Hartmut Fladt, Jahrgang 1945, ist Komponist, Autor und emeritierter Professor für Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. 2012 veröffentlichte er das Buch "Der Musikversteher. Was wir fühlen, wenn wir hören" (Aufbau-Verlag). Im RBB-Programm radioeins hat er eine regelmäßige Sendung "Die Musikanalyse". Am 26. März 2020 hält er in der Staatsbibliothek zu Berlin den Beethoven-Vortrag "Vom Murmeltier zur großen Fuge".
Was Beethoven heute noch so faszinierend macht
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Ein revolutionärer, aufklärerischer Elan in der Musik wie im Denken - das ist es, was den Musikwissenschaftler Hartmut Fladt auch heute noch an Beethoven bewegt. Trotz aller Ikonisierung und Vereinnahmung des großen Komponisten durch die Kulturindustrie.
Beethoven ist unentrinnbar geworden. Auch Hölderlin und Hegel werden in diesem Jahre für ihren 250. Geburtstag geehrt, aber nur der Wiener aus Bonn zeigt eine unmittelbare Gegenwärtigkeit – durch seine Musik selbstverständlich, ebenso aber auch durch seine Persönlichkeit. Sein Kopf ist zur Ikone geworden. Ich sah ihn schon als bildungsbürgerlich infiziertes Kind so, in der dargestellten schroffen Wildheit furchteinflößend und attraktiv zugleich.
Das Kinderlied vom Murmeltier, "La Marmotte", sang ich gern, wusste allerdings nicht, dass es von Goethe und Beethoven stammt. Es ist ein Lied über arme Bergbauernkinder aus Savoyen, sogenannte "Krätzekinder". Diese Kinder wurden im 18. Jahrhundert mit dressierten Murmeltieren über die Jahrmärkte Europas geschickt und ernährten so ihre Familien. Das Humorig-Pittoreske hat, typisch für Beethoven, eine bittere soziale Grundlage.
Alle kulturellen Pilgerwege sind derzeit gepflastert und bestückt mit Beethoven-Porträts, auf Titeln, in Artikeln, auf Plakaten, Briefmarken, auf den Plattencovern auch der Pop-Genres, in audiovisuellen Medien, selbstverständlich im Netz. Beethoven wurde auch für mich in allen meinen Altersstufen zum ewig Gegenwärtigen einer vereinnahmenden Kulturindustrie, in immer neuen Perspektiven, auch solchen der Popkultur: Es entstanden zahlreiche Adaptionen seiner Kompositionen in der Rock- und Popmusik, bis hin zum verkitschten Kommerz des "Song of Joy".
Wild- und wohlfrisiert zugleich
In der Regel hören wir ihn auch so, wie wir ihn in den Ikonen der Bilder und der weltweiten Denkmäler sehen: als einen überaus wild-, aber zugleich wohlfrisierten Töne-Heros, das starke Kinn und der rechte Fuß entschlussfreudig nach vorn gereckt. Ein lichterleuchtetes Antlitz blickt inspiriert in eine imaginäre Ferne, in der Linken hält der Meister ein Manuskript, mit Rechts den eintragbereiten Stift.
Bei Militärs und Politikern fand ich solche Posen furchtbar, bei Beethoven empfand ich diese energische Geste als seiner Musik angemessen. Ich war Jazz-Fan, liebte besonders Errol Garner, hatte aber auch schon die Gesamteinspielung von Beethovens Klaviersonaten durch Wilhelm Backhaus kennengelernt.
Meine Professionalisierung als Student der Komposition in Detmold und später der Musikwissenschaft in Berlin hatte auch zur Professionalisierung meines Verhältnisses zu Beethoven geführt, gleichzeitig mit der typischen Politisierung im Übergang zu den 70er-Jahren.
Ich erkannte und erfuhr den großen Ethos-Anspruch des "homo politicus" Beethoven, dessen revolutionärer Elan nicht nur ein musikalischer war, der Kant und Schiller rezipierte, der als junger Mann die Französische Revolution in Bonn und mit der "Mainzer Republik" hautnah erlebte, der an der Universität die revolutionsbegeisterten Vorlesungen von Eulogius Schneider hörte. Beethovens "Dritte", die Sinfonia eroica, ist eine Hymne auf den Prometheus-Mythos der aufklärerischen Selbstbestimmung des Menschen. Ursprünglich war sie dem Revolutionär Napoleon Bonaparte gewidmet. Als der sich 1804 zum Kaiser krönte, kratzte Beethoven wütend die Widmung wieder aus dem Manuskript aus. Das Loch ist eindrucksvoll.
Die "bestimmte Negation" als Triebkraft des Fortschritts
Das Prinzip des dialektischen, produktiven Widerspruchs ist grundlegend für das musikalische wie das allgemeine Denken Beethovens – und das habe ich von ihm und seinen "Mit-250ern" Hegel und Hölderlin als Komponist und Wissenschaftler gelernt: Die "bestimmte Negation" ist die bewegende Kraft des Fortschreitens und des "Fortschritts". Das gilt für gesellschaftliche Verhältnisse und es gilt genauso im Verhältnis vom musikalisch einzelnen Baustein zu einem 45-minütigen sinfonischen Ganzen. Dieses "Ganze" ist nichts von außen Vorgegebenes. Das Ganze erreicht erst dann seinen möglichen Reichtum, wenn es sich aus einer Individuellen Idee und ihren Veränderungen prozessual im Verhältnis zu anderen Individuellen entfaltet und so zu sich selbst kommt.
Gilt Kurt Tucholskys Bonmot auch für Beethoven?
"Wegen schlechten Wetters fand die deutsche Revolution in der Musik statt".