Der Krieg als Verbrechen

Von Ernst Piper · 19.11.2010
In Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage und der Rassengesetze, sollte ein weithin sichtbares Zeichen gesetzt werden, ein Symbol des Sieges der Rechtsstaatlichkeit über Terror, Willkür und Vernichtungswillen.
Am 20. November 1945 eröffnete der amerikanische Chefankläger Robert Jackson im Schwurgerichtssaal Nr. 600 die Verhandlungen mit einer mehrstündigen Rede, eine der bedeutendsten, die jemals gehalten wurden. Jackson hatte schon die Grundlagen für das Londoner Statut geliefert, nach dem in Nürnberg verhandelt wurde.

Während die Engländer am liebsten kurzen Prozess gemacht und eine größere Gruppe von Hauptkriegsverbrechern standrechtlich erschossen hätten und die Russen nur einen Schauprozess wollten, hatten die USA mit großem Nachdruck auf einem streng rechtstaatlichen Verfahren bestanden. Robert Jackson sprach über den Zusammenhang von Recht und Unrecht, von Krieg und Frieden und stellte am Ende fest: "Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation".

Die Grundthese seiner Anklage war, dass die Nationalsozialisten sich verschworen hatten, einen Angriffskrieg zur Realisierung ihrer Vernichtungs- und Weltherrschaftspläne zu führen. Vorgeworfen wurden ihnen Kriegsverbrechen wie das Zwangsarbeitsprogramm und die Misshandlung von Gefangenen, und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nach 218 Verhandlungstagen wurden zwölf Angeklagte zum Tod verurteilt, drei zu lebenslänglicher Haft, vier zu Zeitstrafen und drei wurden freigesprochen.

Es war dies der Versuch, staatliche Verbrechen justizförmig zu bewältigen. Erste Überlegungen dazu hatte es nach dem Ersten Weltkrieg gegeben. Bis dahin hatte Krieg – bei Beachtung gewisser Regeln – als ein legitimes Mittel zur Durchsetzung staatlicher Interessen gegolten, nun wurde er von den Siegermächten als "das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Freiheit der Völker" geächtet.

Die Konferenz, die dem Friedensvertrag von Versailles vorausging, hatte versucht, Maßstäbe für die Völkerrechtswidrigkeit von Kriegsverbrechen und die strafrechtliche Verantwortlichkeit der beteiligten Staaten zu entwickeln. 1920 wurde der Völkerbund gegründet, der in Konfliktfällen vermitteln und die Einhaltung von Friedensverträgen überwachen sollte.

Der Völkerbund scheiterte, aber von den Intentionen seiner Gründer führt ein direkter Weg zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess. Schon 1942 erarbeiteten Roosevelt und Churchill die Atlantikcharta, die die Ahndung der von Deutschen verübten Verbrechen zu einem offiziellen Kriegsziel erhob. Diese Charta ist die Geburtsurkunde der Vereinten Nationen, die sich dann im Sommer 1945 konstituierten. Seit einigen Jahren haben sie einen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen aburteilt.

Doch die Vereinten Nationen sind auch 65 Jahre nach ihrer Gründung noch weit davon entfernt, als Weltpolizei überall Frieden schaffen zu können. Das Abschlachten von 800.000 ruandischen Tutsi durch Hutu-Milizen, dem die Blauhelmsoldaten 1994 tatenlos zusehen mussten, hat die UNO damals in eine tiefe Krise gestürzt. Auch die Ereignisse des Bosnienkrieges kurz danach sind kein Ruhmesblatt für die internationale Organisation. Und die Durchsetzung der Urteile des Internationalen Strafgerichtshofes hängt davon ab, dass sich die Beteiligten dem Verfahren unterwerfen, was keineswegs immer leicht zu erreichen ist.

Die Siegermächte von 1945 haben versucht, einer neuen, dem Völkerfrieden verpflichteten Weltordnung Geltung zu verschaffen. Diese Vision hat nichts von ihrer Bedeutung verloren, auch wenn es auf dem Weg dorthin immer wieder Schwierigkeiten und Rückschläge gibt. Eines ist sicher: Im Schwurgerichtssaal Nr. 600 wurde damals Rechtsgeschichte geschrieben. Das Urteil von Nürnberg war ein Triumph der Zivilisation über die Barbarei.

Ernst Piper, Historiker, 1952 in München geboren. Er hat Geschichte, Philosophie und Germanistik studiert und lebt heute mit seiner Familie in Berlin. Er hat zahlreiche Bücher geschrieben, unter anderem eine Kurze Geschichte des Nationalsozialismus (Hamburg 2007). Piper ist Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam.