn die Aufgeklärten aufgeklärter und kritischer wären.


Rainer Kampling, katholischer Theologe, geboren 1953 im Münsterland. Studium der Katholischen Theologie, Lateinischen Philosophie und Judaistik. Seit 1992 Professor für Biblische Theologie und Neues Testament an der Freien Universität Berlin, Initiator und Leiter des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Masterstudiengangs Geschichte, Theorie und Praxis der jüdisch-christlichen Beziehungen.
Kampling, Rainer
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