Der Krieg in den Köpfen

Von Alexander Göbel |
Charles Taylor ist die große, dunkle Wolke über den Köpfen der Menschen in Sierra Leone. Der ehemalige Präsident Liberias wird wegen seiner Unterstützung der zwischen 1991 und 2002 in Sierra Leone agierenden Rebellen für die damals begangenen Gräueltaten mitverantwortlich gemacht. Derzeit muss sich Taylor vor dem UN-Sondergericht für Sierra Leone verantworten. In Sierra Leone selbst wird sein Auftritt aufmerksam beobachtet.
Freetown, die Hauptstadt von Sierra Leone. Malerisch liegt sie da – auf den grünen Hügeln, direkt am blau schimmernden Atlantik. Das Leben in den Straßen ist bunt – als wäre nichts geschehen. Seit sieben Jahren herrscht Frieden. Doch die Spuren des Krieges sind überall. Noch immer sind viele Gebäude zerstört, manche Straßen kaum befahrbar, Strom und fließendes Wasser kaum vorhanden. Bis heute fallen sie auf, die jungen Menschen im Rollstuhl oder auf Krücken, mit frisch verbundenen Stümpfen an Armen und Beinen.

Damals, in den 1990er-Jahren, wurde Sierra Leone zu einem amputierten Staat. Die gesamte Gesellschaft geriet aus den Fugen. Allein die "January-Six-Invasion" – der Angriff der Militärjunta auf Freetown am 6. Januar 1999 – forderte Zehntausende Tote. Jabati Mambou ist zu dieser Zeit 15 Jahre alt.

"Die Soldaten haben alle Jungs aus dem Haus gezerrt und in einer Reihe aufgestellt. Ich war der erste. Sie befahlen mir, meine rechte Hand auf den Boden zu legen. Dann kam einer mit einer Axt – und schlug sie ab. Einfach so."

Jabatis Freund Tommy Idrissa erlebt es immer wieder, wenn er davon erzählt. "Long Sleeve or Short Sleeve" – Langer Ärmel oder Kurzer Ärmel? "Das haben sie uns immer gefragt", sagt Tommy, und deutet auf Handgelenke und Ellenbogen. Andere Milizen waren auf den "ruffle draw" spezialisiert: Die Opfer mussten eine Losnummer ziehen. Auch Tommy.

"Ich hatte die Wahl. Erblinden, das war die Eins – dann bekam man flüssiges Plastik ins Auge – oder die Zwei – dann würden sie mir das rechte Bein abschneiden – oder, wenn man zum Beispiel die Vier zog, wurde man direkt erschossen. Darauf hatte ich damals gehofft, ehrlich. Aber ich habe die Zwei gezogen."

Alles beginnt 1991: Verbündete von Liberias Präsident Charles Taylor greifen zwei Dörfer im Grenzgebiet zwischen Liberia und Sierra Leone an. Taylor braucht Geld für seinen eigenen Krieg im Nachbarland. Es ist die Stunde der "Revolutionary United Front", der "RUF". Die Rebellen wollen die sierra-leonische Regierung loswerden. Sie brauchen Kindersoldaten – und eine Menge Waffen. Taylor kann liefern, hat beste Verbindungen zu Waffenhändlern aus der ehemaligen Sowjetunion – und schielt dabei auf die großen Diamantenvorkommen im Osten von Sierra Leone.

Erst 2002 schweigen die Waffen – die Vereinten Nationen schicken die bislang größte Blauhelmtruppe. "Erst der Frieden", sagt der Student John Abu-Kpawoh, "hat den Blick freigelegt auf die Gräuel von damals."

"Du kannst die Spuren des Krieges noch heute sehen. Die sichtbarsten Opfer sind die Amputierten. Aber da sind auch die Frauen, die zum Geschlechtsverkehr mit ihren Söhnen gezwungen wurden – oder die Kindersoldaten. Es ist nur folgerichtig, dass jetzt auch Mister Taylor dafür verantwortlich gemacht wird. Damit hier endlich Versöhnung beginnen kann. Ich selbst bin Zeuge, dass diese Dinge während des Krieges geschehen sind."

Wahrheit, Verantwortung, Versöhnung. Große Worte, hohe Erwartungen. Die Menschen suchen nach Antworten. Nach ihrer verloren gegangenen Würde. Die will ihnen das UN-Sondergericht für Sierra Leone zurückgeben. Hauptangeklagter ist Charles Taylor – verhaftet 2006, nach seiner missglückten Flucht aus dem Exil in Nigeria.

30.000 Seiten Anklageschrift, elf Anklagepunkte: Rekrutierung von Kindersoldaten, Vergewaltigung, Mord, Zwangsarbeit – kurz: Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dass diese Gräueltaten geschehen sind, daran besteht kein Zweifel – das konzediert sogar die Verteidigung. Die Anklage muss aber beweisen, dass diese Taten Taylor unmittelbar anzulasten sind.

Natürlich ist Taylor nicht allein für den Krieg in Sierra Leone verantwortlich. Aber Foday Sankoh, Rebellenführer der RUF, starb im Gefängnis und entging seinem Urteil; andere mutmaßliche Schlächter sind untergetaucht oder wurden notgedrungen für tot erklärt. So wird der Prozess gegen Liberias Ex-Präsidenten Taylor zum Symbol – zur Messlatte für Gerechtigkeit. Peter Andersen, Sprecher des Sondergerichts in Freetown:

"Lange Zeit war es in dieser Region so, dass Menschen mit viel Macht keine Strafe fürchten mussten. Sie waren unberührbar. Und genau das ändern wir mit dem Special Court. Es ist egal, wer du bist, du kannst verurteilt werden! Auch als Staatsoberhaupt. Wir machen wichtige Fortschritte im Kampf gegen die Straflosigkeit in diesem Land."

Die ganze Region hat Angst vor Charles Taylor: Besonders im benachbarten Liberia hat der mutmaßliche Kriegsverbrecher noch immer viele Anhänger. Daher findet der Prozess nicht im schicken Prozessgebäude von Freetown statt, sondern in Den Haag.

Viele Menschen verstehen das nicht – und auch wenn sie die Verhandlung auf der Videoleinwand im Sondergericht von Freetown verfolgen – sie haben das Gefühl, dass das Recht noch immer nicht zurück ist in Sierra Leone. Das Gericht hat neben der Glaubwürdigkeit noch ein Problem: massive Geldnot. Für den nächsten Monat können kaum die Gehälter gezahlt werden. "Wir gehen mit dem Hut rum", sagt Peter Andersen:

"Wir können niemanden zwingen, uns Geld zu geben, es handelt sich ja um freiwillige Beiträge der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Aber fest steht: Wir haben dieses Mandat, nämlich diejenigen zu bestrafen, die Verantwortung tragen für die schlimmsten Verbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Anders kann man das, was hier passiert ist, eigentlich auch nicht nennen."

Nach der Anklage ist nun Taylors Verteidigung an der Reihe. Seit Mitte Juli sagt Liberias Ex-Präsident höchstpersönlich aus, als Kronzeuge weist er alle Schuld von sich. Seine Maschinerie von Anwälten funktioniert bestens.

"I never dealt with diamonds in exchange for arms.”"

Es muss schmerzhaft sein, das auszuhalten, was die Juristen der UN "due process of law" nennen – ein faires Verfahren. Jabati Mambou wird dennoch nach Den Haag reisen. – wenn er das Geld dafür auftreiben kann.

""Ich will Taylor in die Augen sehen, aber ich könnte nicht mit ihm sprechen. Ich hoffe, dass er mindestens 150 Jahre hinter Gitter muss – so wie dieser amerikanische Finanzhai, der kürzlich verurteilt wurde. Das bringt mir meine Hand nicht zurück, aber ich würde spüren, dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt."

Es könnte durchaus sein, dass der Angeklagte Taylor am Ende freikommt. Doch in Sierra Leone will das niemand laut sagen – noch nicht einmal denken.

Elf Jahre lang haben Brutalität und die Gier nach Macht und natürlichen Ressourcen verbrannte Erde hinterlassen. 70 Prozent der rund fünf Millionen Sierra Leoner können weder lesen noch schreiben, 75 Prozent der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre – und die meisten von ihnen sind ohne feste Beschäftigung. Freetown ist voll von frustrierten jungen Männern, die nie etwas anderes gelernt haben als Waffen zu benutzen.

Funkia, an der Goderich Wharf im Süden von Freetown. Nebenan legen die buntbemalten Fischerboote an, der Fang des Tages wird verkauft. Joseph schaut schon gar nicht mehr hin. Der 23-Jährige gehört zu den Drop-Outs, die hier auf den Felsen ihr Elend vergessen wollen – mit reichlich Palmwein und Marihuana. Depression und Selbsthass sind groß in Sierra Leone: Seit zwei Jahren steigt die Zahl der Gewalttaten wieder.

Joseph Squire: "Wir haben für eine neue Regierung gebetet – die haben wir jetzt, aber nichts hat sich geändert. Wir haben noch immer keine Jobs. Wie sollen wir denn überleben?"

Vor allem die jungen Menschen waren es, auch die früheren Kindersoldaten, die trotz oder gerade wegen ihres Traumas unermüdlich an den Wechsel glaubten. Jetzt laufe die neue Regierung des "All People’s Congress" (APC) Gefahr, ihre treuesten Anhänger zu enttäuschen, warnt Christiana Thorpe, die Vorsitzende der nationalen Wahlkommission:

"Es heißt ja: Wer nichts zu tun hat, kommt schnell auf dumme Gedanken. Man kann es sich nicht leisten, die Menschen außen vor zu lassen, die in ihren besten Jahren sind. Sie brauchen Arbeitsplätze. Und wir wollen ja, dass sie mithelfen, wenn wir Sierra Leone wieder aufbauen."

Die Partei von Präsident Ernest Bai Koroma trat vor zwei Jahren mit großen Versprechen an: Arbeit und Fortschritt, Null-Toleranz gegenüber Korruption. Doch die Menschen warten vergeblich auf die Friedensdividende. Michael von der Schulenburg, Chef der Vereinten Nationen in Sierra Leone:

"Die Grundfrage hier ist Demokratie – und Frieden. Bringt es das für die Leute, oder bringt es das nicht? Und das ist eine Grundfrage, an der wir noch lange zu knacken haben – es wird sicherlich nicht sehr schnell beantwortet werden. Aber wir müssen dranbleiben, es gibt eben keine Alternative dazu!"

Es heißt, Sisyphus sei ein glücklicher Mensch gewesen – auch wenn sein riesiger Stein immer wieder den Berg hinabrollte. Handelsminister David Carew gefällt das.

"Gerade sind wir beim Entwicklungsindex der Vereinten Nationen wieder auf dem letzten Platz gelandet – wir sind Schlusslicht, auf Platz 177. Das ist doch eine fantastische Position für uns, denn tiefer geht es nicht. Alles, was wir tun, wird dem Fortschritt dienen. Und natürlich sagt diese Platzierung alles über die Herausforderungen, vor denen wir stehen."

Carew weiß nicht, was er zuerst nennen soll: Den Gesundheitssektor, das Bildungswesen, die Straßen, die miserable Stromversorgung, den Mangel an verarbeitender Industrie, die Korruption. Nach wie vor gehen Millionen von Entwicklungshilfe-Geldern in kriminellen Kanälen verloren – und das bei einem Gesamtbudget von weniger als 400 Millionen Dollar, das vor allem geberfinanziert ist. Als gäbe es nicht genug Probleme, bekommt das Land nun auch noch die Auswirkungen der Finanzkrise zu spüren – nicht nur, weil die Preise für Rohstoffe wie Diamanten gesunken sind.

Carew: "Wir gehen davon aus, dass bislang 800.000 Haushalte regelmäßig 100 US-Dollar pro Monat von Familienmitgliedern aus dem Ausland überwiesen bekamen. Mal zwölf macht das fast eine Milliarde Dollar. Und gegenwärtig sind wir nur noch bei der Hälfte – das heißt: 50 Prozent der Auslandsüberweisungen sind weggebrochen. Das ist massiv!"

Das bedeutet: Die direkten Investitionen aus dem Ausland gehen zurück, viele der von den "Expatriates" finanzierten Projekte liegen brach, die Kaufkraft sinkt, es wird auf lokaler Ebene weniger investiert. Und auf den Kapitalmärkten ist kein frisches Geld zu haben – Investoren überlegen es sich zweimal, ob sie in einen risikoreichen Markt wie Sierra Leone einsteigen.

Carew: "Es ist ein Schneeballeffekt. Noch haben wir allerdings keinen Rückgang bei zugesagten Hilfsgeldern festgestellt – aber bei neuen Verhandlungen über Finanzhilfen gab es bereits erste Schwierigkeiten."

Hannah Foullah ist mitmarschiert auf Sierra Leones langem Weg vom Krieg zum Frieden. Viele Jahre war sie Chefredakteurin von "Radio Democracy", einem der wenigen unabhängigen Sender in Freetown. Und trotz allem: Für sie ist das Glas halbvoll – nicht halbleer.

"Ich bin ein positiv denkender Mensch, und ich glaube an dieses Land. Ich will, dass wir in großen Dimensionen denken, nicht in kleinen. Wir müssen diesen Minderwertigkeitskomplex loswerden. Wir müssen uns Sierra Leone als ein Paradies vorstellen – auch wenn wir es in unserer Lebenszeit nicht erreichen. Aber wir müssen endlich damit anfangen!"

Solche Visionen haben die jungen Männer auf den Felsen von Goderich nicht – von einem neuen Land, in dem es Arbeit gibt, Tourismus, Wasser und Strom. Ihre Träume gehen in Palmwein und Marihuana auf. Die Regierung, die er mitgewählt hat, will Joseph Squire aber nicht aus der Verantwortung entlassen. Immerhin: demokratische Töne.

"Die Jugend von Sierra Leone ist ja nicht dumm. Wenn der Präsident nicht hält, was er versprochen hat, werden wir demonstrieren. 2012 gibt es die nächsten Wahlen. Wenn er nichts für uns tut, wird er abgewählt, so einfach ist das!"

So lange will hier niemand warten. Sierra Leone ist schon heute zum Erfolg verdammt. Denn genau diese Entfremdung der Jugend hat damals mit zum Bürgerkrieg geführt – heute zeigt sie sich wieder. Der Selbsthass hat die perspektivlose Generation damals zur willfährigen Kampftruppe für warlords wie Charles Taylor gemacht. Heute sucht sie noch immer nach ihrem Platz in der Gesellschaft. So lange sie ihn nicht gefunden hat, sagen viele, bleibt auch das Trauma des Krieges unbewältigt. Eine von vielen offenen Wunden. Selbst ein Schuldspruch im Fall Taylor reicht nicht als Medizin.