Der Krieg in der eigenen Familie

Als der angehende Historiker Moritz Pfeiffer seinen Großvater über dessen Vergangenheit in der Nazizeit ausfragte, trieb ihn vor allem wissenschaftliches Interesse. Aus den Gesprächen entstand seine Magisterarbeit - und ein ungemein spannendes Lesebuch.
Emotional muss es ziemlich tollkühn gewesen sein, was Moritz Pfeiffer 2005 wagte. Der angehende Historiker, geboren 1982, fragte seinen Großvater über die Nazizeit aus. Hans Hermann, der Vater seiner Mutter, geboren 1921, aufgewachsen im deutschnational-antisemitischen Klima und dem Mythos vom "schändlichen Versailler Frieden", hatte als Berufssoldat den Zweiten Weltkrieg vom ersten Tag an miterlebt, eineinhalb Jahre in amerikanischer Kriegsgefangenschaft eingeschlossen. Miterlebt heißt auch mitgemacht, und bei deutschen Soldaten in diesem Krieg wirft das immer ungemütliche Fragen auf: Was alles hat er mitgemacht? Was gesehen, gehört, gewusst? Und wie ist die Familie nach 1945 damit umgegangen?

Den Enkel treiben weder Reinwaschungs- noch Rachegelüste. Sein Großvater hat sich nie zum heimlichen Widerstandskämpfer stilisiert, aber umdenken gelernt, er liebt ihn. Was ihn produktiv umtreibt, sind zwei Erkenntnisse der NS-Forschung: dass die Nazizeit mit all ihrem objektiv erforschten Grauen auch Familiengeschichte ist (Raul Hillberg) und deren flächendeckendes Beschweigen auf der Täterseite noch der übernächsten Generation in den Knochen steckt, im Wunschgedanken: "Opa war kein Nazi." (Harald Welzer)

Pfeiffers Opa war einer. Wie die meisten. Kein "hohes Tier", bei Kriegsende gerade mal Oberleutnant. Aber eben dabei. Er fiel in Polen mit ein, in Frankreich, in der Sowjetunion. Mit der Wehrmacht, deren Mythos von Anstand und Abstand von den SS-Gräueln längst enttarnt ist. Hans Hermann hat ein brillantes Gedächtnis, und auch er lässt sich auf das Wagnis ein. Will sich erinnern, obwohl das Enttarnung, Entzauberung bedeuten kann.

Aus den Interviews wird ein Weihnachtsgeschenk für die Familie. Aber der Enkel bleibt produktiv unruhig. Es wird jetzt auch mental spannend. Was bedeuten die Widersprüche im Erzählten? Etwa wenn Hans Hermann "hinter der Front" gewesen sein will, aber plötzlich über etwas klagt, das nur Soldaten ganz vorn betraf. Warum blockiert er, wo er - und die Angehörigen an der "Heimatfront" - etwas gewusst haben vom Judenmord? Sein Bruder Siegfried war in der SS und daran beteiligt. Was bedeutet die Lücke zwischen erinnern und erzählen können? Die Unfähigkeit zur Empathie mit den eigenen Opfern?

Pfeiffer beginnt ein beherztes Manöver: Er nimmt das subjektiv Erinnerte, konfrontiert es mit allem, was er an objektiv Faktischem dazu finden kann, und trägt die Reibungsenergie sowohl zurück in die Familie als auch hinaus in die Wissenschaft, als Magisterarbeit.

Jetzt ist daraus ein so anrührendes wie intellektuell aufregendes Buch geworden. Die chronologischen Kapitel sind dreigeteilt: Auf jedes in den familiären Kontext eingebettete Narrativ des Großvaters folgen ein Bericht über die Familienquellen und ein Abschnitt "Analyse und Forschungsstand". Die glasklare Prosa, sorgfältig dokumentiert, mit 46 Seiten Fotos, wirft ein kostbares neues Licht auf etwas noch lange nicht genug Erhelltes. Sie liest sich ungemein spannend, weil zwischen allen Zeilen die Erkenntnis aufscheint, dass man womöglich Herz und Hirn riskieren muss, um schmerzhafte Wahrheiten zu finden - unaufdringlich, wie ein leises, hintergründiges Wetterleuchten.

Besprochen von Pieke Biermann

Moritz Pfeiffer: Mein Großvater im Krieg 1939-45 - Erinnerungen und Fakten im Vergleich
Mit einem Geleitwort von Wolfram Wette
Donat Verlag, Bremen 2012
216 Seiten, 14,80 Euro


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