Der Konsens ist gefährdet
Gesundheitsreform, Waffengesetze - in den USA wird gerne erbittert um wichtige Themen gestritten. Eine Einigung ist nicht in Sicht. Ist das ein Symptom? Ja, sagt Niels Annen, Mitglied im Vorstand der SPD. Vor allem in den USA, aber auch in Europa.
Als Präsident Lyndon B. Johnson am 30. Juli 1965 das Gesetz über eine staatliche Gesundheitsversicherung für Senioren unterzeichnete, hatten zuvor zwei Drittel der Abgeordneten, Demokraten und Republikaner, für seine Vorlage gestimmt. Eine Mehrheit, die heute wie eine Geschichte aus einer anderen Welt erscheint. Die tiefe Polarisierung im amerikanischen Wahlkampf hat Zweifel an der Funktionsfähigkeit des politischen Systems genährt.
Ist die amerikanische Politik dabei, die Fähigkeit zum Kompromiss zu verlieren? Immerhin, 1965 erzielten die Parteien einen Kompromiss, der bis heute hält. Der Kontrast könnte daher kaum größer sein: Keine einzige Stimme aus der Opposition konnte Präsident Obama für seine Gesundheitsreform im Repräsentantenhaus gewinnen.
Dabei ist das amerikanische Regierungssystem eigentlich auf Konsens ausgelegt. Die quasi monarchische Stellung des Präsidenten wurde durch gegenseitige Kontrolle eingehegt, die jedem der Akteure im Machtdreieck zwischen Repräsentantenhaus, Senat und Weißem Haus de facto eine Vetomacht einräumte. Die Gründerväter setzten darauf, dass diese Konstruktion zu Ergebnissen im Interesse des Landes führen würde - und der Erfolg gab ihnen Recht.
Heute wachsen Zweifel, ob die einstmals so erfolgreichen politischen Strukturen nicht inzwischen zerstörerisch wirken - angesichts einer Partei, deren Vertreter das Wort "Kompromiss" zum Schimpfwort erklären. Doch müssen wir nicht erst über den Atlantik schauen, um Belege für erbitterten Parteienstreit zu finden.
Fast vergessen ist zum Beispiel, dass der heutigen Westbindung Deutschlands ein jahrelanger Schlagabtausch voraus ging. Der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher sah in Adenauers Politik eine Absage an eine schnelle Wiedervereinigung. Sein Zuruf, dieser sei der "Kanzler der Alliierten", brachte ihm einen Ausschluss von 20 Sitzungstagen des Deutschen Bundestages ein. Erst Anfang der 60er-Jahre verständigten sich die Parteien auf eine gemeinsame Grundlage für die Außen- und Sicherheitspolitik. Ähnliches galt für die Ostpolitik von Willy Brandt, die wiederum von den Unionsparteien erbittert bekämpft wurde.
Konsens kann und darf kein Selbstzweck sein. Er muss erarbeitet, ja erstritten werden. Die Fähigkeit einer Gesellschaft zum Kompromiss, das zeigt die amerikanische Geschichte eindrucksvoll, setzt weder Harmonie, noch die Beachtung des guten Geschmacks voraus.
Als im Jahr 1800 der heute geradezu vergötterte Thomas Jefferson gegen Präsident John Adams antrat, ließ er vernehmen, Adams sei ein ekelerregender Pedant, widerlicher Heuchler, und er habe insgeheim einen hermaphroditischen Charakter, der weder die Kraft und Festigkeit eines Mannes aufweise noch die Weichheit und Sensibilität einer Frau. Adams wiederum nannte Jefferson einen gemeinen, niedrigen Kerl, Sohn einer halb-indianischen Mutter, gezeugt von einem Mulatten-Vater aus Virginia. Und dennoch gelang es beiden, ihre Differenzen zum Wohle des Landes auszutragen.
Es ist deswegen mehr als der bedauernswerte Verfall der demokratischen Streitkultur, der uns heute Sorgen machen muss, sondern der Klassenkampf von oben, mit denen immer hemmungslosere Eliten in den letzten Jahrzehnten eine massiven Umverteilung von unten nach oben durchgeführt und das politische Klima vergiftet haben. Diese rücksichtslose Politik hat der Bereitschaft zum Kompromiss Stück für Stück die Grundlage entzogen.
Dass diese Entwicklung, die wir in den USA beklagen, keineswegs auf Amerika beschränkt bleiben muss, zeigt der jüngst veröffentlichte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland verfügen inzwischen über die Hälfte des gesamten Nettovermögens, Tendenz steigend. Die Politik sollte diesen Befund ernst nehmen, will sie nicht ebenfalls einen steigenden Preis für wachsende Ungleichheit zahlen.
Niels Annen, geboren 1973 in Hamburg, arbeitet für das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Er war von 2005 bis 2009 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Hamburg-Eimsbüttel und danach Senior Fellow beim German Marshall Fund in Washington DC. Als Mitglied im Auswärtigen Ausschusses des Bundestages zählten u.a. das deutsche Engagement in Afghanistan und im Nahen Osten zu seinen Arbeitsschwerpunkten. Von 2001 bis 2004 war er Bundesvorsitzender der Jungsozialisten. Niels Annen ist seit 2003 Mitglied des SPD-Parteivorstand. Er hat in Hamburg, Madrid und Berlin Geschichte und in Washington International Public Policy studiert.
Ist die amerikanische Politik dabei, die Fähigkeit zum Kompromiss zu verlieren? Immerhin, 1965 erzielten die Parteien einen Kompromiss, der bis heute hält. Der Kontrast könnte daher kaum größer sein: Keine einzige Stimme aus der Opposition konnte Präsident Obama für seine Gesundheitsreform im Repräsentantenhaus gewinnen.
Dabei ist das amerikanische Regierungssystem eigentlich auf Konsens ausgelegt. Die quasi monarchische Stellung des Präsidenten wurde durch gegenseitige Kontrolle eingehegt, die jedem der Akteure im Machtdreieck zwischen Repräsentantenhaus, Senat und Weißem Haus de facto eine Vetomacht einräumte. Die Gründerväter setzten darauf, dass diese Konstruktion zu Ergebnissen im Interesse des Landes führen würde - und der Erfolg gab ihnen Recht.
Heute wachsen Zweifel, ob die einstmals so erfolgreichen politischen Strukturen nicht inzwischen zerstörerisch wirken - angesichts einer Partei, deren Vertreter das Wort "Kompromiss" zum Schimpfwort erklären. Doch müssen wir nicht erst über den Atlantik schauen, um Belege für erbitterten Parteienstreit zu finden.
Fast vergessen ist zum Beispiel, dass der heutigen Westbindung Deutschlands ein jahrelanger Schlagabtausch voraus ging. Der damalige SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher sah in Adenauers Politik eine Absage an eine schnelle Wiedervereinigung. Sein Zuruf, dieser sei der "Kanzler der Alliierten", brachte ihm einen Ausschluss von 20 Sitzungstagen des Deutschen Bundestages ein. Erst Anfang der 60er-Jahre verständigten sich die Parteien auf eine gemeinsame Grundlage für die Außen- und Sicherheitspolitik. Ähnliches galt für die Ostpolitik von Willy Brandt, die wiederum von den Unionsparteien erbittert bekämpft wurde.
Konsens kann und darf kein Selbstzweck sein. Er muss erarbeitet, ja erstritten werden. Die Fähigkeit einer Gesellschaft zum Kompromiss, das zeigt die amerikanische Geschichte eindrucksvoll, setzt weder Harmonie, noch die Beachtung des guten Geschmacks voraus.
Als im Jahr 1800 der heute geradezu vergötterte Thomas Jefferson gegen Präsident John Adams antrat, ließ er vernehmen, Adams sei ein ekelerregender Pedant, widerlicher Heuchler, und er habe insgeheim einen hermaphroditischen Charakter, der weder die Kraft und Festigkeit eines Mannes aufweise noch die Weichheit und Sensibilität einer Frau. Adams wiederum nannte Jefferson einen gemeinen, niedrigen Kerl, Sohn einer halb-indianischen Mutter, gezeugt von einem Mulatten-Vater aus Virginia. Und dennoch gelang es beiden, ihre Differenzen zum Wohle des Landes auszutragen.
Es ist deswegen mehr als der bedauernswerte Verfall der demokratischen Streitkultur, der uns heute Sorgen machen muss, sondern der Klassenkampf von oben, mit denen immer hemmungslosere Eliten in den letzten Jahrzehnten eine massiven Umverteilung von unten nach oben durchgeführt und das politische Klima vergiftet haben. Diese rücksichtslose Politik hat der Bereitschaft zum Kompromiss Stück für Stück die Grundlage entzogen.
Dass diese Entwicklung, die wir in den USA beklagen, keineswegs auf Amerika beschränkt bleiben muss, zeigt der jüngst veröffentlichte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte in Deutschland verfügen inzwischen über die Hälfte des gesamten Nettovermögens, Tendenz steigend. Die Politik sollte diesen Befund ernst nehmen, will sie nicht ebenfalls einen steigenden Preis für wachsende Ungleichheit zahlen.
Niels Annen, geboren 1973 in Hamburg, arbeitet für das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Er war von 2005 bis 2009 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Hamburg-Eimsbüttel und danach Senior Fellow beim German Marshall Fund in Washington DC. Als Mitglied im Auswärtigen Ausschusses des Bundestages zählten u.a. das deutsche Engagement in Afghanistan und im Nahen Osten zu seinen Arbeitsschwerpunkten. Von 2001 bis 2004 war er Bundesvorsitzender der Jungsozialisten. Niels Annen ist seit 2003 Mitglied des SPD-Parteivorstand. Er hat in Hamburg, Madrid und Berlin Geschichte und in Washington International Public Policy studiert.